L 7 Ka 570/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
7
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 27/5/28 Ka 950/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 7 Ka 570/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Legt die Beklagte gegen ein Bescheidungsurteil Berufung ein und erteilt einen neuen Bescheid, so wird dieser nach § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens.
Durch Berufungsrücknahme wird das Verfahren beendet.
Erhebt der Kläger anschließend in der Berufungsinstanz Klage gegen den neuen Bescheid, so ist diese Klage mangels eines noch laufenden Verfahrens unzulässig.
Hat der Kläger zuvor auch noch Klage bei dem Sozialgericht erhoben, so steht der Klage vor dem LSG auch das von Amts wegen zu berücksichtigende Prozeßhindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit – § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO – entgegen.
I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Die Kläger haben die außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Es geht in dem Rechtsstreit um die Honorarbescheide der Kläger für die Quartale I/93 und II/93 hinsichtlich der Vergütung durch die Ersatzkassen für ambulantes Operieren.

Die Kläger sind als Ärzte für Anästhesie in Bensheim (früher in Zwingenberg) in Gemeinschaftspraxis niedergelassen und als Vertragsärzte (früher Kassenärzte) zugelassen.

Gegen die Honorarbescheide der Beklagten vom 2. September 1993 (I/93) und vom 6. Dezember 1993 (II/93) haben die Kläger am 16. September 1993 bzw. am 30. Dezember 1993 Widerspruch erhoben und im wesentlichen vorgetragen, die Regelung des § 85 Abs. 3 a Satz 6 SGB V (i.d.F. des Gesundheitsstrukturgesetzes) habe zu einer höheren Vergütung der ambulanten Operationsleistungen und Anästhesieleistungen führen sollen. Dies sei im Bereich der Ersatzkassen jedoch nicht eingetreten. Sonderhonorartöpfe für das ambulante Operieren habe der Gesetzgeber nicht vorgeschrieben. Gedeckelte Honorartöpfe seien kontraproduktiv. Durch die Deckelung würden die auf das ambulante Operieren spezialisierten Einrichtungen innerhalb weniger Monate in den Ruin getrieben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 1. März 1994 hat die Beklagte den Widerspruch zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, mit der Bildung eines eigenen Honorartopfes für das ambulante Operieren seien die Forderungen des Gesetzgebers erfüllt worden.

Hiergegen haben die Kläger am 22. März 1994 Klage erhoben mit dem Ziel der Änderung der angefochtenen Honorarbescheide und Verurteilung der Beklagten zum Erlaß neuer Honorarbescheide für die Quartale I/93 und II/93 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Mit Urteil vom 22. März 1995 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, über den Honoraranspruch der Kläger betreffend die Quartale I/93 und II/93 im Ersatzkassenbereich unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erlassen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, daß die angefochtenen Bescheide hinsichtlich des Ersatzkassenbereichs ohne hinreichende Grundlage ergangen seien, da ein Honorarverteilungsmaßstab der Beklagten für den Ersatzkassenbereich bisher nicht vorliege. Die Beklagte werde daher zunächst einen Honorarverteilungsmaßstab zu erlassen haben, auf dessen Grundlage die Neubescheidung zu erfolgen habe. Dabei sei die Beklagte nicht gehindert, die Verteilung für die streitbefangenen Quartale so vorzunehmen, wie sie es bisher nach ihrem Vortrag bereits getan habe. Die Aufteilung in Teilbudgets sei grundsätzlich möglich, auch wenn dadurch die Leistungen abweichend vom einheitlichen Bewertungsmaßstab im Ergebnis unterschiedlich vergütet würden. Für die Beklagte seien die Quartale I/93 und II/93 als Experimentierphase anzusehen. Wenn auch bei den Klägern der überwiegende Leistungsanteil im Bereich des ambulanten Operierens erzielt worden sei, so sei doch bei den streitbefangenen Quartalen im Vergleich zum Vorjahr eine Umsatzsteigerung aufgrund höherer Fallzahlen und einer höheren durchschnittlichen Vergütung festzustellen.

Gegen das ihr am 24. Mai 1995 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. Juni 1995 Berufung eingelegt. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. September 1995 hat die Beklagte die Widersprüche der Kläger erneut beschieden und sodann am 19. Oktober 1995 die Berufung zurückgenommen.

Mit Schreiben vom 3. November 1995 an das Sozialgericht Frankfurt am Main (Zugang 6. November 1995) haben die Kläger Klage erhoben bezüglich der Honorarbescheide der Beklagten, die Quartale I/93 und II/93 betreffend. Mit Schreiben vom selben Tage an das Hessische Landessozialgericht (Zugang 8. November 1995) haben die Kläger ebenfalls Klage erhoben bezüglich des identischen Streitstoffes. Sie sind der Auffassung, der neue Widerspruchsbescheid vom 29. September 1995 sei nach § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens geworden und damit habe das Landessozialgericht über diese (neue) Klage nunmehr zu entscheiden. Ein Verfügungsrecht der Beklagten i.S. einer Klagerücknahme bestehe hierbei nicht, da nach § 102 SGG nur der Kläger die Klage zurücknehmen könne. Der Rechtsmittelverzicht der Beklagten habe somit hinsichtlich des Klagegegenstandes keinerlei Auswirkung. Klagegegenstand seien vielmehr die Honorarbescheide der Beklagten für die Quartale I/93 und II/93 in der Fassung des zweiten Widerspruchsbescheides vom 29. September 1995, worüber das Hessische Landessozialgericht in erster Instanz zu entscheiden habe.

