L 5 V 339/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 918/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 339/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Dezember 1994 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1931 geborene Kläger lebt als deren Staatsbürger in der Republik Kroatien, der früheren Teilrepublik der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ). Er erlitt am 23. März 1945 als 14-jähriges Kind in dem Dorf D. M. (in der Nähe von S. und O.) schwerwiegende Verletzungen, wobei er ein Auge und das Augenlicht des anderen verlor und schwerhörig wurde. Der Kläger besuchte 1957/1958 eine Schule für Invalide und war danach trotz seiner Erblindung in der Holzindustrie tätig, bis er 1973 vorzeitig berentet wurde. In seinem Heimatstaat wurde er durch Bescheid vom 19. November 1968 als ziviles Kriegsopfer anerkannt.

Am 5. September 1989 stellte er erstmals Antrag auf Entschädigung nach dem BVG bei dem Versorgungsamt AF. und gab an, als Kind durch einen von der deutschen Wehrmacht hinterlassenen Sprengkörper verletzt worden zu sein. Der Kläger legte ärztliche Unterlagen sowie weitere amtliche Dokumente vor und wies auf seine schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse hin. Nach weiteren Ermittlungen erkannte das Versorgungsamt AF. durch Bescheid vom 12. November 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("1. Erblindung beider Augen, 2. Schwerhörigkeit”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm unter Hinweis auf § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG Versorgung bei einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 % als sogenannte "Kannleistung”; weiter wurde festgestellt, daß die Voraussetzungen zur Gewährung der Pflegezulage nach Stufe III und der Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe I erfüllt seien. Die Versorgungsbezüge wurden zuletzt durch Neufeststellungsbescheid vom 16. Juni 1992 entsprechend den Vorschriften des § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) i.V.m. dem 20. Kriegsopferversorgungs-Anpassungsgesetz (20. KOV-AnpG) erhöht; zuletzt erhielt der Kläger Versorgung in Höhe von insgesamt 821,– DM/Monat.

Ohne vorherige Anhörung des Klägers nahm das Versorgungsamt AF. durch Bescheid vom 11. Januar 1993 den dem Kläger Versorgung bewilligenden Bescheid vom 12. November 1991 sowie die späteren Neufeststellungsbescheide zurück. Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, es habe sich herausgestellt, daß die Bewilligung der Versorgungsleistungen von Anfang an rechtswidrig gewesen sei, weil nach § 7 Abs. 2 BVG die Zahlung von Leistungen an solche Kriegsopfer im Ausland ausgeschlossen sei, die vom eigenen Staat eine Versorgung wegen derselben Ursache erhielten. Die Rücknahme des Bewilligungsbescheides sei möglich, weil das öffentliche Interesse an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit des Bescheides die Interessen des Klägers überwiegen würde. Dabei sei zugunsten des Klägers berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung liege; hieraus ergebe sich jedoch nicht die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei seine persönliche Situation gewürdigt worden; die niedrige Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zu einer Ermessensausübung zu seinen Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben könnten.

Der Kläger erhob Widerspruch (Eingang am 25. März 1993) und berief sich unter anderem auch auf sein besonders schweres Schicksal als Blinder. Die Leistungen, die er aus Kroatien erhalte, seien lediglich ein Almosen; er habe sein ganzes Leben unter der Blindheit gelitten. Der Kläger bat darum, ihm, wenn die Rente nicht laufend weiter gezahlt werden könne, eine einmalige Abfindung zu bewilligen, damit er sich im Alter ein Altersheim leisten könne.

Den Widerspruch wies das beklagte Land durch Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 unter anderem mit der Begründung zurück, § 7 Abs. 2 BVG schließe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes die Gewährung einer Zivilkriegsopferrente an nicht deutsche Zivilopfer aus, die wegen desselben Sachverhaltes bereits eine Versorgung von ihrem Heimatstaat erhalten würden. Die Bewilligung von Versorgung nach dem BVG sei deshalb, wie sich nachträglich herausgestellt habe, von Anfang an rechtswidrig gewesen. Das Vertrauen des Klägers auf den falschen Bescheid rechtfertige jedoch nur den Verzicht auf die Rückzahlung bereits ausgezahlter Leistungen. Für die Zukunft überwiege das öffentliche Interesse an der Rechtmäßigkeit der Verwaltung und der Sparsamkeit der Haushaltsführung die Interessen des Klägers. Es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen habe abgesehen werden können. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände träfen aber bei Sozialleistungen vielfach zu und könnten bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen. Der Kläger habe durch die Fehleinschätzung der Verwaltung wenigstens für einen vorübergehenden Zeitraum einen zusätzlichen Ausgleich erhalten und behalten können.

