L 5 V 52/96

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 24 V 3180/91
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 52/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. September 1995 und der Bescheid des Beklagten vom 22. März 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 1991 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Witwenbeihilfe nach den gesetzlichen Bestimmungen ab dem 1. Januar 1991 zu gewähren.

II. Der Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Witwenbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Die 1926 geborene Klägerin ist die Witwe des 1924 geborenen und 1990 verstorbenen Beschädigten A. B. Dieser erlitt als Soldat der ehemaligen Deutschen Wehrmacht 1943 und 1944 Granatsplitterverletzungen, deren Folgen erstmals durch Bescheid vom 30. Mai 1951 als Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von weniger als 25 v.H. anerkannt wurden. Wegen mehrmaliger Fisteleiterungen im Verletzungsbereich wurde von dem Beklagten eine wesentliche Verschlimmerung anerkannt und mit Bescheid vom 17. Mai 1961 der Bescheid vom 30. Mai 1951 insoweit abgeändert sowie als Schädigungsfolgen mit einer MdE von 30 v.H. "eine ausgedehnte Narbe und kleinere Narben mit Facienmuskeldefekten im Lendenbereich links, leichte Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule durch Narbenzug. Defekt in der 12. Rippe links und geringe Deformierung der 11. Rippe links sowie zwei kleine Splitter oberhalb der 11. Rippe links. Mäßige Zwerchfellverwachsungen links” feststellte. Weiter wurde in dem Bescheid ausgeführt, daß der Beschädigte in seinem Beruf nicht mehr betroffen sei, als durch die MdE von 30 v.H. zum Ausdruck komme. In der Zeit nach Mai 1961 wurden wegen wiederholter Abszeßbildungen und schwerer Entzündungen mehrere Operationen erforderlich. Im Juli/August 1962 erlitt der Beschädigte einen Vorderwandspitzeninfarkt, dessen Verursachung durch Schädigungsleiden der Beklagte anerkannte. Durch Neufeststellungsbescheid vom 21. August 1963 wurden als Schädigungsfolgen demzufolge mit einer MdE von 50 v.H. anerkannt: "1. Ausgedehnte Narbe am linken Lendenbereich mit größerem Gewebsdefekt; kleinere Narben mit teilweisen Faciendefekten; Bewegungsbehinderungen der Lendenwirbelsäule durch Narbenzug; Defekt an der 12. linken Rippe und geringe Verbildung der 11. Rippe sowie Stecksplitterchen in der Umgebung der 11. Rippe; 2. Geringe Herzinfarktnarbe; 3. Mäßige Zwerchfellverwachsung links”. Zum Abschluß eines sich an den Neufeststellungsantrag vom Dezember 1968 anschließenden Klageverfahrens kam es im Juni 1971 zu einem Vergleich vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main, in dem sich der Beklagte bereiterklärte, den Grad der MdE ab Dezember 1968 auf 60 v.H. anzuheben (Ausführungsbenachrichtigung vom 28. Juni 1971).

Der Beschädigte war vor der Schädigung als landwirtschaftlicher Arbeiter im Betrieb der Eltern und auch nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft und der Vertreibung aus Oberschlesien zunächst in diesem Beruf tätig. Danach führte er einige Jahre verschiedene Hilfsarbeitertätigkeiten aus und war anschließend ab 1954 als Druckereihilfsarbeiter zunächst bei der Rechtsvorgängerin seines letzten Arbeitgebers (P. S.) tätig. Dort wechselte er aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Jahre 1969 auf einen anderen Arbeitsplatz und wurde als Pförtner weiterbeschäftigt. Eine Absenkung seiner durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkünfte hatte dies nicht zur Folge. Durch Bescheid vom 26. November 1984 (berichtigt durch Bescheid vom 23. Januar 1985) wurde dem Beschädigten von der Landesversicherungsanstalt Hessen (LVA Hessen) flexibles Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) – wegen der Schwerbehinderung – ab dem 1. Januar 1985 bewilligt.

Durch Bescheid vom 1. Dezember 1977 waren beim Beschädigten erstmals Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einem Grad der Behinderung (GdB) von insgesamt 100 festgestellt worden. Neben den mit einer MdE von 60 v.H. anerkannten Schädigungsfolgen wurden "4. arterielle Verschlußkrankheit, Gefäßersatzoperation 1969” (Einzel-GdB 50) und "5. Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule” (Einzel-GdB 20) festgestellt. Mit Neufeststellungsbescheid nach dem SchwbG vom 17. August 1987 wurde in den Bescheidtext eine weitere Gefäßersatzoperation aus dem Jahre 1985 aufgenommen und erstmalig "coronare Herzkrankheit” (Einzel-GdB 30 v.H.) als weitere Behinderung festgestellt; bei einem Gesamt-GdB von 100 wurde das Vorliegen der Nachteilsausgleiche "B” und "G” zuerkannt.

Der Beschädigte verstarb 1990 nach einem Sturz vom Fahrrad, dem nach dem Obduktionsergebnis des Zentrums für Rechtsmedizin der Universität F. ein Re-Infarkt in der Hinterwand der hinteren Herzkammer vorhergegangen war. Auf den Antrag vom 8. Januar 1991 (ergänzt am 6. Februar 1991) auf Bewilligung von Hinterbliebenenversorgung zog der Beklagte das Ergebnis der Verwaltungssektion von Prof. B. bei und lehnte durch Bescheid vom 14. Februar 1991 die Gewährung von Witwenrente mit der Begründung ab, der Tod des Beschädigten sei nicht Schädigungsfolge gewesen.

Gegen die Ablehnung der Zahlung von Witwenrente hat die Klägerin am 14. März 1991 (Eingang) Widerspruch eingelegt.