Die Kläger beantragen,
die Honorarbescheide der Beklagten für die Quartale I/93 und II/93 hinsichtlich des Ersatzkassenbereichs zu ändern, den Widerspruchsbescheid vom 29. September 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Widersprüche auf der Grundlage einer noch zu schaffenden, verfassungs- und gesetzeskonformen Honorarverteilungsregelung neu zu bescheiden,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, durch die Rücknahme der Berufung sei das Verfahren nicht vollständig erledigt. Vielmehr sei der nach § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens gewordene zweite Widerspruchsbescheid weiterhin mit der ursprünglichen Klage angefochten mit der Folge, daß der erkennende Senat als erste Instanz über die Klage zu entscheiden habe. Die Beklagte trägt ferner vor, sie habe nachträglich einen Ersatzkassenhonorarverteilungsmaßstab geschlossen und auf dieser Rechtsgrundlage den zweiten Widerspruchsbescheid erlassen. Auf die wohlbegründeten Überlegungen des erstinstanzlichen Urteils vom 22. März 1995 werde verwiesen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Gerichtsakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die vor dem Hessischen Landessozialgericht erhobene Klage ist unzulässig. Durch die mit Schreiben der Beklagten vom 17. Oktober 1995 (Zugang bei dem Hessischen Landessozialgericht am 19. Oktober 1995) erklärte Berufungsrücknahme ist ein Verlust des Rechtsmittels eingetreten, § 156 Abs. 2 SGG. Das Berufungsverfahren war somit am 19. Oktober 1995 beendet. Die mit Schreiben vom 3. November 1995 (Zugang bei dem Hessischen Landessozialgericht am 8. November 1995) erhobene Klage konnte damit nicht mehr an ein laufendes Berufungsverfahren "angehängt” werden. Daß der in Erfüllung des angefochtenen erstinstanzlichen Urteils ergangene zweite Widerspruchsbescheid vom 29. September 1995 nach § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, ändert an dem Ergebnis nichts. Zwar hätten die Kläger vor der Berufungsrücknahme vor dem erkennenden Senat Klage gegen den Bescheid vom 29. September 1995 erheben können, über die auch dann noch zu entscheiden gewesen wäre, wenn die Beklagte danach die Berufung zurückgenommen hätte. Die Klageerhebung vor dem Landessozialgericht, die entsprechend § 90 SGG schriftlich zu erfolgen hat, geschah jedoch erst am 8. November 1995, zu einem Zeitpunkt also, zu dem ein (Berufungs)Verfahren vor dem erkennenden Senat nicht mehr anhängig war. Es kann jedoch nicht darauf verzichtet werden, daß ein neuer Bescheid, der nach § 96 SGG Gegenstand eines Verfahrens geworden ist, zunächst durch eine Prozeßerklärung eines Beteiligten, der sich auch durch den neuen Bescheid beschwert fühlt, zur Überprüfung des Gerichts gestellt wird. Denn entsprechend der Dispositionsmaxime bestimmen die Beteiligten den Streitgegenstand. Dies gilt in besonderem Maße, wenn allein die Beklagte gegen das sie beschwerende erstinstanzliche Bescheidungsurteil Berufung eingelegt hat und der neue Widerspruchsbescheid in Erfüllung des erstinstanzlichen Bescheidungsurteils ergeht, während die Kläger sich nur gegen die eingelegte Berufung gewehrt haben und sie nunmehr gegenüber dem Berufungsgericht erklären müssen, ob sie die Rolle der Abwehrenden verlassen und die Rolle der Kläger übernehmen möchten, die sie in dieser Instanz noch nicht gehabt haben.

Doch selbst, wenn der Auffassung der Beteiligten gefolgt würde, daß die Klageerhebung gegen den nach § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens gewordenen neuen Widerspruchsbescheid auch noch nach Berufungsrücknahme und damit Beendigung des Verfahrens zulässig wäre, wäre im vorliegenden Fall die Klage vor dem Hessischen Landessozialgericht noch aus einem anderen Grund unzulässig. Der Zulässigkeit der Klage vor dem Hessischen Landessozialgericht steht die Rechtshängigkeit der identischen Streitsache vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main entgegen, §§ 202 SGG, 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO. Die von den Klägern (vorsorglich) auch vor dem Sozialgericht erhobene Klage betrifft den identischen Streitgegenstand, wurde dort jedoch durch Eingang am 6. November 1995 zwei Tage anhängig vor Zugang des an das Hessische Landessozialgericht gerichteten Klageschriftsatzes (8. November 1995). Damit steht der vor dem Hessischen Landessozialgericht erhobenen Klage das von Amts wegen zu beachtende Prozeßhindernis der anderweitigen Rechtshängigkeit entgegen (vgl. Baumbach-Hartmann, ZPO, 47. Auflage, Grundzüge § 253, 3 C, § 261, 5 A).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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