L 12 RJ 748/97

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 8 RJ 558/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 RJ 748/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 22. April 1997 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Der 1957 geborene Kläger hat den Beruf eines Autoschlossers erlernt, ohne die Prüfung abzulegen. Nach der Lehre hat er zunächst in unterschiedlichen Berufen gearbeitet. Von Oktober 1983 bis Oktober 1987 befand sich der Kläger in Strafhaft. Eine Umschulung während der Haft brach der Kläger erstmals im Juni 1986 und danach nach der Haftentlassung im November 1987 wegen Erkrankung ab. Vom 19. August 1988 bis 30. Juni 1989 war der Kläger als Schlosser und Schweißer beschäftigt. Tatsächlich gearbeitet hat der Kläger bis zum 1. Januar 1989, ab 2. Januar 1989 war er arbeitsunfähig erkrankt. In der Zeit vom 1. Juli 1989 bis zum 31. März 1990 übte der Kläger eine selbständige Erwerbstätigkeit als Akquisiteur aus. Danach war der Kläger nicht mehr erwerbstätig.

Am 14. Januar 1992 beantragte er Versichertenrente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Er gab an, er sei seit 1984 wegen einer neurotischen Depression erwerbsunfähig. Die Beklagte zog Befundberichte und medizinische Unterlagen der behandelnden Ärzte und Krankenhäuser bei und veranlasste eine Begutachtung durch den Nervenarzt Dr. Z., F., vom 8. Juni 1992. Danach leidet der Kläger unter einer paranoiden emotional instabilen und dyssozialen Persönlichkeitsstörung sowie an einem depressiven Syndrom mit ängstlichen Zügen – differenzialdiagnostisch an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Er sei nicht in der Lage, einer geregelten Erwerbstätigkeit länger als zwei Stunden täglich nachzugehen. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 2. November 1992 den Antrag ab. Zwar liege bei dem Kläger seit 24. Juli 1990 Erwerbsunfähigkeit vor, die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rentengewährung seien jedoch nicht erfüllt, da der Kläger zuletzt im maßgeblichen Zeitraum zwischen dem 1. November 1984 und dem 30. Juni 1990 statt für die geforderten 36 Monate nur für 6 Monate Pflichtbeiträge entrichtet habe. Den Widerspruch vom 14. Dezember 1992 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 23. April 1993 zurück.

Dagegen hat der Kläger am 18. Mai 1993 Klage erhoben. Das Sozialgericht hat Befundberichte und medizinische Unterlagen des Hausarztes Dr. Sch., N., vom 18. Oktober 1993 und 26. Juli 1994, des Nervenarztes Dr. R. G., vom 19. Oktober 1993 und der Ärzte der Psychiatrischen Klinik in G. vom 18. Januar 1995 beigezogen. Das Gericht hat Beweis erhoben und ein schriftliches medizinisches Gutachten nach Aktenlage bei dem Nervenarzt Dr. Sch. L., vom 14. Juni 1995 eingeholt. Der Sachverständige lässt zunächst offen, wie weit die auch von ihm angenommene Erwerbsunfähigkeit in die Vergangenheit zurückreicht. Nach Auswertung der Vollzugsakten und schriftlicher Stellungnahmen der Haftanstaltsärzte M. und Dr. G. äußert der Sachverständige in einer ergänzenden Stellungnahme vom 11. Juni 1996 die Ansicht, der Kläger sei schon über die gesamte Haftzeit erwerbsunfähig gewesen.

Das Gericht hat Auskünfte bei dem Berufsbildungszentrum Frankfurt am Main vom 19. Mai 1995 und dem Arbeitgeber K.(Tätigkeit vom 19. August 1988 bis 30. Juni 1989) eingeholt sowie den Zeugen R. im Termin zur mündlichen Verhandlung über die selbständige Tätigkeit des Klägers vernommen.

Mit Urteil vom 22. April 1997 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass nach den medizinischen Ermittlungen feststehe, dass der Kläger spätestens ab 7. Oktober 1983 erwerbsunfähig sei und deshalb die rentenrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente erfülle. Den medizinischen Feststellungen widerspreche weder die Tätigkeit während der Strafhaft, noch die kurzfristigen beruflichen Tätigkeiten danach. Arbeit und Berufsausbildung während der Strafhaft hätten nicht unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes stattgefunden und die kurzfristigen Tätigkeiten danach seien als fehlgeschlagene Arbeitsversuche anzusehen.

Gegen das ihr am 23. Mai 1997 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 11. Juni 1997 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Sie trägt vor, entgegen der Ansicht des Sozialgerichts müsse man aus den beruflichen Tätigkeiten des Klägers während der Haft und danach gerade umgekehrt schließen, dass Erwerbsunfähigkeit bis Anfang 1990 noch nicht bestanden habe. Im Übrigen weist die Beklagte hinsichtlich der selbständigen Tätigkeit auf die Vorschrift des § 1247 Abs. 2 Satz 3 RVO (heute § 44 Abs. 2 Satz 2 des 6. Buches des Sozialgesetzbuches – SGB 6) hin.