Bezüglich eines Anspruchs auf Witwenbeihilfe führte der Beklagte Ermittlungen zum beruflichen Werdegang des Beschädigten und zur Rentenhöhe durch, forderte die Rentenakten von der LVA Hessen an und stellte eine Vergleichsberechnung bezüglich der Höhe der Altersrente des verstorbenen Beschädigten an. Durch Bescheid vom 22. März 1991 lehnte daraufhin der Beklagte die Gewährung von Witwenbeihilfe gemäß § 48 BVG u.a. mit der Begründung ab, der Beschädigte habe keine schädigungsbedingten finanziellen Einbußen erlitten, die zu einer Beeinträchtigung der Hinterbliebenenversorgung der Klägerin hätten fuhren können. Den Widerspruch der Klägerin (Eingang 22. April 1991), der nicht begründet wurde, wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 27. November 1991 zurück, nachdem zuvor durch Widerspruchsbescheid vom 26. November 1991 auch der Widerspruch gegen den die Zahlung von Witwenrente gemäß § 38 BVG ablehnenden Bescheid zurückgewiesen worden war.

Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 1991 (Eingang 20. Dezember 1991) hat die Klägerin beim Sozialgericht Frankfurt am Main gegen beide Bescheide Klage erhoben. Das Sozialgericht hat die Verfahren durch Beschluss vom 7. Februar 1994 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden; die Klage gegen den Bescheid vom 14. Februar 1991 (in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1991) wegen der Ablehnung der Gewährung einer Witwenrente gemäß § 38 BVG hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung beim Sozialgericht Frankfurt am Main am 12. April 1995 zurückgenommen.

Bezüglich des Anspruches auf Witwenbeihilfe hat die Klägerin geltend gemacht, ihr verstorbener Ehemann sei aufgrund der anerkannten kriegsbedingten Schädigungen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, was zu einer finanziellen Einbuße bei der Altersversorgung und (davon abgeleitet) bei ihrer eigenen Witwenversorgung geführt habe. Die Klägerin hat sich weiterhin darauf berufen, daß bei dem Beklagten eine Verwaltungspraxis bestehe, beim Vorliegen einer MdE von 50 v.H. (oder mehr) immer davon auszugehen, das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben mit dem 60. Lebensjahr beruhe auf Schädigungsfolgen.

Durch Urteil vom 20. September 1995 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main die Klage u.a. mit der Begründung abgewiesen, der Beklagte habe zu Recht die Bewilligung von Witwenbeihilfe nach § 48 BVG abgelehnt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien nicht erfüllt, weil aus dem Erwerbsleben des Beschädigten keine Anhaltspunkte dafür entnommen werden könnten, daß er durch die Schädigungsfolgen in seiner Erwerbstätigkeit behindert gewesen sei. Eine besondere berufliche Betroffenheit des Beschädigten gemäß § 30 Abs. 2 BVG sei in Bescheiden des Beklagten nicht festgestellt worden. Nach dem beruflichen Werdegang des Beschädigten und dem Versicherungsverlauf, wie er durch die LVA Hessen festgestellt worden sei, habe der Beschädigte keine schädigungsbedingten beruflichen Einbußen erlitten; auch sei ein Antrag auf Berufsschadensausgleich nach dem vorzeitigen Ausscheiden aus dem Berufsleben von ihm nicht gestellt worden. Auch die weiteren Voraussetzungen des § 48 (Abs. 1 Satz 1 und Satz 5 und 6 BVG) seien nicht zugunsten der Klägerin erfüllt. Weder habe der Beschädigte im Zeitpunkt des Todes Anspruch auf eine Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen gehabt noch Anspruch auf Pflegezulage wegen einer nicht nur vorübergehenden Hilflosigkeit. Auch die unwiderlegbare Rechtsvermutung des § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG sei unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) nicht erfüllt. Ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich für die Dauer von fünf Jahren zugunsten des verstorbenen Beschädigten könne nicht festgestellt werden. Zwar sei dafür nicht zwingend Voraussetzung, daß der Berufsschadensausgleich tatsächlich festgestellt und gezahlt worden oder aber ein entsprechender Antrag gestellt worden sei. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Berufsschadensausgleich hätten aber in derartiger Klarheit vorliegen müssen, daß sich der Verwaltung mindestens fünf Jahre vor dem Tod das tatsächliche Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Berufsschadensausgleich hätte aufdrängen müssen. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG hätte sich auf den ersten Blick für jeden Kundigen klar erkennbar ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich ergeben müssen. Nur insoweit habe das BSG entschieden, daß ein wegen der Schädigungsfolge Schwerbehinderter, der nach Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausscheide und vorgezogenes Altersruhegeld beziehe, einen schädigungsbedingten Einkommensverlust erleide. Diese Vermutung sei aber als widerlegt anzusehen, wenn andere Gründe für das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vorliegen würden und nicht offensichtlich sei, daß der Beschädigte ausschließlich wegen der Schädigungsfolgen vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Zur Überzeugung des Sozialgerichts seien die Voraussetzungen für eine (zugunsten der Klägerin) eingreifende Vermutung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG nicht gegeben. Zwar seien die Schädigungsfolgen nach dem BVG ab 28. Juni 1971 (rückwirkend ab 1. Dezember 1968) mit einer MdE von insgesamt 60 v.H. bindend festgestellt worden, weshalb der Beschädigte allein deswegen mit Vollendung des 60. Lebensjahres als Schwerbeschädigter einen Rentenanspruch hätte geltend machen können. Die Voraussetzungen für eine "offensichtliche Vermutung” dafür, daß Ursache für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben die anerkannten Schädigungsfolgen gewesen seien, sei aber – so das Sozialgericht – nicht gegeben. Der Beschädigte habe auch nach der Anhebung der MdE auf 60 v.H. seine Erwerbstätigkeit unverändert bis zum Rentenbeginn ab 1. Januar 1985 noch weitere 15 Jahre ausgeübt. Der Tätigkeitswechsel zum 1. November 1969 aus gesundheitlichen Gründen von der Beschäftigung im Offset-Druck zu einer Tätigkeit als Pförtner sei durch die Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse ab 1968 verursacht worden. Wie aus dem Bescheid nach dem Schwerbehindertengesetz aus dem Jahre 1977 sich ergebe, sei erst danach die schwere arterielle Durchblutungsstörung und die coronare Herzkrankheit aufgetreten, die letztlich Todesursache beim Beschädigten geworden sei. Die nach dem Schwerbehindertengesetz – und damit schädigungsunabhängig – beim Beschädigten festgestellten Gesundheitsstörungen seien bereits 1977 versorgungsärztlich mit einem GdB (entsprechend der MdE) von 50 und 20 festgestellt worden; die schädigungsunabhängig bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen seien damit gleichermaßen schwer zu bewerten gewesen, wie die Schädigungsfolgen. Deshalb könne – so das Sozialgericht – davon ausgegangen werden, daß zur Zeit des Rentenbeginns die schädigungsunabhängigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen stärker auf die Erwerbstätigkeit des Beschädigten sich ausgewirkt hätten, als die schädigungsabhängigen, zumal die schädigungsunabhängigen Leiden bis zum Eintritt in den Ruhestand 1985 unverändert fortbestanden hätten. Die Vermutung für ein vorzeitiges Ausscheiden aufgrund der Schädigungsleiden sei deshalb widerlegt, zumal nach der neueren Rechtsprechung sich die Vermutung für ein schädigungsbedingtes Ausscheiden der Verwaltung hätte aufdrängen müssen. Ein solcher Anspruch des verstorbenen Beschädigten auf Berufsschadensausgleich sei nicht klar erkennbar gewesen. Dem stehe auch nicht die Entscheidung des BSG vom 16. Mai 1995 entgegen (–9 RV 36/93–), weil – anders als in jener Entscheidung – keine Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen durch den Beklagten bestanden hätten. Auch aus der Tatsache, daß der Beschädigte selbst zu Lebzeiten keinen Antrag auf Berufsschadensausgleich gestellt habe, müsse – so das Sozialgericht – gefolgert werden, daß ein solcher Anspruch nicht ohne weiteres offensichtlich erkennbar gewesen sei. Aus der Sicht des Sozialgerichts stelle es keinen Wertungswiderspruch dar, wenn im Falle der "doppelten Behinderung” (sowohl nach dem BVG wie nach dem SchwbG anzuerkennen) die Gewährung von Witwenbeihilfe versagt werde. Nur im Ausnahmefall, wenn also das Vorliegen der Voraussetzung für einen Anspruch auf Berufsschadensausgleich offensichtlich gewesen sei, könne auch nach dem Tode des Beschädigten durch weitere Ermittlungen geprüft werden, ob ein solcher Anspruch auf Berufsschadensausgleich tatsächlich bestanden hätte. Eine solche Fallkonstellation liege aber bei der Klägerin und ihrem verstorbenen Ehemann nicht vor.

