Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2818/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 104/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1939 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.
Erstmals am 16. September 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, im Februar 1945 durch die Explosion von Kriegsmaterial das Augenlicht verloren zu haben. Er sei zu 100 % Invalide und deshalb als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 29. Januar 1991 als Schädigungsfolge:
"Blindheit (Verlust beider Augen), Narben an den Augenlidern”
an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulagestufe I und Pflegezulagestufe III ab 1. April 1991. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 29. März 1993 Widerspruch ein und trug vor, aufgrund des furchtbaren Krieges und der schweren wirtschaftlichen Lage in seinem Heimatland führe der Entzug der Rente zu einer unbegreiflichen Verarmung. Er sei aufgrund seiner Verletzungen ständig auf Pflege angewiesen und benötige deshalb dringend Geldzuwendungen. Durch Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen auch nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei den Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 5. November 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.
Mit Urteil vom 25. November 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen gleichgelagerte Formulierungen benutzt wurden. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 31. Januar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 6. Februar 1995 Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergäbe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden, denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchsbegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da das Einverständnis beider Beteiligten vorliegt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 25. November 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB V unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Von diesen Urteilen weicht der Senat auch im vorliegenden Fall nicht ab.
Entscheidend ist danach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Im ehemaligen Staat Jugoslawien wurden auch Versorgungsleistungen gewährt. An der materiellen Rechtslage (Entschädigungsgesetze für Zivilkriegsopfer) hat sich durch die Unabhängigkeit Kroatiens auch nichts geändert, denn die Kriegsopfergesetze waren bereits zu Zeiten des Bestehens der SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) Republikgesetze der (damaligen sozialistischen) Teilrepublik Kroatien, dies ist dem Senat aus einer Vielzahl von Fällen bekannt.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht auch im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägungen der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen benutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie vom Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger hat selbst vorgetragen, daß aufgrund der Kriegsereignisse und der wirtschaftlichen Lage in seinem Heimatland er dringend auf die Rente angewiesen war. Der Kläger hat ferner angegeben, daß er ständig auf fremde Pflege angewiesen ist. Der Senat sieht insbesondere auch in der Schädigungsfolge des Klägers selbst – die Erblindung – eine besondere Betroffenheit. Der Kläger hat auch insoweit dargetan, daß er als Blinder besonderer Hilfe bedarf. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der 1939 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.
Erstmals am 16. September 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, im Februar 1945 durch die Explosion von Kriegsmaterial das Augenlicht verloren zu haben. Er sei zu 100 % Invalide und deshalb als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 29. Januar 1991 als Schädigungsfolge:
"Blindheit (Verlust beider Augen), Narben an den Augenlidern”
an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulagestufe I und Pflegezulagestufe III ab 1. April 1991. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.
Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 29. März 1993 Widerspruch ein und trug vor, aufgrund des furchtbaren Krieges und der schweren wirtschaftlichen Lage in seinem Heimatland führe der Entzug der Rente zu einer unbegreiflichen Verarmung. Er sei aufgrund seiner Verletzungen ständig auf Pflege angewiesen und benötige deshalb dringend Geldzuwendungen. Durch Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen auch nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei den Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Am 5. November 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.
Mit Urteil vom 25. November 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des jeweiligen Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen gleichgelagerte Formulierungen benutzt wurden. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das am 31. Januar 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 6. Februar 1995 Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergäbe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden, denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchsbegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da das Einverständnis beider Beteiligten vorliegt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 und §§ 143, 144 SGG).
Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 25. November 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.
Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB V unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Von diesen Urteilen weicht der Senat auch im vorliegenden Fall nicht ab.
Entscheidend ist danach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Im ehemaligen Staat Jugoslawien wurden auch Versorgungsleistungen gewährt. An der materiellen Rechtslage (Entschädigungsgesetze für Zivilkriegsopfer) hat sich durch die Unabhängigkeit Kroatiens auch nichts geändert, denn die Kriegsopfergesetze waren bereits zu Zeiten des Bestehens der SFRJ (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) Republikgesetze der (damaligen sozialistischen) Teilrepublik Kroatien, dies ist dem Senat aus einer Vielzahl von Fällen bekannt.
Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht auch im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägungen der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen benutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie vom Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger hat selbst vorgetragen, daß aufgrund der Kriegsereignisse und der wirtschaftlichen Lage in seinem Heimatland er dringend auf die Rente angewiesen war. Der Kläger hat ferner angegeben, daß er ständig auf fremde Pflege angewiesen ist. Der Senat sieht insbesondere auch in der Schädigungsfolge des Klägers selbst – die Erblindung – eine besondere Betroffenheit. Der Kläger hat auch insoweit dargetan, daß er als Blinder besonderer Hilfe bedarf. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahingehend zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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