Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 2 J 1407/97
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 RJ 1462/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 RJ 56/98 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 2. Oktober 1997 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, die Zeit vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1950 insgesamt als Pflichtbeitragszeit festzustellen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu ersetzen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer landwirtschaftlichen Lehrzeit im elterlichen Betrieb als Versicherungszeit.
Der 1930 geborene Kläger war vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1950 im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb tätig. In der Zeit von 1948 bis 1949 hat er nach einer Bescheinigung des Amtes für Regionalentwicklung, Landschaftspflege und Landwirtschaft, Friedberg, vom 3. Juli 1996 in der Zeit von 1948 bis 1949 die Unterklasse und von 1949 bis 1950 die Oberklasse der Landwirtschaftsschule in Friedberg mit Erfolg besucht. Der Unterricht hat jeweils von November bis März stattgefunden. Am 16. August 1996 beantragte der Kläger bei der Feststellung seiner Versicherungszeiten die oben genannte Tätigkeit im elterlichen Betrieb als Lehrzeit anzuerkennen. Weitere Unterlagen über seine Lehrzeit besitze er nicht, eine Prüfung habe er nicht abgelegt. Mit Bescheid vom 10. September 1996 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs. 5 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 6) im Versicherungsverlauf des Klägers Versicherungszeiten ab dem 1. November 1948 fest. Den dagegen erhobenen Widerspruch vom 23. September 1996 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1997 zurück. Es sei kein Nachweis erbracht, daß im strittigen Zeitraum ein echtes Lehrverhältnis bestanden habe.
Dagegen hat der Kläger am 17. Juli 1997 Klage vor dem Sozialgericht in Gießen erhoben. Er wiederholte sein Vorbringen und trug vor, daß auch einem Berufskollegen vier Jahre Ausbildungszeit angerechnet worden seien, der wie er, die Lehre im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb ohne Lehrvertrag absolviert habe. Der Kläger legte weiterhin eine schriftliche Erklärung des Ortslandwirtes E. W. B. vom 17. September 1997 vor, in der bescheinigt ist, daß der Kläger eine dreijährige landwirtschaftliche Lehre nach dem Abschluß der Volksschule 1945 im elterlichen Betrieb absolviert habe. Dazu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß der Ortslandwirt W. lediglich die Tatsache bestätigen könne, daß er zum damaligen Zeitpunkt auf dem elterlichen Hof unter Anleitung seines Vaters gearbeitet habe.
Mit Urteil vom 2. Oktober 1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß gemäß § 247 Abs. 2a SGB 6 Zeiten vom 1. Juni 1945 bis zum 30. Juni 1965 auch ohne Zahlung von Pflichtbeiträgen als Pflichtbeitragszeiten angerechnet werden könnten, wenn bei grundsätzlicher Versicherungspflicht eine Ausbildung als Lehrling stattgefunden habe. Ein Lehrverhältnis setze nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte voraus, daß eine Beschäftigung in einem Betrieb hauptsächlich der Fachausbildung diene, diesem Ziel entsprechend geleitet werde und der Auszubildende in dem Ausbildungsbetrieb tatsächlich die Stellung eines Lehrlings einnehme. Dies gelte auch für ein Lehrverhältnis im Rahmen des Familienverbundes, das ebenfalls der Berufsausbildung im Sinne des Erreichens eines Lehrabschlusses dienen müsse. Es reiche nicht aus, wenn der Vater den Sohn mit dem Ziel einer späteren Hofübergabe mit dem landwirtschaftlichen Betrieb vertraut mache und ihm die dafür erforderlichen Fähigkeiten beibringe. Ein Lehrverhältnis im elterlichen Betrieb habe auch in der strittigen Zeit bestimmten rechtlichen Regeln unterlegen. Nach der "Grundregel für die Ausbildung in den männlichen praktischen Berufen der Landwirtschaft” vom 1. September 1945 und den "Bestimmungen für die praktische Ausbildung zum Landwirt” vom 1. Oktober 1995 sei bei Besuch einer Fachschule eine Landwirtschaftslehre von vier Jahren vorgesehen gewesen, die sich in eine zweijährige Landarbeiterlehre mit Vorprüfung und eine anschließende Landwirtschaftslehre mit einer Landwirtschaftsprüfung als Abschluß gliederte. Für Landarbeiterlehrlinge im elterlichen Betrieb habe eine Lehranzeige vorgelegt werden müssen, die von der Landwirtschaftsschule zu genehmigen gewesen sei. Die Ausbildung von Landwirtschaftslehrlingen habe die Anerkennung des Lehrherrn durch die Landwirtschaftskammer und den Abschluß eines von der Landwirtschaftskammer herausgegebenen und bindend vorgeschriebenen Lehrvertrags vorausgesetzt. Der Lehrling habe ein Merkbuch führen müssen. All diese Voraussetzungen lägen nicht vor, so daß eine Anerkennung als Lehrzeit nicht möglich sei. Auch der nachgewiesene Besuch der Landwirtschaftsschule sei dafür kein Indiz. Soweit der Kläger sich auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (13 RJ 45/94) berufe, verkenne er, daß auch für die darin entschiedene Rechtsfrage der Nachweis eines Lehrverhältnisses notwendig gewesen sei.