Gegen das ihrem Bevollmächtigten am 21. Dezember 1995 zugestellte Urteil richtet sich die am 19. Januar 1996 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung.

Die Klägerin macht geltend, aus der Tatsache, daß der Beschädigte mit 60 Jahren als Schwerbeschädigter und -behinderter vorzeitig in den Ruhestand getreten sei, müsse nach dem Beweisregelsystem des § 8 der Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) geschlossen werden, daß diese vorzeitige Aufgabe der Erwerbstätigkeit mindestens im Sinne der Wahrscheinlichkeit als Mitursache eine Verringerung der Altersversorgung nach sich gezogen habe. Der vorgezogene Ruhestand für Schwerbeschädigte indiziere das schädigungsbedingte Ausscheiden. Wenn aber ein schädigungsbedingtes Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vorliege, müsse auch ein Anspruch auf Berufsschadensausgleich angenommen werden und ihr, der Klägerin, demzufolge Witwenbeihilfe gewährt werden. Die Klägerin hat eine Mitteilung des letzten Arbeitgebers des Beschädigten vorgelegt, woraus sich ergibt, daß diesem zum Zeitpunkt seines Ausscheidens im Jahre 1984/85 einen Anspruch auf eine Betriebsrente in Höhe von jährlich 1.560,– DM (entspricht monatlich 130,– DM) zugestanden hatte.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 20. September 1995 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 22. März 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 1991 zu verurteilen, der Klägerin Witwenbeihilfe nach dem verstorbenen Beschädigten A. B. ab Januar 1991 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er beruft sich auf die Entscheidungsgründe im erstinstanzlichen Urteil, das er für zutreffend hält sowie auf die neuere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG).

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Senat ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten (einschließlich der Archivakten des Sozialgerichts Frankfurt a.M.) und auf die Verwaltungsakten der Beklagten (2 Bde. Beschädigtenakten, Witwenakte) sowie auf die Rentenakten der LVA Hessen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung des Senats am 14. Januar 1999 waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil beide Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG –).

Die Berufung ist form- und fristgerecht erhoben worden und an sich statthaft und somit insgesamt zulässig (§§ 151 Abs. 1, 143 ff., 144 SGG).