Der Senat hat nochmals die Vollzugsakten über den Kläger beigezogen und der Beklagten zur Auswertung überlassen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 22. April 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen Einzelheiten der Beweiserhebung des Sozialgerichts und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG) ist sachlich begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Das Urteil des Sozialgerichts ist aufzuheben.

Nach § 43 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 3 sowie § 44 Abs. 1 Ziff. 2 und Abs. 4 SGB 6 ist Voraussetzung für die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, dass in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Berufsunfähigkeit 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet worden sind. Dabei verlängert sich diese Frist um die im Einzelnen in § 43 Abs. 3 SGB 6 genannten Zeiträume (für die Zeit vor Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches gelten die entsprechenden Vorschriften der §§ 1247 Abs. 2 a; 1246 Abs. 2 a der Reichsversicherungsordnung – RVO). Die geforderte Anzahl der Pflichtbeiträge wäre beim Kläger nur erfüllt, wenn der Versicherungsfall vor dem 1. Juli 1985 eingetreten wäre. Dies kann nach Überzeugung des Senats nicht als bewiesen angesehen werden, der Ansicht des Sozialgerichts ist nicht zu folgen.

Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass der Kläger seit der letzten Krankmeldung seit dem 24. Juli 1990 keine Erwerbstätigkeit mehr ausüben kann. Nach den Feststellungen des Dr. Z. im Verwaltungsverfahren ist es zu einer psychischen Dekompensation gekommen. Ob der Kläger auf Dauer auch schon vorher an einer Erwerbstätigkeit gehindert war, lässt sich medizinisch nicht eindeutig feststellen. Der Hausarzt hält den Kläger zwar seit der Haftentlassung für unfähig, längerfristig einer geregelten Tätigkeit nachzugehen, weil das Krankenbild einen phasenhaften Verlauf aufweise, bei dem psychotische Phasen mit Phasen längerer psychischer Stabilisierung wechseln. Eine nervenärztliche Behandlung, die genaueren Aufschluss über das Krankheitsbild bringen könnte, hat aber erst seit Oktober 1990 durch Dr. R. stattgefunden. Der Sachverständige Dr. Sch. ist in der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Klägers in der Vergangenheit zunächst unsicher. Er ist der Ansicht, dass sich aus den Haftakten nur dann ein Hinweis auf eine entscheidungserhebliche seelische Störung ergebe, wenn bei weiteren Ermittlungen entsprechende Fehlzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit festzustellen seien. Es müsse dann der Beginn der Erwerbsfähigkeit mit dem Beginn der Haft angesetzt werden. In der Folge gelangte ein Schreiben des Medizinaldirektors i.R. M. zu den Akten, der nach seiner Pensionierung kurzfristig als Anstaltsarzt tätig gewesen war. Er konnte sich an den Kläger, der vom 30. Dezember 1982 bis Mitte April 1983 in seiner Sprechstunde gewesen sei, nicht mehr erinnern und entnahm aus den medizinischen Unterlagen, dass der Kläger einer regelmäßigen Arbeit nicht mehr hätte nachgehen können. Weiterhin befindet sich ein Schreiben der Anstaltsärztin Dr. G. bei den Akten, die den Kläger von 1982 bis 1986 behandelt hat. Sie führte aus, dass der Kläger während der ganzen Jahre an depressiven Verstimmungen gelitten habe. Als erwerbsunfähig könne sie ihn nicht betrachten, er sei mit Ausnahme von organischen Erkrankungen immer arbeitsfähig gewesen. Der Sachverständige Dr. Sch. deutete die Angaben der Frau Dr. G. dahingehend, dass der Kläger das Bild eines klagsamen körperliche Beschwerden produzierenden Menschen geboten habe. Sein Verhalten, das zum einen als Bewältigung einer ungerecht empfundenen Strafe, zum anderen als tendenzielles Verhalten im Hinblick auf Vergünstigungen beschrieben sei, bestätige die Annahme einer dyssozialen paranoiden Verhaltungsweise. Selbst die Beharrlichkeit im Krankheitsverhalten passe zum zwanghaften Verhalten. Es müsse von einer langfristigen Erwerbsunfähigkeit des Klägers ausgegangen werden.