Gegen das am 22. Oktober 1997 zur Post aufgelieferte Urteil hat der Kläger am 18. November 1997 Berufung beim Sozialgericht Gießen eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 2. Oktober 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1997 abzuändern und die Zeit vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1950 als Pflichtbeitragszeit anzuerkennen.
Die Beklagte, die das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) ist sachlich begründet. Die Beklagte hat zu Unrecht die Berufsausbildung des Klägers vom 1. April 1946 bis 31. März 1950 nicht als Pflichtbeitragszeit festgestellt. Das Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben.
Nach § 149 Abs. 5 SGB 6 hat die Beklagte die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als 6 Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid festzustellen. Der Bescheid der Beklagten vom 10. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1997 ist jedoch insoweit zu beanstanden, als darin die Vormerkung der hier streitigen Zeit als Pflichtbeitragszeit abgelehnt wird. Pflichtbeitragszeiten sind zunächst nach § 55 Abs. 1 SGB 6 Zeiten, für die Pflichtbeiträge gezahlt worden sind. Nach § 247 Abs. 2a SGB 6 sind als Pflichtbeitragszeiten jedoch auch Zeiten anzusehen, in denen in der Zeit vom 1. Juni 1945 bis 30. Juni 1965 Personen als Lehrlinge oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren und für die trotz grundsätzlicher Versicherungspflicht eine Zahlung von Pflichtbeiträgen nicht erfolgt ist. Das Bundessozialgericht hat im Urteil vom 8. Februar 1996 (13 RJ 45/94 in SozR 3–2600 § 247 SGB 6 Nr. 1) diese Vorschrift dahingehend ausgelegt, daß mit ihr eine großzügige Regelung getroffen werden sollte, um die zu Zeiten uneinheitlicher Rechtsanwendung und ungeklärter Versicherungspflicht verschiedenster Berufsausbildungsverhältnisse entstandenen Beitragslücken aller betroffenen Versicherten ohne Rücksicht auf die Gründe ihres jeweiligen Zustandekommens zu schließen.
Ein Lehrverhältnis im engeren Sinne lag im strittigen Zeitraum nicht vor. Insoweit bezieht der Senat sich zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils. Das Sozialgericht hat jedoch versäumt zu prüfen, ob eine Berufsausbildung im weiteren Sinne (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juli 1970 – 11 RA 164/67 in E 31, 226/231) vorgelegen hat, die grundsätzlich versicherungspflichtig gewesen ist.
Berufsausbildung ist die einem zukünftigen, gegen Entgelt auszuübenden Beruf dienende Ausbildung, sofern sie Zeit und Arbeitskraft des Auszubildenden zumindest überwiegend beansprucht (BSG, Urteil vom 29. Mai 1979 – 4 RJ 101/78 in SozR 2200 § 1267 RVO Nr. 19). Der Begriff ist so auszulegen, daß er den jeweiligen Zeitverhältnissen und der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen kann (BSG, Urteil vom 18. März 1970 – 1 RA 217/69 in SozR Nr. 39 zu § 1267 RVO). Gibt es für eine bestimmte berufliche Tätigkeit keine vorgeschriebenen oder wenigstens von den beteiligten Kreisen allgemein anerkannten oder üblichen Ausbildungsweg, ist Berufsausbildung nur der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die für die Ausübung des angestrebten Berufs unverzichtbare Voraussetzung sind (BSG, Urteil vom 25. April 1984 – 10 RKg 2/83 in SozR 5870 § 2 BKGG Nr. 32).
Im Unterschied zu den klassischen Handwerksberufen ist im Bereich der Landwirtschaft in der hier fraglichen Zeit zur Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes eine geregelte Ausbildung mit Gesellen- und Meisterprüfung nicht notwendig. Wie aus den beigezogenen Unterlagen des Sozialgerichts, insbesondere der Dissertation von Reinhold Müller (Gießen 1953) zu ersehen ist, bestand zwar schon seit langem die Möglichkeit einer geregelten Ausbildung, diese wurde jedoch nur in eingeschränktem Maße wahrgenommen. Selbst wenn Lehrverträge abgeschlossen wurden, kam der weitaus größte Teil der Lehrlinge nicht zur Prüfung (vgl. dazu die in der Dissertation aufgeführte Statistik, S. 75). Eine Ausbildungsordnung im heutigen Sinne gab es erst seit 1953, wie in dem beigezogenen Schreiben des Hessischen Landesamtes für Regionalentwicklung und Landwirtschaft, Kassel, vom 22. Oktober 1998 zu entnehmen ist. Davor trafen die einzelnen Landwirtschaftskammern Bestimmungen über die Ausbildung. Dem vom Senat beigezogenen Artikel aus dem "Landwirtschaftlichen Wochenblatt vom 14. Februar 1948” über die neue Regelung der Ausbildung in der Landwirtschaft ist zu entnehmen, daß die Ansicht, die Landwirtschaft sei ein "ungelernter Beruf” zu dieser Zeit noch weit verbreitet war. Dies ist nachvollziehbar, denn insbesondere für die Kinder von selbständigen Landwirten, die später den Betrieb übernehmen sollten, gab es weder rechtliche noch wirtschaftliche Gründe, eine formelle Ausbildung abzuschließen. Es bedurfte keines Ausbildungsnachweises, um den Betrieb zu übernehmen. Als zukünftige Betriebsinhaber mußten Bauernkinder sich auch nicht der Konkurrenz des Arbeitsmarktes aussetzen. Grundsätzlich gilt deshalb, daß im Bereich der Landwirtschaft in der hier strittigen Nachkriegszeit neben der formellen Lehrlingsausbildung zumindest für die Kinder von Betriebsinhabern eine Berufsausbildung im weiteren Sinne üblich und möglich war, die den Anforderungen des § 247 Abs. 2a SGB 6 genügt.
Es reicht allerdings nicht, wenn die Berufsbildung lediglich glaubhaft gemacht wird, vielmehr muß sie nachgewiesen sein. Dies ergibt sich aus einer systematischen Auslegung der §§ 286a Abs. 1 Satz 1 SGB 6 und 247 Abs. 2a SGB 6. Die erstere Vorschrift setzt voraus, daß die tatsächliche Beitragszahlung glaubhaft gemacht wird, letztere hingegen, daß gerade kein Beitrag gezahlt wurde (vgl. Kasseler Kommentar, SGB 6 § 247 Rdnr. 15). Während bei einem Lehrverhältnis in der Regel die Vorlage eines Lehrvertrages zum Nachweis ausreichen wird, ist bei dem hier fraglichen Berufsausbildungsverhältnis im weiteren Sinne vor allem festzustellen, ob die Tätigkeit klar auf das Ziel der Berufsausbildung ausgerichtet war. Ebenso wie beim Lehrverhältnis ist zu fordern, daß der Ausbildungszweck der Tätigkeit das Gepräge gibt (BSGE, Urteil vom 30. Januar 1963 – 3 RK 36/59 in E 18, 246). Es darf keine Scheinausbildung vorliegen, die insbesondere dann anzunehmen ist, wenn ein Beruf nicht ernstlich angestrebt wird oder wenn nicht die Ausbildung, sondern die Verwertung der Arbeitskraft – hier im Sinne der familienhaften Mithilfe – im Vordergrund steht (BSG, Urteil vom 7. Juli 1965 – 12 RJ 180/62 in E 23, 166).