Die Berufung ist auch sachlich begründet. Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main konnte nach den vom Senat getroffenen weiteren Feststellungen und nach der Rechtsauffassung des Senats nicht aufrechterhalten werden. Der Bescheid des Beklagten vom 22. März 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. November 1991 ist rechtswidrig, beschwert die Klägerin und mußte deshalb aufgehoben werden. Die Klägerin hat (dem Grunde nach – § 130 SGG) Anspruch auf Witwenbeihilfe nach dem BVG.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG (hier maßgebliche Fassung für die Zeit ab 1. April 1990: KOV-Strukturgesetz (KOV-StruktG) vom 23. März 1990 – BGBl. I, S. 582; für die Zeit davor bis 31. März 1990: 15. Anpassungsgesetz zur Kriegsopferversorgung (15. AnpG-KOV) vom 23. Juni 1986 – BGBl. I S. 915) ist Witwenbeihilfe zu zahlen, wenn der rentenberechtigte Beschädigte, der nicht an den Folgen der Schädigung gestorben ist, durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben, und dadurch die aus der Ehe mit dem Beschädigten hergeleitete Witwenversorgung (vor dem 1. April 1990: "Hinterbliebenenversorgung”) insgesamt um mindestens 10 bis 15 v.H. gemindert ist. Welcher Vomhundertsatz (§ 48 Abs. 1 Satz 1 BVG – rechte Spalte –) maßgeblich ist, richtet sich danach, in welchem Verhältnis die "abgeleitete” Witwenversorgung zu dem in § 33 Abs. 1 Buchst. a BVG genannten Bemessungsbetrag steht (§ 48 Abs. 1 Satz 1 – linke Spalte –), wobei die Neufassung des § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG durch das KOV-StruktG insoweit keine hier maßgebliche Änderung erbracht hat.

Die Voraussetzungen des Satzes 1 von Abs. 1 des § 48 BVG gelten als erfüllt, wenn der Beschädigte im Zeitpunkt seines Todes Anspruch auf die Beschädigtenrente eines Erwerbsunfähigen oder wegen nicht nur vorübergehender Hilflosigkeit Anspruch auf eine Pflegezulage hatte. Die Voraussetzungen des Satzes 1 gelten auch als erfüllt, wenn der Beschädigte mindestens fünf Jahre Anspruch auf Berufsschadensausgleich (BSchA) hatte (§ 48 Abs. 1 Satz 5 und Satz 6 BVG; bis 31. März 1990: Satz 2). Ist einer dieser drei sogenannten "Vermutungstatbestände” erfüllt, so wird – unwiderleglich – vermutet, daß eine auszugleichende Minderung der Versorgung der Witwe eingetreten ist, ohne daß es einer Prüfung des Vorliegens einer konkreten Versorgungslücke nach den Berechnungsregeln des Abs. 1 Satz 1 von § 48 BVG bedarf.

Der verstorbene Ehemann der Klägerin hat weder Rente nach dem BVG wegen einer (schädigungsbedingten) MdE von mehr als 90 v.H. (dies ist die Legaldefinition von "Erwerbsunfähigkeit” im Sinne des BVG – vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 BVG) noch Pflegezulage bezogen, weshalb zugunsten der Klägerin nur der Vermutungstatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 6 (früher: Satz 2) BVG zu prüfen ist, wonach die Voraussetzungen des Satz 1 schon dann als erfüllt gelten, wenn der Beschädigte mindestens fünf Jahre Anspruch auf BSchA wegen eines Einkommensverlustes i.S.d. § 30 Abs. 4 BVG oder auf BSchA nach § 30 Abs. 6 BVG (früher nur: § 30 Abs. 4 BVG) hatte. Der Vermutungstatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 6 (früher: Satz 2) BVG dient, wie das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, der Verwaltungsvereinfachung und soll der Versorgungsverwaltung – die häufig schwierige und aufwendige – konkrete Berechnung ersparen, in welchem Umfang sich die Schädigungsfolgen auf die Höhe der Versorgung der Witwe ausgewirkt haben (BSG, Urteile vom 27. Januar 1987 – 9 a RV 38/85 – in: SozR 2-3100 § 48 BVG Nr. 15 und vom 12. Dezember 1990 u.a. SozR 3-3100 § 48 BVG Nr. 2, S. 6 und Nr. 3 S. 8). Das Vorliegen einer konkreten Versorgungslücke ist demnach erst dann zu prüfen, wenn keiner der oben genannten Vermutungstatbestände – insbesondere der Anspruch auf BSchA gemäß Satz 6 – gegeben ist. Vorliegend kommt für den Beschädigten nur ein Anspruch auf BSchA nach § 30 Abs. 4 (a.F.) in Betracht, weil der sogenannte "Netto-BSchA” gemäß § 30 Abs. 6 BVG (n.F.) erst am 1. Juli 1990 eingeführt worden ist (insoweit Inkrafttreten des KOV-StruktG), und der Beschädigte einige Monate später verstorben ist, weshalb kein Anspruch auf "Netto-BSchA” für mindestens fünf Jahre hätte bestehen können.

Der Vermutungstatbestand "Anspruch auf BSchA” ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Beschädigte zu Lebzeiten weder einen solchen Antrag gestellt hatte, noch darüber – bewilligend oder ablehnend – entschieden worden ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist aus der Formulierung "Anspruch” in § 48 Abs. 1 Satz 6 (n.F.) BVG zu folgern, daß auch ohne eine positive Entscheidung über einen Antrag auf Bewilligung des BSchA bei der Prüfung der Voraussetzungen für die Bewilligung von Witwenbeihilfe und nur anhand der Beschädigtenakten das Vorliegen der Voraussetzungen für die Zahlung eines BSchA geprüft werden kann, jedenfalls dann, wenn sich die Unrichtigkeit einer früheren Ablehnung der Leistung aufdrängt (BSG, Urteile vom 27. Januar 1987 – 9 a RV 38/85 – und 9 a RV 6/86 – in: SozR 2-3100 § 48 BVG Nrn. 15, 16).

