L 3 U 972/85

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 3 U 198/85
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 972/85
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Wiederbewilligung des abgefundenen Rentenanteils wegen eines wichtigen Grundes stellt keine Neufeststellung einer Dauerrente dar, so daß die Berufung nicht ausgeschlossen ist (Anschluß an BSG, Urteil vom 31. Juli 1973 – 5 RKnU 29/71 – in E 36, 107).
2. Auf vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) abgefundene Dauerrenten ist das neue, andersgeartete Abfindungsrecht nach seinem Inkrafttreten nicht anzuwenden, da sich das UVNG keine Rückwirkung beigelegt hat. Es gilt vielmehr die Zweite Verordnung über die Abfindungen für Unfallrenten (2. UV-AbfindungsVO) vom 10. Februar 1928 (RG Bl. I S. 22 f.) fort (Anschluß an BSG, Urteil vom 18. Dezember 1979 – 2 RU 51/77 –).
3. Die Erhöhung der nach altem Recht teilweise abgefundenen Dauerrente wegen einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen ist kein wichtiger Grund im Sinne von § 10 der 2. UV-AbfindungsVO, so daß der abgefundene Rentenanteil – auch nicht gegen Rückzahlung der Abfindungssumme – nicht wieder auflebt. Dies gilt jedenfalls dann, wenn durch die Erhöhung der MdE die Schwerbehinderteneigenschaft nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht berührt ist.
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. Juli 1985 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger trotz eines im Jahre 1953 abgefundenen Rentenanteils unter Zurückzahlung der Abfindungssumme die volle Verletztenrente ab dem 1. September 1981 wiederzubewilligen.

Der im Jahre 1915 geborene Kläger bezog von der Beklagten wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 24. September 1931 (Verlust des linken Beines im Oberschenkel) eine Verletztenrente nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (KdE) um 66 2/3 v.H. Mit Bescheid vom 10. Februar 1953 wurde diese mit Wirkung ab dem 1. Mai 1953 zu 2/3 nach der damals in Kraft befindlichen Zweiten Verordnung über die Abfindungen für Unfallrenten (2. UV-AbfindungsVO) vom 10. Februar 1928 (RGBl. I. S. 22f.) abgefunden. Der Kläger hat mit dem Abfindungsbetrag 1953 ein Grundstück in M., Sch. 13, erworben und darauf ein Eigenheim für sich errichtet. Dieses, über 16 Stufen erreichbare Haus verkaufte er im Jahre 1974. Ersatzweise bezog er am 9. Oktober 1974 ein auf dem erworbenen Grundstück in M. T. 29, ebenerdig errichtetes neues Eigenheim.

Wegen einer Verschlimmerung im Unfallfolgezustand bemißt sich die unfallbedingte MdE inzwischen mit 80 v.H. Die Beklagte gewährt dem Kläger deshalb seit dem 1. September 1981 unter Anrechnung von zwei Dritteln abgefundener Rententeile eine entsprechende Verletztenrente.

Bereits zuvor hatte es die Beklagte mit Bescheid vom 9. Dezember 1966 abgelehnt, gegen Rückzahlung der Abfindungssumme die ungekürzte Verletztenrente auszuzahlen. Seine Klage zum Sozialgericht Kassel (S-3/UG 221/66; Urteil vom 27. Juni 1968) und seine Berufung zum Hessischen Landessozialgericht (HLSG; Az.: L-3/U-720/68; Urteil vom 10. März 1971) blieben ohne Erfolg. Der 3. Senat des HLSG wies in seinem rechtskräftigen Urteil vom 10. März 1971 darauf hin, daß die Voraussetzungen für die Wiederbewilligung des durch Abfindung erloschenen Rentenanteils gegen Rückzahlung der Abfindungssumme nach § 10 der 2. UV-AbfindungsVO nicht gegeben seien. Weder liege eine weitere Veräußerung des Grundstücks zum Zwecke der Erlangung einer anderen Erwerbsmöglichkeit noch ein anderer wichtiger Grund vor, der eine unbillige Härte bedeute. Ob eine Verschlimmerung im Unfallfolgezustand als wichtiger Grund angesehen werden könne, brauche nicht entschieden zu werden, da eine solche nicht vorliege und auch nicht geltend gemacht werde.