Zur Abgrenzung zwischen Versicherungspflichtiger Tätigkeit und versicherungsfreier familienhafter Mitarbeit, insbesondere bei "Meistersöhnen”, hat das Bundessozialgericht im Urteil vom 5. April 1956 (3 RK 65/56 in E 3, 30) als Kriterien vor allem die Eingliederung in den Betrieb und die Erzielung steuerpflichtigen Arbeitsentgeltes aufgestellt. In einem Ausbildungsverhältnis spielt das Kriterium des Arbeitsentgeltes jedoch keine entscheidende Rolle, denn dort steht die dem Auszubildenden erteilte Unterweisung im Vordergrund, die zumindest nach früherer Vorstellung als Gegenleistung zu dem wirtschaftlichen Wert der vom Auszubildenden geleisteten Arbeit zu sehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 1963, a.a.O.). Entscheidend ist allein der Ausbildungscharakter, der bei einer Tätigkeit im später zu übernehmenden elterlichen Betrieb das Vorliegen eines grundsätzlich Versicherungspflichtigen Berufsausbildungsverhältnisses bewirkt.
Der Senat sieht eine – grundsätzlich Versicherungspflichtige – Berufsausbildung im hier strittigen Zeitraum vor allem deshalb als nachgewiesen an, weil der Kläger neben der praktischen Unterweisung im elterlichen Betrieb auch an der theoretischen Ausbildung an der Landwirtschaftsschule teilgenommen hat. Nach den damaligen Vorschriften, die nicht mehr erhalten sind, deren Inhalt sich aber aus der schon zitierten Dissertation entnehmen läßt, gab es in der fraglichen Zeit eine formelle Lehrlingsausbildung, die sich in zwei Abschnitte unterteilte. Zunächst fand eine zweijährige Ausbildung zum Landarbeiter mit Vorprüfung statt, daran schloß sich eine zweijährige Ausbildung als Landwirt an, die mit dem Besuch einer Landwirtschaftsschule verbunden war. Insbesondere aus der Bescheinigung des Amtes für Regionalentwicklung, Landschaftspflege und Landwirtschaft, Friedberg, vom 3. Juli 1996 ist zu ersehen, daß die Berufsausbildung des Klägers parallel und entsprechend der offiziellen Lehrlingsausbildung abgelaufen ist. Der Senat sieht den Schulbesuch als Beweis dafür an, daß im Vordergrund der Tätigkeit auf dem elterlichen Hof in der fraglichen Zeit der Ausbildungszweck stand. Gestützt wird dies auch durch die glaubhaften Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung. Aus ihnen ergibt sich, daß der elterliche Betrieb für damalige Verhältnisse und zuletzt auch noch heute ausreichend groß zur Bestreitung des Lebensunterhaltes war. Der Kläger war als Hoferbe vorgesehen und hat den Betrieb auch tatsächlich übernommen. Dies spricht dafür, daß auch nach dem Interesse der Eltern eine Vorbereitung auf die zukünftige Stellung als Betriebsinhaber stattgefunden hat und unterstützt die glaubhaften Angaben des Klägers, daß er in der fraglichen Zeit unter Anleitung seines Vaters für alle auf dem Hof anfallenden Tätigkeiten praktisch ausgebildet worden sei, wobei der Ausbildungszweck im Vordergrund stand und die Arbeitskraft des Klägers überwiegend beanspruchte. Bei diesem Sachverhalt schließt der Senat ein Scheinausbildungsverhältnis – für das es keine Motivation gäbe – aus.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
Die Beklagte wird verurteilt, die Zeit vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1950 insgesamt als Pflichtbeitragszeit festzustellen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu ersetzen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Anerkennung einer landwirtschaftlichen Lehrzeit im elterlichen Betrieb als Versicherungszeit.