Gegen den ihm unter Vermittlung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Zagreb als Einschreiben mit Rückschein am 24. Februar 1994 zugeleiteten Widerspruchsbescheid hat der Kläger am 21. März 1994 (Eingang) Klage beim Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben. Der Kläger hat unter anderem geltend gemacht, daß er infolge seiner Erblindung in der Kindheit nicht früher einen Antrag auf Entschädigung in Deutschland habe stellen können. Der "Kriegsvorfall” habe sein ganzes Leben kaputt gemacht und was er aus Kroatien bekomme, sei keine Rente, sondern ein Almosen, das etwa 30,– DM bis 40,– DM im Monat betrage. Er habe sein Lebtag gelitten, sei immer ein Mensch dritter Klasse gewesen und jetzt, wo er mit der Behindertenrente aus Deutschland anständig habe leben können, sei sie ihm wieder entzogen worden.

Durch Urteil vom 16. Dezember 1994 hat das Sozialgericht Frankfurt am Main den Bescheid des Versorgungsamtes AF. vom 11. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 3. Februar 1994 aufgehoben und zur Begründung unter anderem ausgeführt, das beklagte Land habe von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht. Es könne daher dahinstehen, ob der ursprüngliche Bewilligungsbescheid überhaupt noch rechtswidrig war, als der Rücknahmebescheid erging, insbesondere auch, ob der Kläger noch eine Rente als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland weiter bezog. Es könne auch dahingestellt bleiben, ob das Vertrauen des Klägers auf den zukünftigen Bestand des Bewilligungsbescheides geschützt war, wie auch dahingestellt bleiben könne, ob das beklagte Land gemäß § 24 SGB X zur vorherigen Anhörung des Klägers verpflichtet war und ob diese Anhörung im Widerspruchsverfahren wirksam nachgeholt worden sei. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien jedenfalls deshalb rechtswidrig, weil gemäß § 39 Abs. 1 des ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB I) Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung hätte ausgeübt werden müssen; auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens habe der Kläger einen Rechtsanspruch. Hinsichtlich des Rücknahmebescheides sei schon offenkundig, daß Ermessen nicht ausgeübt worden sei, weil der Kläger vor Erlaß dieses Bescheides nicht angehört worden war und das beklagte Land deshalb mangels aktueller Kenntnisse der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Auch die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheides seien unzulänglich. Die gewählten Formulierungen, die nach Kenntnis des Sozialgerichtes aus ca. 100 Streitverfahren in den insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren wortgleich verwendet worden seien, stellten Leerformeln dar, die für eine individuelle Ermessensprüfung nicht ausreichend seien.