Am 21. Juni 1974 beantragte der Kläger erneut die ungekürzte Auszahlung der Verletztenrente gegen Rückzahlung der Abfindungssumme. Er machte geltend, daß er ein ebenerdiges Wohnhaus bauen müsse, da er die 16 Stufen zu seinem ersten Wohnhaus nicht mehr bewältigen könne, wodurch sein Arbeitsplatz gefährdet sei. Gegen den formlosen Ablehnungsbescheid vom 27. Juni 1974 rief der Kläger das Sozialgericht Kassel (Az.: S-3/UG-152/74) an, das die Klage durch Urteil vom 24. Juli 1975 abwies, da vor der Beklagter zu Recht das Begehren zurückgewiesen, worden sei. Die Berufung hat der Senat des HLSG (Az.: L-3/U-798/75) unter Hinweis auf die Rechtskraft der bisherigen Entscheidungen (§§ 77, 141 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) mit Urteil vom 28. Januar 1976 zurückgewiesen.

Am 13. Juni 1983 beantragte der Kläger erneut die Gewährung der ungekürzten Rente gegen Rückzahlung der Abfindungssumme. Er machte geltend, daß durch den gerichtlichen Vergleich vom 11. Mai 1983 eine Verschlimmerung in seinem Unfallfolgezustand festgestellt sei. Es handle sich um einen wichtigen Grund im Sinne vor § 10 der 2. UV-AbfindungsVO, so daß die Wiederbewilligung nicht versagt werden dürfe. Auch diesen Antrag lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 8. August 1983 und dem Widerspruchsbescheid vom 24. November 1983 ab, da eine Verschlimmerung nicht als wichtiger Grund anzusehen, sei. Die am 6. Dezember 1983 erhobene Klage hat das Sozialgericht Kassel mit Urteil vom 9. Juli 1985 aus den Gründen der angefochtenen Bescheide abgewiesen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des sozialgerichtlichen Urteils verwiesen.

Gegen das am 28. August 1985 zugestellte Urteil hat der Kläger schriftlich bei dem HLSG am 12. September 1985 Berufung eingelegt. Zu deren Begründung wiederholte er im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 9. Juli 1985 und den Bescheid der Beklagten vom 8. August 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1983 aufzuheben und diese zu verurteilen, vom Kläger den abgefundenen Zahlbetrag des Rententeils in Höhe von 12.057,– DM entgegenzunehmen und die Verletztenrente ab 1. Mai 1953 jeweils ungekürzt auszuzahlen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil in der Sache selbst für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Unfall- und Streitakten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG).

Sie ist auch statthaft, da keiner der Berufungsausschließungsgründe nach §§ 144, 145 SGG vorliegt. Insbesondere handelt es sich sieht um die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse (§ 145 Nr. 4 SGG), da die Wiederbewilligung des abgefundenen Rententeils wegen eines wichtigen Grundes streitig ist. Wie das Bundessozialgericht (BSG) entschieden hat, müssen denknotwendig wichtige Gründe nicht erst nachträglich eingetreten sein (ESG, Urteil vom 6. April 1977 – 2 RU 51/77 –). Das BSG und der 3. Senat des HLSG haben daher auch früher schon in den Fällen der vorliegenden Art die Berufung als statthaft angesehen (ESG, Urteil vom 31. Juli 1973 – 5 RKnU 29/71 – in E 36, 107; HLSG, Urteil vom 28. April 1965 – L-3/U-876/64 – in Breithaupt 1966, 300; 14. Oktober 1970 – L-3/U-389/69 – in Breithaupt 1971, 378; 10. März 1971 – L-3/U-720/68 – und 28. Januar 1976 – L-3/U-798/75 –). Art dieser Rechtsauffassung hält der Senat nach erneuter Überprüfung auch für den hiesigen Fall fest.

Die Berufung ist nicht deshalb bereits unbegründet, weil die Klage als solche unzulässig gewesen wäre. Zwar hat die Beklagte bereits früher nach den rechtskräftigen Entscheidungen des Senats vom 10. März 1971 und 28. Januar 1976 durch bindende Bescheide vom 9. Dezember 1966 und 27. Juni 1974 die Wiederbewilligung des abgefundenen Rententeils abgelehnt (§§ 77 SGG). Diese Bindungs- und Rechtskraftwirkung (§ 77, 141 SGG) erstreckt sich indessen nur soweit, als in der Sache tatsächlich entschieden ist. Der Kläger macht hier nunmehr geltend, daß der abgefundene Rentenanteil wiederzubewilligen sei, weil im Gegensatz zum Zeitpunkt der früheren Entscheidungen eine wesentliche Verschlimmerung in dem Unfallfolgezustand eingetreten ist. Dies ist zutreffend. Im Urteil des Senats vom 10. März 1971 ist die Frage, ob eine Verschlimmerung ein wichtiger Grund im Sinne von § 10 der 2. UV-AbfindungsVO ist, offengelassen worden, so daß insoweit noch keine, die sachliche Überprüfung ausschließende Entscheidung vorliegt.