Der 1930 geborene Kläger war vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1950 im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb tätig. In der Zeit von 1948 bis 1949 hat er nach einer Bescheinigung des Amtes für Regionalentwicklung, Landschaftspflege und Landwirtschaft, Friedberg, vom 3. Juli 1996 in der Zeit von 1948 bis 1949 die Unterklasse und von 1949 bis 1950 die Oberklasse der Landwirtschaftsschule in Friedberg mit Erfolg besucht. Der Unterricht hat jeweils von November bis März stattgefunden. Am 16. August 1996 beantragte der Kläger bei der Feststellung seiner Versicherungszeiten die oben genannte Tätigkeit im elterlichen Betrieb als Lehrzeit anzuerkennen. Weitere Unterlagen über seine Lehrzeit besitze er nicht, eine Prüfung habe er nicht abgelegt. Mit Bescheid vom 10. September 1996 stellte die Beklagte gemäß § 149 Abs. 5 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 6) im Versicherungsverlauf des Klägers Versicherungszeiten ab dem 1. November 1948 fest. Den dagegen erhobenen Widerspruch vom 23. September 1996 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Juni 1997 zurück. Es sei kein Nachweis erbracht, daß im strittigen Zeitraum ein echtes Lehrverhältnis bestanden habe.
Dagegen hat der Kläger am 17. Juli 1997 Klage vor dem Sozialgericht in Gießen erhoben. Er wiederholte sein Vorbringen und trug vor, daß auch einem Berufskollegen vier Jahre Ausbildungszeit angerechnet worden seien, der wie er, die Lehre im elterlichen landwirtschaftlichen Betrieb ohne Lehrvertrag absolviert habe. Der Kläger legte weiterhin eine schriftliche Erklärung des Ortslandwirtes E. W. B. vom 17. September 1997 vor, in der bescheinigt ist, daß der Kläger eine dreijährige landwirtschaftliche Lehre nach dem Abschluß der Volksschule 1945 im elterlichen Betrieb absolviert habe. Dazu hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß der Ortslandwirt W. lediglich die Tatsache bestätigen könne, daß er zum damaligen Zeitpunkt auf dem elterlichen Hof unter Anleitung seines Vaters gearbeitet habe.
Mit Urteil vom 2. Oktober 1997 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, daß gemäß § 247 Abs. 2a SGB 6 Zeiten vom 1. Juni 1945 bis zum 30. Juni 1965 auch ohne Zahlung von Pflichtbeiträgen als Pflichtbeitragszeiten angerechnet werden könnten, wenn bei grundsätzlicher Versicherungspflicht eine Ausbildung als Lehrling stattgefunden habe. Ein Lehrverhältnis setze nach ständiger Rechtsprechung der Sozialgerichte voraus, daß eine Beschäftigung in einem Betrieb hauptsächlich der Fachausbildung diene, diesem Ziel entsprechend geleitet werde und der Auszubildende in dem Ausbildungsbetrieb tatsächlich die Stellung eines Lehrlings einnehme. Dies gelte auch für ein Lehrverhältnis im Rahmen des Familienverbundes, das ebenfalls der Berufsausbildung im Sinne des Erreichens eines Lehrabschlusses dienen müsse. Es reiche nicht aus, wenn der Vater den Sohn mit dem Ziel einer späteren Hofübergabe mit dem landwirtschaftlichen Betrieb vertraut mache und ihm die dafür erforderlichen Fähigkeiten beibringe. Ein Lehrverhältnis im elterlichen Betrieb habe auch in der strittigen Zeit bestimmten rechtlichen Regeln unterlegen. Nach der "Grundregel für die Ausbildung in den männlichen praktischen Berufen der Landwirtschaft” vom 1. September 1945 und den "Bestimmungen für die praktische Ausbildung zum Landwirt” vom 1. Oktober 1995 sei bei Besuch einer Fachschule eine Landwirtschaftslehre von vier Jahren vorgesehen gewesen, die sich in eine zweijährige Landarbeiterlehre mit Vorprüfung und eine anschließende Landwirtschaftslehre mit einer Landwirtschaftsprüfung als Abschluß gliederte. Für Landarbeiterlehrlinge im elterlichen Betrieb habe eine Lehranzeige vorgelegt werden müssen, die von der Landwirtschaftsschule zu genehmigen gewesen sei. Die Ausbildung von Landwirtschaftslehrlingen habe die Anerkennung des Lehrherrn durch die Landwirtschaftskammer und den Abschluß eines von der Landwirtschaftskammer herausgegebenen und bindend vorgeschriebenen Lehrvertrags vorausgesetzt. Der Lehrling habe ein Merkbuch führen müssen. All diese Voraussetzungen lägen nicht vor, so daß eine Anerkennung als Lehrzeit nicht möglich sei. Auch der nachgewiesene Besuch der Landwirtschaftsschule sei dafür kein Indiz. Soweit der Kläger sich auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (13 RJ 45/94) berufe, verkenne er, daß auch für die darin entschiedene Rechtsfrage der Nachweis eines Lehrverhältnisses notwendig gewesen sei.