Den Senat überzeugen diese Ausführungen nicht. Zunächst räumt der Sachverständige selbst ein, dass aus den Vollzugsakten nichts Genaueres zu entnehmen sei. Die Angaben des Anstaltsarztes M., auf die er Bezug nimmt, enthalten lediglich eine – fachfremde – ärztliche Auswertung medizinischer Unterlagen, sie beruhen nicht auf unmittelbarem Erinnern. Ein besonderer Beweiswert, der über den einer allgemeinen medizinisch begründeten Ansicht hinaus geht, kommt ihm nicht zu, Frau Dr. G. schließlich, die in ihrem Schreiben zweimal ausdrücklich betont, dass der Kläger nicht erwerbsunfähig oder arbeitsunfähig gewesen sei, setzt sich ebenfalls mit dem psychischen Krankheitsbild beim Kläger auseinander. Sie hält das Verhalten des Klägers für bewußtseinsnahe, es solle dazu dienen, Vergünstigungen zu erhalten, oder seine Unschuld zu beweisen. Ihre Ausführungen widersprechen den Schlussfolgerungen des Dr. Sch. Der Senat kann die medizinische Frage nicht entscheiden, ob Dr. Sch. oder Frau Dr. G. das Krankheitsbild des Klägers richtig einschätzen. Dabei ist jedoch nicht zu verkennen, dass Vieles für die Ansicht des sachverständigen Nervenarztes spricht, dass das damalige Verhalten des Klägers schon Ausdruck der sich jetzt endgültig manifestierten psychischen Krankheit war. Deren Ausmaß, auf das es entscheidend ankommt, bleibt jedoch unbekannt. Die Ansicht, dass damals schon eine so große Dekompensation eingetreten gewesen sei, dass der Kläger nicht mehr hätte erwerbstätig gewesen sein können, wird von dem Sachverständigen nicht begründet, sie bleibt reine Vermutung.

Der Senat stellt einen anderen Gesichtspunkt in den Vordergrund. Aus dem tatsächlichen Arbeitsschicksal des Klägers ergibt sich nach seiner Überzeugung, dass eine Erwerbsunfähigkeit erst frühestens im März 1990 eingetreten ist. Für die Feststellung, ob der Kläger der tatsächlich verrichteten Arbeit gewachsen war, kommt es auf die Tätigkeiten, die er während der Strafhaft verrichtet hat, letztlich nicht an. Die besondere Haftsituation mit den vielen denkbaren Motivationen zu angepaßtem oder unangepaßtem Verhalten sind mit einer üblichen Erwerbstätigkeit nicht zu vergleichen. Entscheidend hingegen ist, dass der Kläger nach der Haftentlassung ca. 15 Wochen lang in einem normalen Arbeitsverhältnis tätig war, ohne dass es zu Beschwerden durch den Arbeitgeber gekommen war. Eine Beschäftigungszeit von 15 Wochen kann entgegen der Ansicht des Sozialgerichts nicht als fehlgeschlagener Arbeitsversuch gewertet werden, sofern man diese Rechtsfigur überhaupt im Rentenrecht für anwendbar hält (vgl. BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 3/93 m.w.N. – in Kompaß 1995, 301). Ein solcher läge bestenfalls dann vor, wenn die Arbeitszeit nur wenige Tage betragen hätte. Schließlich ist auch nicht mehr aufklärbar, warum der Kläger die Tätigkeit aufgegeben hat. Selbst wenn es sich dabei um eine Auswirkung der jetzt vorliegenden psychischen Erkrankung gehandelt haben sollte, ist nicht mehr festzustellen, ob bei fachgerechter ärztlicher Behandlung eine langfristige Fehlzeit notwendig gewesen wäre. Eine endgültige Dekompensation ist jedenfalls nicht eingetreten, denn danach hat der Kläger noch einmal erfolgreich während 6 Monaten eine selbständige Arbeit ausüben können. Der Senat geht somit davon aus, dass es medizinisch nicht als bewiesen angesehen werden kann, dass der Kläger schon Ende 1988, zum Zeitpunkt der letzten Versicherungspflichtigen Tätigkeit, nicht mehr in der Lage war, auf Dauer eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Angesichts der tatsächlich verrichteten Arbeit muss hingegen davon ausgegangen werden, dass der Kläger insofern noch leistungsfähig war. Hinweise dafür, dass diese Arbeit zu Lasten der Gesundheit ausgeübt wurde, gibt es nicht. Der Hausarzt hält den Kläger zwar seit der Haftentlassung für erwerbsunfähig. Er teilt aber keine konkreten Befunde mit, die ihre Ursache in der tatsächlich verrichteten Arbeit haben könnten. Nach Überzeugung des Senates, handelt es sich bei der Erkrankung des Klägers um ein schicksalsmäßig sich kontinuierlich verschlechterndes seelisches Leiden, das – wie sich aus dem Gutachten des Dr. Z. ergibt – nicht exogen, sondern persönlichkeitsbedingt ist und das sich durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit nicht verschlimmert hat.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved