L 5 V 332/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 1389/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 332/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 1995 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1928 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien.

Erstmals am 20. Februar 1989 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 17. Januar 1944 durch die Explosion einer Handgranate an Auge und Hand schwer verletzt worden zu sein. Ein Auge sei amputiert worden und er sei erblindet. Ferner trug er vor, daß er zu 100 % Invalide und deshalb als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt sei. Er erhalte dementsprechende Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 8. Mai 1991 als Schädigungsfolgen

1) "Erblindung
2) Verlust der linken Hand und
3) entstellende Narbenbildung im Gesicht”

an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulage Stufe II und Pflegezulage Stufe III. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.

Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 23. März 1993, welches am 27. März 1993 bei dem Beklagten einging, Widerspruch ein und trug vor, jeder Fall hätte seiner Ansicht nach einzeln geprüft werden müssen. Ihm sei unverständlich, wieso aufgrund der gleichen Paragraphen ihm erst Rente bewilligt und dann wieder entzogen worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Mit Schreiben vom 13. November 1993 erhob der Kläger Klage gegen diesen Widerspruchsbescheid, der bei dem Beklagten am 20. November 1993 einging. Er trug vor, die Person, die für ihn die Korrespondenz erledige, sei im Krankenhaus gewesen, deshalb könne er erst jetzt sich gegen den Widerspruchsbescheid wenden.

Mit Bescheid vom 18. Januar 1994 lehnte der Beklagte eine Rücknahme der bindend gewordenen Bescheide ab.

Am 14. April 1994 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.

Mit Urteil vom 27. Januar 1995 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es die Klage für zulässig erachtet, da der Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 dem Kläger nicht formgerecht zugestellt worden sei, so daß die Klagefrist nicht hätte laufen können. Gemäß § 14 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) werde im Ausland mittels Ersuchen der zuständigen Behörde des fremden Staates oder der in diesem Staat befindlichen konsularischen oder diplomatischen Vertretung des Bundes zugestellt. Die Zustellung werde durch die Bescheinigung der ersuchten Behörde oder des ersuchten Beamten, daß zugestellt sei, nachgewiesen. Im vorliegenden Fall sei der Widerspruch dem Kläger jedoch durch die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Zagreb nur mit Einschreiben und Rückantwort übersandt worden. Da der Kläger jedoch kroatischer Staatsbürger sei, sei eine solche Zustellung unzulässig, vielmehr hätte die Rechtshilfe der kroatischen Behörden in Anspruch genommen werden müssen, wobei im Rahmen des förmlichen Ersuchens um Zustellung durch die kroatischen Behörden entsprechend den für die Rechtshilfe maßgeblichen Vorschriften der Bescheid in die kroatische Sprache hätte übersetzt gewesen sein müssen. Hinsichtlich der Begründetheit hat das Sozialgericht im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgemäßen Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht den individuellen Einzelfall des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.

Gegen das am 21. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergebe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem 2. Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.

Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. Januar 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger wiederholt im wesentlichen seinen Vortrag. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei. Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da beide Beteiligten sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 27. Januar 1995 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.

Zu Recht ist hier davon ausgegangen worden, daß die Klage zulässig war, denn eine ordnungsgemäße Zustellung des Widerspruchsbescheides hat nicht stattgefunden. Der Senat verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Sozialgerichtes (vgl. § 153 Abs. 2 SGG). Im übrigen hätte im vorliegenden Fall auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG gewährt werden können, da der Kläger glaubhaft vorgetragen hat, daß er verhindert war, rechtzeitig Klage zu erheben.

Bei dieser Sach- und Rechtslage ist der Bescheid des Beklagten vom 18. Januar 1994 im Sinne von § 44 SGB X gegenstandslos geworden.

Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2–4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95 –) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall. Entscheidend ist danach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (vgl. BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75 Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 – und 9 a RV 12/91 –, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92 –) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Gesetze zum Schutz und zur Versorgung ziviler Kriegsopfer waren bereits zu Zeiten des Bestehens der SFRJ (Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien) Republikgesetz der (damaligen sozialistischen) Teilrepublik Kroatien, wie dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist.

Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor, denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger lebte in einem Land, welches sich in einer wirtschaftlichen schlechten Lage infolge der Kriegsereignisse befindet. Der Senat sieht insbesondere in der Schädigungsfolge des Klägers eine besondere Betroffenheit. Der Kläger ist erblindet, seine linke Hand ist amputiert. Ferner liegt eine entstellende Narbenbildung im Gesicht vor. Er hat selbst dargetan, daß er als Blinder für eine Vielzahl von Verrichtungen auf fremde Hilfe angewiesen ist. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargetan hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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