Gegen das am 22. Oktober 1997 zur Post aufgelieferte Urteil hat der Kläger am 18. November 1997 Berufung beim Sozialgericht Gießen eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 2. Oktober 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1997 abzuändern und die Zeit vom 1. April 1946 bis zum 31. März 1950 als Pflichtbeitragszeit anzuerkennen.
Die Beklagte, die das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) ist sachlich begründet. Die Beklagte hat zu Unrecht die Berufsausbildung des Klägers vom 1. April 1946 bis 31. März 1950 nicht als Pflichtbeitragszeit festgestellt. Das Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben.
Nach § 149 Abs. 5 SGB 6 hat die Beklagte die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als 6 Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid festzustellen. Der Bescheid der Beklagten vom 10. September 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1997 ist jedoch insoweit zu beanstanden, als darin die Vormerkung der hier streitigen Zeit als Pflichtbeitragszeit abgelehnt wird. Pflichtbeitragszeiten sind zunächst nach § 55 Abs. 1 SGB 6 Zeiten, für die Pflichtbeiträge gezahlt worden sind. Nach § 247 Abs. 2a SGB 6 sind als Pflichtbeitragszeiten jedoch auch Zeiten anzusehen, in denen in der Zeit vom 1. Juni 1945 bis 30. Juni 1965 Personen als Lehrlinge oder sonst zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt waren und für die trotz grundsätzlicher Versicherungspflicht eine Zahlung von Pflichtbeiträgen nicht erfolgt ist. Das Bundessozialgericht hat im Urteil vom 8. Februar 1996 (13 RJ 45/94 in SozR 3–2600 § 247 SGB 6 Nr. 1) diese Vorschrift dahingehend ausgelegt, daß mit ihr eine großzügige Regelung getroffen werden sollte, um die zu Zeiten uneinheitlicher Rechtsanwendung und ungeklärter Versicherungspflicht verschiedenster Berufsausbildungsverhältnisse entstandenen Beitragslücken aller betroffenen Versicherten ohne Rücksicht auf die Gründe ihres jeweiligen Zustandekommens zu schließen.
Ein Lehrverhältnis im engeren Sinne lag im strittigen Zeitraum nicht vor. Insoweit bezieht der Senat sich zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils. Das Sozialgericht hat jedoch versäumt zu prüfen, ob eine Berufsausbildung im weiteren Sinne (vgl. BSG, Urteil vom 8. Juli 1970 – 11 RA 164/67 in E 31, 226/231) vorgelegen hat, die grundsätzlich versicherungspflichtig gewesen ist.
