L 5 V 343/95

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 1274/94
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 343/95
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 16. Dezember 1994 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1935 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Republik Kroatien. Erstmals am 24. Februar 1989 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 25. März 1944 beim Viehhüten eine Handgranate gefunden zu haben, die beim Spielen dann explodiert sei. Aufgrund dieser Explosion habe er Verletzungen erlitten und das linke Auge verloren. Aufgrund dieses schädigenden Ereignisses sei er in seinem Heimatland Bosnien-Herzegowina als ziviles Kriegsopfer anerkannt und erhalte entsprechende Invalidenrente. Er legte u.a. einen Bescheid des Gemeindeausschusses S. vom 7. Januar 1977 vor, woraus sich ergibt, daß der Kläger zu 70 % körperlich infolge der Verletzung beschädigt ist.

Mit Bescheid vom 27. November 1991 erkannte der Beklagte als Schädigungsfolge "Verlust des linken Auges” an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v.H. ab 1. Februar 1992. Zur Begründung führte er u.a. aus, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß §§ 64 e Abs. 1 bzw. 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.

Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.

Mit Schreiben vom 3. Oktober 1992 hatte der Kläger bereits um zusätzliche finanzielle Unterstützung gebeten, da die wirtschaftliche Lage in seiner Heimat sich erheblich verschlechtert habe. Mit Schreiben vom 1. April 1993 wiederholte der Kläger diese Bitte und mit weiterem Schreiben vom 21. Juni 1993 (eingegangen beim Versorgungsamt Fulda am 2. Juli 1993) erhob der Kläger Widerspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 und trug vor, daß er keinen Versorgungsanspruch gegen einen anderen Staat wegen der gleichen Schädigung habe. Er stamme aus Bosnien-Herzegowina und die Anschrift in Kroatien sei nur für die Post bestimmt. Die einzigen Einkünfte, über die er verfügt habe, seien die Versorgungsbezüge aus Deutschland gewesen. Durch Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1994 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand träfe bei den Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Am 13. April 1994 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen. Er hat wiederholt, daß er völlig mittellos sei und keinen Anspruch auf Versorgungsleistungen als ziviles Kriegsopfer mehr habe.

Mit Urteil vom 16. Dezember 1994 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von dem ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgemäßen Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt worden sei. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach dem Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.

Gegen das am 20. bzw. 21. März 1995 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 30. März 1995 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergäbe sich aus dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegungen miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Frankfurt am Main vom 16. Dezember 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Ansicht.

Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 24. September 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt. Ferner hat der Senat bei dem Institut für Ostrecht München e.V. ein Rechtsgutachten über die Rechtslage in Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina eingeholt. Bezüglich des Inhaltes dieses Gutachtens vom 7. Februar 1997 wird auf Bl. 78 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ebenso auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte trotz Ausbleibens des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, weil der Kläger ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden war, daß auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 16. Dezember 1994 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Februar 1994 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.

Die Rücknahme eines rechtwidrig begünstigten Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hess. Landessozialgericht, Urteil vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren eingeführt. Der Senat nimmt voll inhaltlich hierauf Bezug.

Entscheidend ist hiernach, daß die Bewilligung von Versorgungsleistungen allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91, zuletzt: Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92 –) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch, unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer seinerzeit in der früheren (Sozialistischen) Republik Bosnien-Herzegowina auch anerkannt worden. Nach der Auflösung der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) ist nunmehr fraglich geworden, ob noch eine Doppelversorgung bei dem Kläger vorliegt. Nach dem Rechtsgutachten vom 7. Februar 1997 des Instituts für Ostrecht e.V., München, hat ein aus Bosnien und Herzegowina stammender Kriegsflüchtling in Kroatien einen Anspruch auf Rente als Zivilkriegsopfer nur, wenn er kroatischer Staatsangehöriger ist und er die entsprechende körperliche Beschädigung in Kroatien erlitten hat oder wenn er nach den vorangehenden Kriegsopferentschädigungsgesetzen der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Kroatien (nicht nach einem Gesetz einer anderen ehemaligen Teilrepublik der früheren SFRJ) bereits als Zivilkriegsopfer anerkannt wurde. Im vorliegenden Fall kann die Frage der Doppelversorgung aber dahinstehen, denn jedenfalls liegt ein Ermessensfehler vor, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es liegt eine sog. Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger hat selbst vorgetragen, daß er in schweren wirtschaftlichen Verhältnissen lebe und völlig mittellos sei. Der Kläger lebt bzw. lebte in einem Kriegsgebiet. Insbesondere in den Jahren 1992 und 1993, d.h. im Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung durch den Beklagten, ereigneten sich die Kriegshandlungen. Der Kläger selbst hat vorgetragen, daß er dringend auf fremde Hilfe angewiesen sei. Der Beklagte hat dies in seinen Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt.

Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung der Bescheide dargelegt hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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