Soweit nicht bereits zu Lebzeiten des Beschädigten über einen Antrag auf BSchA positiv entschieden oder wenigstens ein Antrag gestellt worden war, hat das BSG immer daran festgehalten, daß sich aus den Beschädigtenakten selbst (und nur aus diesen) "offenkundig” ein Anspruch auf BSchA hätte ergeben müssen, und es sich der Versorgungsverwaltung deshalb hätte aufdrängen müssen, über BSchA (positiv) zu entscheiden (oder aber auf eine entsprechende Antragstellung – so sie noch nicht erfolgt war – hinzuwirken); oder anders formuliert: Es mußten – für den Fall, daß ein Antrag auf Bewilligung von BSchA abgelehnt worden war – Fehler der Verwaltung "offenkundig” gewesen sein, und zwar derart, daß ein sog. Zugunstenbescheid hätte ergehen können und müssen.

In einer neuesten Entscheidung des BSG hierzu (Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 V 19/97 R, S. 5 des Umdrucks; Bestätigung des Senats-Urteils vom 20. Juni 1995 – L 5 V 191/92 –) sind diese Grundsätze noch einmal wie folgt zusammengefaßt:

"Im Interesse der Verwaltungsvereinfachung setzt § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG voraus, daß dem verstorbenen Beschädigten offensichtlich oder für jeden Kundigen klar erkennbar fünf Jahre lang Anspruch auf BSchA zugestanden hat ("Offenkundigkeitsgrundsatz” – vgl. SozR 3100 § 48 Nrn. 15 und 16; SozR 3-3100 § 48 Nrn. 2, 3, 4, 6 und 7). Die unwiderlegliche Vermutung des § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG würde ihren Zweck – Verwaltungsvereinfachung – verfehlen, wenn statt der in § 48 Abs. 1 Satz 1 BVG grundsätzlich vorgesehenen Gegenüberstellung von schädigungsbedingt geminderter (tatsächlicher) und hypothetischer (vgl. dazu SozR 3-3100 § 48 Nr. 9) Witwenversorgung und der Ermittlung ihrer schädigungsbedingten Minderung mit mehr oder weniger demselben oder größerem Verwaltungsaufwand ein zu Lebzeiten des Beschädigten vorhanden gewesener Anspruch auf BSchA und dessen Dauer exakt ermittelt werden müßten. Dieser Weg ist nur ausnahmsweise zu beschreiten, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten (auch) BSchA beantragt hat und über diesen Antrag noch nicht entschieden worden ist. Auf diesen Fall bezieht sich die bisherige Rechtsprechung des Senats des BSG, soweit sie eine Ausnahme vom Offenkundigkeitsgrundsatz macht (vgl. SozR 3-3100 § 48 Nr. 3 S. 9; SozR 3-3100 § 48 Nr. 6 S. 17): Gemeint sind dabei die Fälle, in denen ein zu Lebzeiten des Beschädigten eröffnetes Verfahren zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht abgeschlossen war. Denn, wie der Senat bereits entschieden hat, gilt der Offenkundigkeitstatbestand auch für die Fälle, daß ein Antrag des Beschädigten auf BSchA zu dessen Lebzeiten zwar gestellt, das dadurch eingeleitete Verwaltungsverfahren aber für ihn erfolglos abgeschlossen worden war, selbst wenn die Witwe nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Zugunstenfeststellung des Anspruchs betreibt (vgl. SozR 3-3100 § 48 Nr. 7).”

Demnach war lediglich ein offenkundiger Anspruch auf BSchA geeignet, die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG zu erfüllen. Denn ein Verwaltungsverfahren über einen Antrag war zum Zeitpunkt des Todes des Beschädigten nicht mehr anhängig, weil seine Anträge auf Versorgung zuletzt durch die Ausführungsbenachrichtigung vom 28. Juni 1971 vollständig beschieden und d.h. verbraucht waren. Auch von Amts wegen hat ein Verwaltungsverfahren über weitere Ansprüche auf Versorgung, insbesondere, auf BSchA nicht mehr stattgefunden. Insbesondere hat auch der Beklagte nicht von sich aus ein Verfahren über eine Neuprüfung der getroffenen Regelungen gemäß § 62 BVG a.F. (ab 1. Januar 1981 § 48 SGB X) und § 60 Abs. 2 und 3 BVG eröffnet (BSG, a.a.O. S. 6 und 7).