Berufsausbildung ist die einem zukünftigen, gegen Entgelt auszuübenden Beruf dienende Ausbildung, sofern sie Zeit und Arbeitskraft des Auszubildenden zumindest überwiegend beansprucht (BSG, Urteil vom 29. Mai 1979 – 4 RJ 101/78 in SozR 2200 § 1267 RVO Nr. 19). Der Begriff ist so auszulegen, daß er den jeweiligen Zeitverhältnissen und der jeweiligen wirtschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen kann (BSG, Urteil vom 18. März 1970 – 1 RA 217/69 in SozR Nr. 39 zu § 1267 RVO). Gibt es für eine bestimmte berufliche Tätigkeit keine vorgeschriebenen oder wenigstens von den beteiligten Kreisen allgemein anerkannten oder üblichen Ausbildungsweg, ist Berufsausbildung nur der Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die für die Ausübung des angestrebten Berufs unverzichtbare Voraussetzung sind (BSG, Urteil vom 25. April 1984 – 10 RKg 2/83 in SozR 5870 § 2 BKGG Nr. 32).
Im Unterschied zu den klassischen Handwerksberufen ist im Bereich der Landwirtschaft in der hier fraglichen Zeit zur Führung eines landwirtschaftlichen Betriebes eine geregelte Ausbildung mit Gesellen- und Meisterprüfung nicht notwendig. Wie aus den beigezogenen Unterlagen des Sozialgerichts, insbesondere der Dissertation von Reinhold Müller (Gießen 1953) zu ersehen ist, bestand zwar schon seit langem die Möglichkeit einer geregelten Ausbildung, diese wurde jedoch nur in eingeschränktem Maße wahrgenommen. Selbst wenn Lehrverträge abgeschlossen wurden, kam der weitaus größte Teil der Lehrlinge nicht zur Prüfung (vgl. dazu die in der Dissertation aufgeführte Statistik, S. 75). Eine Ausbildungsordnung im heutigen Sinne gab es erst seit 1953, wie in dem beigezogenen Schreiben des Hessischen Landesamtes für Regionalentwicklung und Landwirtschaft, Kassel, vom 22. Oktober 1998 zu entnehmen ist. Davor trafen die einzelnen Landwirtschaftskammern Bestimmungen über die Ausbildung. Dem vom Senat beigezogenen Artikel aus dem "Landwirtschaftlichen Wochenblatt vom 14. Februar 1948” über die neue Regelung der Ausbildung in der Landwirtschaft ist zu entnehmen, daß die Ansicht, die Landwirtschaft sei ein "ungelernter Beruf” zu dieser Zeit noch weit verbreitet war. Dies ist nachvollziehbar, denn insbesondere für die Kinder von selbständigen Landwirten, die später den Betrieb übernehmen sollten, gab es weder rechtliche noch wirtschaftliche Gründe, eine formelle Ausbildung abzuschließen. Es bedurfte keines Ausbildungsnachweises, um den Betrieb zu übernehmen. Als zukünftige Betriebsinhaber mußten Bauernkinder sich auch nicht der Konkurrenz des Arbeitsmarktes aussetzen. Grundsätzlich gilt deshalb, daß im Bereich der Landwirtschaft in der hier strittigen Nachkriegszeit neben der formellen Lehrlingsausbildung zumindest für die Kinder von Betriebsinhabern eine Berufsausbildung im weiteren Sinne üblich und möglich war, die den Anforderungen des § 247 Abs. 2a SGB 6 genügt.
Es reicht allerdings nicht, wenn die Berufsbildung lediglich glaubhaft gemacht wird, vielmehr muß sie nachgewiesen sein. Dies ergibt sich aus einer systematischen Auslegung der §§ 286a Abs. 1 Satz 1 SGB 6 und 247 Abs. 2a SGB 6. Die erstere Vorschrift setzt voraus, daß die tatsächliche Beitragszahlung glaubhaft gemacht wird, letztere hingegen, daß gerade kein Beitrag gezahlt wurde (vgl. Kasseler Kommentar, SGB 6 § 247 Rdnr. 15). Während bei einem Lehrverhältnis in der Regel die Vorlage eines Lehrvertrages zum Nachweis ausreichen wird, ist bei dem hier fraglichen Berufsausbildungsverhältnis im weiteren Sinne vor allem festzustellen, ob die Tätigkeit klar auf das Ziel der Berufsausbildung ausgerichtet war. Ebenso wie beim Lehrverhältnis ist zu fordern, daß der Ausbildungszweck der Tätigkeit das Gepräge gibt (BSGE, Urteil vom 30. Januar 1963 – 3 RK 36/59 in E 18, 246). Es darf keine Scheinausbildung vorliegen, die insbesondere dann anzunehmen ist, wenn ein Beruf nicht ernstlich angestrebt wird oder wenn nicht die Ausbildung, sondern die Verwertung der Arbeitskraft – hier im Sinne der familienhaften Mithilfe – im Vordergrund steht (BSG, Urteil vom 7. Juli 1965 – 12 RJ 180/62 in E 23, 166).