Gegen das ihm gegen Empfangsbekenntnis am 20. März 1995 zugestellte Urteil hat das beklagte Land die am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung eingelegt. Das beklagte Land macht geltend, daß nach der Rechtsprechung des 9. Senates des Bundessozialgerichtes (BSG – 9/9 a Senat –) in Fällen wie dem vorliegenden die Ausübung von Ermessen nicht erforderlich sei. Dies habe das Sozialgericht verkannt und sei insoweit offenkundig von der Rechtsprechung des für die Kriegsopferversorgung zuständigen Senates des BSG abgewichen. Auch außerhalb des Kriegsopferversorgungsrechtes seien in der Rechtsprechung des BSG Beispiele bekannt, wo von einem reduzierten Ermessensspielraum ausgegangen werde. Soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, sei übersehen worden, daß bereits aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides hervorgehe, welche Ermessenserwägungen angestellt worden waren. Sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen des Klägers seien in die Überlegungen einbezogen worden. Deshalb seien Ermittlungen zum aktuellen Einkommen nicht erforderlich gewesen, weil zugunsten des Klägers dessen schwierige persönliche Verhältnisse – Lebensalter, Behinderungen, geringes Einkommen – als wahr unterstellt worden seien. Soweit sich das Sozialgericht an den gleichlautenden Texten störe, sei darauf hinzuweisen, daß die Formulierung mit Hilfe moderner technischer Hilfsmittel (Schreibcomputer, Textbausteine) erstellt worden sei, was kein Grund sein könne, dem beklagten Land fehlende Überlegungen vorzuwerfen. Auch soweit das Sozialgericht bemängelt habe, daß die Auswirkungen des derzeit in dem ehemaligen Jugoslawien herrschenden Bürgerkrieges nicht berücksichtigt worden seien, könne dem nicht gefolgt werden. Durch die gegenwärtigen Kriegsereignisse im früheren Jugoslawien sei der Kläger nicht mehr betroffen, als andere; die Leistungen nach dem BVG hätten lediglich zur Folge, daß er ein zusätzliches Einkommen erhalten habe, wodurch er besser als andere gestellt gewesen sei.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Dezember 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält. Ergänzend verweist er darauf, daß er nicht ohne Hilfe auskommen könne und es für ihn jetzt während des Krieges in seinem Heimatland schwierig sei, diese Hilfe zu erhalten. Ergänzend hat er ausgeführt: "Ich weiß, daß es viele Kriegsgeschädigte gibt, aber sehr selten gibt es so krasse Fälle wie meiner. Ich bin von Kindheit blind und das ist eine Kriegsfolge und die sollte man mir wenigstens mit einer kleinen Leistung abgelten. Niemand kann mir mein Augenlicht und meine verlorene Jugend zurückgeben, aber mit Geld kann man doch manches lindern.”

Das beklagte Land und der Kläger haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakten sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten (Beschädigtenakten des Versorgungsamtes AF., Archiv-Nummer XXXXX), die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Beratungen waren.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil beide Beteiligte hierzu ihr Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG).

Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt worden sowie an sich statthaft (§ 151 i.V.m. §§ 143 ff. SGG).

Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Das Sozialgericht Frankfurt am Main hat durch Urteil vom 16. Dezember 1994 den Bescheid des Beklagten vom 10. Januar 1993 und den Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 zu Recht aufgehoben, weil beide Bescheide rechtswidrig sind und den Kläger beschweren; das Land hat von der ihm obliegenden Pflicht zur sachgerechten Ermessensausübung nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Nach § 45 Abs. 1 SGB X nämlich "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den dort genannten weiteren Voraussetzungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Aus dieser Formulierung ergibt sich, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III.7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgebliche, Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3-1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –).

Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf "Null” eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – = BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben, und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-124/94 – und – L-5/V-343/95 –).

Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).

Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die sorgfältige und differenzierte Ermittlungen erforderlich und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in Kroatien, einem Teil der ehemaligen SFRJ, in dem Krieg herrschte, bei dem es zu teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien kam. Er hat geltend gemacht, daß seine wirtschaftliche Existenz von Leistungen nach dem BVG – auch wenn sie rechtswidrig bewilligt sein sollten – abhänge und aufs äußerste gespannt und bedroht war. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen zu fordern, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß der vollständige Entzug der seit Erlaß des Bescheides im November 1991 bewilligten Leistung für ihn eine besondere Härte bedeuten würde und zur Verarmung des Klägers sowie zu Versorgungsschwierigkeiten für seine Familie führen müßte. Auch hat der Beklagte den Gesundheitszustand des Klägers und seine besonders schwierige Lage als Blinder nicht gesondert und besonders berücksichtigt, obwohl der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen hat. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtegesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar, Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Härtegesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III/7.). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfallentscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der in den Teilstaaten der ehemaligen SFRJ, in denen Krieg herrschte, lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat sich ausdrücklich darauf berufen, daß er zur Sicherung des Lebensunterhaltes für sich und seine Familie auf die seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 zufließenden Versorgungsleistungen angewiesen ist. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der bereits im Kindesalter erlittenen Verletzung und Erblindung einen Beruf erlernt und bis 1973 ausgeübt hat, nunmehr in große Not geraten könnte. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahinstehen lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung des Bescheides und des Widerspruchsbescheides mit aufgenommen hat.

Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Härtegesichtspunkte kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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