Nach diesen Grundsätzen der Rechtsprechung des 9. Senats des BSG, wonach sich die "Offenkundigkeit” des Anspruchs auf BSchA unmittelbar aus den Beschädigtenakten selbst ergeben muß (BSG, Urteile vom 26. November 1991 – 9 a RV 19/90 –, vom 29. Januar 1992 – 9 a RV 5/91 – und vom 15. Juli 1992 – 9 a RV 40/91 – alle in SozR 3-3100 § 48 BVG Nrn. 2, 3 und 4 sowie Urteil vom 15. Juli 1992 – 9 a RV 8/92 – SozR 3-3642 § 8 BSchAV Nr. 5) sowie unter Berücksichtigung allgemeinkundiger Tatsachen – z.B. über durchschnittliche Vergleichseinkommen – steht zur Überzeugung des Senats fest, daß der Beschädigte zum Zeitpunkt seines Todes einen Anspruch auf BSchA hatte. Der Senat folgt – wie bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. Senatsurteile vom 20. Juni 1995 – L 5 V 191/92 –; bestätigt durch Urteil des BSG vom 24. Juni 1998 – B 9 V 19/97 R – sowie vom 26. Oktober 1995 – L 5/V 519/88 –; vgl. auch Urteil des 4. Senats des HLSG vom 4. August 1998 – L 4 V 378/98) – diesen Grundsätzen der Rechtsprechung des BSG. Wie das BSG entschieden hat, erleidet ein wegen Schädigungsfolgen Schwerbehinderter, der nach Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Erwerbsleben ausscheidet und vorgezogenes Altersruhegeld erhält, einen schädigungsbedingten Einkommensverlust. Sein Berufsschadensausgleich ist dann nach dem ungekürzten Durchschnittseinkommen der vorausgegangenen Berufstätigkeit (Vergleichseinkommen) zu bemessen (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1990 – 9 a/9 RV 20/89 – unter Berufung auf BSG SozR 2-3100 § 30 Nr. 78). Eine solche Einkommensdifferenz war beim Beschädigten zum Zeitpunkt der Bewilligung des Altersruhegeldes zur Jahreswende 1984/85 offenkundig eingetreten. Die Bruttorente betrug ab 1. Januar 1985 monatlich 1.660,60 DM (bzw. korrigiert: 1.664,00 DM). Das seinerzeit maßgebliche Durchschnittseinkommen eines Fachhilfsarbeiters im Druckereigewerbe betrug in der Leistungsgruppe 3 monatlich 3.046,00 DM (vgl. Tabelle 1 der Bekanntmachung der Vergleichseinkommen). Damit war (unter Berücksichtigung der Differenz der Bruttoeinkommen) offenkundig, daß der verstorbene Beschädigte mit der Inanspruchnahme des Altersruhegeldes einen erheblichen Einkommensverlust gegenüber dem Einkommen bei Fortführung der Erwerbstätigkeit hatte hinnehmen müssen. Diese Einkommensdifferenz ist auch so erheblich, daß sie durch die bei gewerblichen Arbeitnehmern üblichen Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung nicht hätte ausgeglichen werden können. Zur Beurteilung der Offenkundigkeit dieses Einkommensverlustes ist auf die Sicht qualifizierter und sachkundiger Mitarbeiter der Versorgungsverwaltung abzustellen. Diese hätten nach Mitteilung über den Rentenbeginn und die Rentenhöhe ohne weiteres erkennen können, daß für den Beschädigten ein Anspruch auf BSchA in Betracht kommt und ggf. auf eine Antragstellung hinwirken müssen. Durch die von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgelegte Mitteilung des letzten Arbeitgebers des Beschädigten, wonach dieser im August 1984 (lediglich) Anspruch auf eine Betriebsrente in Höhe von 130,– DM/Monat gehabt hätte (die durch Auszahlung eines Kapitalbetrages abgefunden wurde) werden lediglich diese Feststellungen bestätigt. Sie hätte sich bei sorgfältiger Prüfung bereits um die Jahreswende 1984/85 nach Lage der Akten aufdrängen müssen. Dabei kann der Senat hier dahingestellt sein lassen, ob insoweit die Voraussetzungen für die Anwendung der Grundsätze über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch hätten Berücksichtigung finden müssen (vgl. hierzu – ablehnend – Urteil des BSG vom 3. August 1994 – 9 RV 31/93 –).

Der beim verstorbenen Beschädigten eingetretene Einkommensverlust war auch offenkundig auf Schädigungsfolgen zurückzuführen.

Das BSG hat in seinem Urteil vom 15. Juli 1992 Entscheidungen bestätigt, mit denen der Witwe eines Beschädigten (MdE 50 v.H.) Witwenbeihilfe zuerkannt worden war, deren Ehemann nach Vollendung des 61. Lebensjahres und nach einer längeren Zeit der Arbeitsunfähigkeit unter Inanspruchnahme des flexiblen Altersruhegeldes für Schwerbehinderte aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war. In dieser Entscheidung hat es der 9 a Senat des BSG zur Erfüllung des "Offenkundigkeits-Grundsatzes” für ausreichend erachtet, daß das vorgezogene Altersruhegeld schädigungsbedingt in Anspruch genommen worden ist und dem Beschädigten – rückschauend leicht erkennbar – ein Anspruch auf BSchA mit der Folge zustand, daß der Vermutungstatbestand des § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG als erfüllt zu gelten hatte. In dieser Entscheidung wird auch ausgeführt, daß grundsätzlich von einem schädigungsbedingten Ausscheiden und einer (offenkundigen) schädigungsbedingten Einkommensminderung auszugehen sei, wenn ein Schwerbeschädigter (mindestens MdE 50 v.H.) – der auch als Schwerbehinderter nach dem SchwbG anzuerkennen ist – von der Möglichkeit des vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben und der Inanspruchnahme eines Altersruhegeldes Gebrauch macht. Diese Vermutung könne nur durch eine zu Lebzeiten erfolgte Feststellung widerlegt werden, nach der klar erkennbar ist, daß andere Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben alleine verursacht haben (Leitsatz und Urteil in SozR 3-3100 § 48 BVG Nr. 4; vgl. auch Urteil vom 19. Mai 1995 – 9 RV 36/93 –).