Zur Abgrenzung zwischen Versicherungspflichtiger Tätigkeit und versicherungsfreier familienhafter Mitarbeit, insbesondere bei "Meistersöhnen”, hat das Bundessozialgericht im Urteil vom 5. April 1956 (3 RK 65/56 in E 3, 30) als Kriterien vor allem die Eingliederung in den Betrieb und die Erzielung steuerpflichtigen Arbeitsentgeltes aufgestellt. In einem Ausbildungsverhältnis spielt das Kriterium des Arbeitsentgeltes jedoch keine entscheidende Rolle, denn dort steht die dem Auszubildenden erteilte Unterweisung im Vordergrund, die zumindest nach früherer Vorstellung als Gegenleistung zu dem wirtschaftlichen Wert der vom Auszubildenden geleisteten Arbeit zu sehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 1963, a.a.O.). Entscheidend ist allein der Ausbildungscharakter, der bei einer Tätigkeit im später zu übernehmenden elterlichen Betrieb das Vorliegen eines grundsätzlich Versicherungspflichtigen Berufsausbildungsverhältnisses bewirkt.
Der Senat sieht eine – grundsätzlich Versicherungspflichtige – Berufsausbildung im hier strittigen Zeitraum vor allem deshalb als nachgewiesen an, weil der Kläger neben der praktischen Unterweisung im elterlichen Betrieb auch an der theoretischen Ausbildung an der Landwirtschaftsschule teilgenommen hat. Nach den damaligen Vorschriften, die nicht mehr erhalten sind, deren Inhalt sich aber aus der schon zitierten Dissertation entnehmen läßt, gab es in der fraglichen Zeit eine formelle Lehrlingsausbildung, die sich in zwei Abschnitte unterteilte. Zunächst fand eine zweijährige Ausbildung zum Landarbeiter mit Vorprüfung statt, daran schloß sich eine zweijährige Ausbildung als Landwirt an, die mit dem Besuch einer Landwirtschaftsschule verbunden war. Insbesondere aus der Bescheinigung des Amtes für Regionalentwicklung, Landschaftspflege und Landwirtschaft, Friedberg, vom 3. Juli 1996 ist zu ersehen, daß die Berufsausbildung des Klägers parallel und entsprechend der offiziellen Lehrlingsausbildung abgelaufen ist. Der Senat sieht den Schulbesuch als Beweis dafür an, daß im Vordergrund der Tätigkeit auf dem elterlichen Hof in der fraglichen Zeit der Ausbildungszweck stand. Gestützt wird dies auch durch die glaubhaften Angaben des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung. Aus ihnen ergibt sich, daß der elterliche Betrieb für damalige Verhältnisse und zuletzt auch noch heute ausreichend groß zur Bestreitung des Lebensunterhaltes war. Der Kläger war als Hoferbe vorgesehen und hat den Betrieb auch tatsächlich übernommen. Dies spricht dafür, daß auch nach dem Interesse der Eltern eine Vorbereitung auf die zukünftige Stellung als Betriebsinhaber stattgefunden hat und unterstützt die glaubhaften Angaben des Klägers, daß er in der fraglichen Zeit unter Anleitung seines Vaters für alle auf dem Hof anfallenden Tätigkeiten praktisch ausgebildet worden sei, wobei der Ausbildungszweck im Vordergrund stand und die Arbeitskraft des Klägers überwiegend beanspruchte. Bei diesem Sachverhalt schließt der Senat ein Scheinausbildungsverhältnis – für das es keine Motivation gäbe – aus.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.
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