Die ansonsten statthafte sowie frist- und formgerecht erhobene Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 8. August 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. November 1983 (§ 95 SGG) ist nicht rechtswidrig.

Zunächst hat das Sozialgericht zutreffend die Anwendbarkeit der 2. UV-AbfindungsVO angenommen, da der Kläger mit seiner sogenannten großen Verletztenrente einem Grad der MdB um 66 2/3 v.H. durch Bescheid vom 10. Februar 1953 um 2/3 abgefunden worden ist und sich das Unfallversicherungsneuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I 241) in seinen Übergangsvorschriften nach Art. 4 §§ 2, 16 UVNG keine die Rückwirkung begründende Anwendung des neuen Abfindungsrechtes beilegt (vgl. HLSG, Urteile vom 28. April 1965 – L-3/U – 876/64 – in Breithaupt 1966, 300; 14. Oktober 1970 – L-3/U – 389/69 – in Breithaupt 1971, 378; BSG, Urteile vom 31. Juli 1973 – 5 RKnU 29/71 – in E 36, 107; 18. Dezember 1979 – 2 RU 51/77 –; Lauterbach-Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 10 zu § 609 RVO).

Der Senat kann offen lassen, ob die Entscheidung der Beklagten hinsichtlich des von dem Kläger geltend gemachten Härtefalls (§ 10 Abs. 1 Satz 2 der 2. UV-AbfindungsVO) in vollem Umfange von den Gerichten nachzuprüfen ist (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II S. 591 f. zu § 602 RVO) oder aber ob ihr insoweit ein gewisser gerichtsfreier Ermessens- oder Beurteilungsspielraum zusteht (vgl. Lauterbach-Watermann, a.a.O., Anm. 6 zu § 602 RVO; BSG, Urteil vom 18. Dezember 1979 – 2 RU 51/77 – m.w.N.). Auch bei uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle der Frage, ob ein wichtiger Grund nach § 10 Abs. 1 der 2. UV-AbfindungsVO vorliegt, ergibt sich, daß die angefochtenen Bescheide flicht rechtswidrig sind. Es liegen keine wichtigen Gründe vor, die zur Wiederbewilligung des abgefundenen Rentenanteils führen können. Daß das mit dem abgefundenen Rentenanteil in M. Sch. 13, erworbene Hausgrundstück 1974 nicht zur Erlangung einer anderen Erwerbsmöglichkeit weiterveräußert worden ist, war bereits Gegenstand der früheren bindenden Entscheidungen der Beklagten und des Senats. Hierzu ergeben sich – auch nach dem ausführlichen Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 28. Mai 1986 – keine neuen Gesichtspunkte.

Wie das ESG am 18. Dezember 1979 (a.a.O.) entschieden hat, sind wichtige Gründe im Sinne von § 10 der 2. UV-AbfindungsVO nur solche Umstände, die in ihrer Bedeutung jedenfalls annähernd dem gesetzlichen Beispielsfall entsprechen, daß der Verletzte zur Erlangung einer anderen Erwerbsmöglichkeit das Grundstück weiterveräußert. Hierzu gehört nicht eine Rentenerhöhung, und zwar – nach Überzeugung des erkennenden Senats – auch nicht eine solche wegen der Verschlimmerung von Unfallfolgen bei sogenannten großen Verletztenrenten. Zutreffend verweist die Beklagte darauf, daß die schon vorbestandene Schwerbehinderteneigenschaft durch die Verschlimmerung ab dem 1. September 1981 nicht berührt worden ist. Eine Regelung, die – auch nur eine entsprechende – Anwendung neuen Rechts zugunsten des Klägers ermöglichte, enthalten die §§ 607 ff. RVO nicht. Die Beklagte enthält dem Kläger auch nicht den erhöhten Teil der Verletztenrente, der durch die Verschlimmerung der Unfallfolgen gegeben ist, vor. Durch diese ab dem 1. September 1981 bedingte erhöhte Rentenleistung ist er im übrigen auch wirtschaftlich besser gestellt als bisher. Auch dieses Recht gestattet es nicht, einen wichtigen Grund im Sinne von § 10 der 2. UV-AbfindungsVO annehmen zu können. Andere Umstände, die auf das Vorliegen eines solchen wichtigen Grundes schließen lassen könnten, sind weder ersichtlich noch behauptet.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Rechtskraft
Aus
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