Hingegen hat der 9 a Senat in einer Entscheidung vom selben Tage (15. Juli 1992) eine ablehnende Entscheidung bestätigt, die im Tatbestand des Urteils in einigen Punkten mit dem hier zu entscheidenden Fall übereinstimmt (– 9 a RV 8/92 –). Dort war der Beschädigte, der (einschließlich einer besonderen beruflichen Betroffenheit) nach einer MdE von 50 v.H. Grundrente bezogen hatte und wegen weiterer (Nicht-Schädigungs )Leiden acht Jahre vor dem Tod mit einem GdB von 80 sowie fünf Jahre vor dem Tod mit einen GdB von 100 als Schwerbehinderter anerkannt worden war, ebenfalls im Alter von 65 Jahren verstorben; BSchA hatte er nie beantragt, auch nicht, als er nach Vollendung des 60. Lebensjahres unter Bezug von flexiblem Altersruhegeld aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war. Der 9 a Senat hielt – rückwirkend betrachtet – einen Anspruch auf BSchA nicht – jedenfalls nicht "offenkundig” – für gegeben, weil nicht glaubhaft (im Sinne von § 8 BSchA V) gemacht sei, daß der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen noch erwerbstätig gewesen sei. Wenn über das Bestehen von Nicht-Schädigungsleiden, die geeignet sein können, ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu veranlassen, eine Feststellung nach dem SchwbG getroffen worden sei, so könne in aller Regel nicht mehr glaubhaft gemacht werden, daß ohne die nach dem BVG anerkannten Schädigungsfolgen noch eine Erwerbstätigkeit fortgeführt worden wäre. Das BSG hat dies damit begründet, daß für das vorzeitige Ausscheiden unter Inanspruchnahme von Altersruhegeld nach dem Gesetz (gemeint ist § 1248 Abs. 1 RVO bzw. § 25 AVG in der seinerzeit maßgeblichen Fassung) das Motiv unerheblich sei. Dies müsse aber auch zu Lasten des Beschädigten (bzw. seiner Witwe) Berücksichtigung finden, weil bei einem Schwerbehinderten, der diesen Status auch ohne Schädigungsfolgen habe, nicht mehr glaubhaft zu machen sei, daß der Entschluß gerade durch die für das Versorgungsrecht maßgeblichen Schädigungsfolgen bestimmt worden sei. Jedenfalls könne ein Anspruch auf BSchA, der nie beantragt worden sei, in diesem Fall nicht als offenkundig behandelt werden (vgl. auch die Urteile des BSG vom 10. Februar 1993 – 9/9 a RV 4/92 – und vom 3. August 1994 – 9 RV 31/93 –).

Die letztere Argumentation hat sich auch das Sozialgericht zu eigen gemacht, und sowohl einen Anspruch des verstorbenen Ehemannes der Klägerin auf BSchA überhaupt als auch die "Offenkundigkeit” eines solchen Anspruchs ab Rentenbeginn verneint, weil beim verstorbenen Ehemann der Klägerin – lange nach der Anerkennung der Schädigungsleiden mit einer MdE von 60 v.H. im Jahre 1971 – andere, schwerwiegende Leiden aufgetreten seien (arterielle Verschlußkrankheit mit der Notwendigkeit zur zweimaligen Gefäßersatzoperation, koronare Herzkrankheit und Wirbelsäulenverschleiß), die für sich allein betrachtet bereits die Anerkennung als Schwerbehinderter nach dem SchwbG zur Folge hätten haben können und damit dem Beschädigten – unabhängig von der Anerkennung als Schwerbeschädigter – den frühzeitigen Rentenbezug ermöglicht hätten.

Dem vermag der erkennende Senat für das vorliegende Verfahren aus im wesentlichen zwei Gesichtspunkten nicht zu folgen.

Einmal besteht ein Wertungswiderspruch zur Rechtsprechung des 9. Senats des BSG zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG (a.F.). Das BSG hat jedenfalls seit 1989 mehrfach und in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß eine Beweiserleichterung in entsprechender Anwendung des § 8 BschAV zugunsten des Beschädigten eingreift, der vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidet und ein vorgezogenes Altersruhegeld (jetzt: "Rente”) in Anspruch nimmt (vgl. Urteil vom 4. Juli 1989 – 9 RV 16/88 – in SozR 2-3100 § 30 BVG Nr. 78 sowie Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 24/91 – und vom 10. Mai 1994 – 9 RV 14/93 – in SozR 3-3100 § 30 Nr. 10 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Danach hat der 9. Senat auch nach erneuter Überprüfung daran festgehalten, daß die Schädigungsfolgen schon dann für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und einen dadurch eingetretenen Einkommensverlust ursächlich sind, wenn sich der Beschädigte gleichzeitig zur Altersversorgung auf eine wesentlich durch Schädigungsfolgen bedingte Schwerbehinderung berufen muß. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt worden, daß es die Vorschriften des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung gerade nicht zuließen, nach der Art und der Verursachung der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu fragen, die zur Anerkennung des Status "Schwerbehinderter” fuhren und damit das Recht einräumen, früher "in Rente” zu gehen. Der erkennende Senat hält diese Argumentation für konsequent und überzeugend. Gerade auf der Rechtsfolgeseite des Versorgungsrechts muß in der Regel schon die Möglichkeit eines Kausalzusammenhangs ausreichen, wobei dann, wenn die Schädigungsfolgen auch (mit-)ursächlich für eine Anerkennung als Schwerbehinderter und/oder das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben sind, jede mitwirkende Ursache gleichermaßen als kausal angesehen werden muß. Bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG (früher: Satz 2), die vorbehaltlos auf die Regelung über den BSchA verweisen, können aber keine anderen Rechtsprinzipien Geltung beanspruchen, als bei der Prüfung der Voraussetzungen für den Anspruch auf BSchA.

Zur Überzeugung des Senats ist deshalb grundsätzlich – und auch als "offenkundig” – davon auszugehen, daß ein Schwerbeschädigter in aller Regel (auch wenn er zugleich wegen anderer schwerwiegender Leiden als Schwerbehinderter anzuerkennen ist und anerkannt wurde), wenn er bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres Rente beantragt, schädigungsbedingt (im Sinne der wesentlichen Mitursache) vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidet und dadurch auch – in aller Regel – einen ausgleichswürdigen und ausgleichspflichtigen Einkommensverlust erleidet. "Der vorgezogene Ruhestand für Schwerbeschädigte indiziert ein schädigungsbedingtes Ausscheiden” (BSG, Urteil vom 12. Dezember 1990 – 9 a/9 RV 20/89 – S. 6 des Umdrucks a.E.; vgl. auch BSG, Urteil vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 24/91 –). Etwas anderes gilt nur, wenn der Schwerbeschädigte auch ohne seine schädigungsbedingte Schwerbehinderung sozial gesichert – z.B. durch einen Anspruch auf Altersrente wegen Arbeitslosigkeit – vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden könnte und/oder ausgeschieden ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 10. Mai 1994 – 9 RV 29/93 – in SozR 3-3100 § 30 BVG Nr. 9 und Urteil des 4. Senats des Hess. LSG vom 4. August 1998 – L 4 V 378/98 – sowie Urteil des erkennenden Senats vom 26. Oktober 1985 – L 5 V 519/88 –). Soweit aber ein schädigungsbedingtes Ausscheiden "indiziert” ist, erleidet der Beschädigte auch einen schädigungsbedingten Einkommensverlust. Sein BSchA ist dann nach dem ungekürzten Durchschnittseinkommen der vorausgegangenen Berufstätigkeit (Vergleichseinkommen) zu bemessen (BSG, Urteil vom 4. Juli 1989 – 9 RV 16/88 – a.a.O. und Urteil vom 12. Dezember 1990 – 9 a/9 RV 20/89 –)und dies bis zur Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren – vorliegend also für mindestens fünf Jahre (vgl. § 8 BSchAV und indirekt, BSG, Urteil vom 4. Juli 1989 – 9 RV 16/88 – sowie BSG, Urteil vom 13. August 1997 – 9 RV 26/95 –).

Ein zweiter Gesichtspunkt kommt hinzu: Nach der neueren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 24. Juni 1998 – B 9 SB 17/97 R –) soll es nach SchwbG nicht mehr um die Feststellung von – mehreren – "Behinderungen” gehen, sondern nur um eine Behinderung (die sich durch verschiedene, festzustellende Gesundheitsstörungen "ergibt”), weshalb kein Rechtsschutzbedürfnis für die isolierte Feststellung einer einzelnen Gesundheitsstörung bestehen soll. Folgt man dieser Überlegung, dann wird es aus Rechtsgründen problematisch, zu gewichten, ob eher die Schädigungsleiden – mit der Schwerbeschädigteneigenschaft – oder die Nicht-Schädigungsleiden zur Schwerbehinderteneigenschaft führen und damit zur Inanspruchnahme von Vergünstigungen nach dem SchwbG sowie zur Berechtigung zum vorzeitigen Rentenbeginn. Die Umstellung des Schwerbehindertenrechts im Jahr 1974 vom "Kausal-” zum "Final”-prinzip würde geradewegs unterlaufen, wollte man nun beim Rentenrecht (und davon abgeleitet: Bei der Frage, ob die anerkannten Schädigungsfolgen zur Inanspruchnahme der "Statuspassage” "vorzeitige/s Altersruhegeld/-rente” berechtigen bzw. fuhren) gerade wieder nach Kausalitäten fragen.

Unter Berücksichtigung der Grundsätze, die der Senat der Rechtsprechung des 9/9 a Senates des BSG entnimmt, sind die beiden hier entscheidungserheblichen Fragen deshalb zu bejahen: (1.) Dem verstorbenen Beschädigten stand seit Rentenbeginn (ab 1. Januar 1985 – und damit für fünf Jahre –) ein Anspruch auf BSchA zu und dies war auch (2.) offenkundig, d.h. für jeden Kundigen anhand der Beschädigtenakte sogleich erkennbar.

Dem Beklagten war eine Abschrift des Deckblatts der Rentenbescheide übersandt worden, aus dem sich ergibt, daß es sich um ein flexibles Altersruhegeld für einen Schwerbehinderten gehandelt haben muß. Aus der Rentenhöhe (monatlich 1.660,60 DM bzw. 1.664,00 DM) war für einen "Kundigen” – d.h. also eine/n der qualifizierten Beschäftigten der Versorgungsverwaltung – ohne weiteres erkennbar, daß eine Versorgungslücke vorhanden sein mußte. Das allgemein bekannt gemachte Einkommen der Wirtschaftsgruppe und der Qualifikationsstufe, welcher der verstorbene Beschädigte seinerzeit zuletzt angehört hatte, betrug brutto im Monat 3.069,00 DM. Damit war offenkundig, daß ein Anspruch auf BSchA bestehen mußte, selbst dann, wenn der Beschädigte noch zusätzlich einen Anspruch auf eine Betriebsrente hätte geltend machen können, weil – wie ausgeführt – Renten der betrieblichen Altersversorgung der Arbeiter – was allgemeinkundig ist – nicht in der Höhe gezahlt werden, um eine Versorgungslücke von seinerzeit (damals noch ausschließlich nach dem – "Bruttoprinzip”) rund 1.440,00 DM auszugleichen.

Dies ist durch die Vorlage der Auskunft über den Anspruch auf Leistungen der betrieblichen Altersversorgung des letzten Arbeitgebers des Beschädigten auch lediglich bestätigt worden.

Zur Überzeugung des Senats ist jedenfalls der "Vermutungstatbestand” "fünf Jahre Anspruch auf BSchA” nach § 48 Abs. 1 Satz 6 BVG (früher: Satz 2) erfüllt, weshalb die Klägerin Anspruch auf Witwenbeihilfe hat. Die entgegenstehenden Bescheide und das Urteil des SG Frankfurt a.M. mußten deshalb aufgehoben werden. Der Beklagte war antragsgemäß – dem Grunde nach (§ 130 SGG) – zu verurteilen, der Klägerin Witwenbeihilfe ab dem 1. Januar 1991 zu gewähren.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision mußte gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG zugelassen werden, weil der Senat von der Entscheidung des BSG in einem vergleichbaren Fall abweicht und nach dem Sachverhalt keine hinreichenden Ansatzpunkte für eine Differenz zwischen der hier getroffenen Entscheidung und jener des BSG erkennbar sind.
Rechtskraft
Aus
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