L 5 V 964/96

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 12 V 805/96
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 964/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. Juli 1996 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1930 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in Kroatien.

Erstmals am 8. August 1988 beantragte er bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung und trug vor, am 28. Juli 1944 durch liegengebliebenes Kriegsmaterial schwer verletzt worden zu sein. Er sei erblindet, habe Verletzungen an der Hand und zahlreiche Narben davongetragen. Ferner trug er vor, daß er als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt sei und dementsprechend Invalidenrente erhalte. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 30. Januar 1991 als Schädigungsfolgen

1) "Erblindung des rechten Auges, Verlust des linken Auges,
2) Verlust des rechten Armes im Unterarm”

an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulage Stufe II und Pflegezulage Stufe II ab 1. August 1988. Zur Begründung führt er unter anderem aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.

Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 27. Februar 1993 Widerspruch ein und trug vor, daß die Entziehung der Versorgungsleistungen rechtswidrig sei. Seiner Ansicht nach sollte insbesondere die Verpflichtung, minderjährige zivile Kriegsopfer zu schützen und zu versorgen, beachtet werden. Durch Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in den jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Am 15. Juli 1995 ging ein Schreiben des Klägers vom 10. Juli 1995 ein, worin er die Rücknahme des Aufhebungsbescheides begehrte. Mit Bescheid vom 7. August 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1996 lehnte der Beklagte die Rücknahme der bindend gewordenen Bescheide vom 11. Januar 1993 und 26. Juli 1993 ab.

Am 28. Februar 1996 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. Juli 1996 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 7. August 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1996 aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufzuheben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, daß eine Aufhebung nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) hätte erfolgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgerechten Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleichen Formulierungen benutzt worden seien. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rückforderung eingeleitet und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Die Bescheide und die Rücknahmebescheide seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.

Gegen den am 17. Juli 1996 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 24. Juli 1996 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Auch der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergebe sich aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung miteinbezogen worden seien. Schließlich könnten die derzeitigen Auswirkungen des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden. Denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.

Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. Juli 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchsbegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.

Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 21. Oktober 1996 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da beide Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Gerichtsbescheid vom 15. Juli 1996 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1993 und den Bescheid vom 7. August 1995 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1996 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, aufzuheben, soweit sich ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist. Diese Voraussetzungen liegen vor, die Entziehung der Versorgungsleistungen war rechtswidrig.

Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und L-5/V-345/95) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren eingeführt. Der Senat nimmt vollinhaltlich hierauf Bezug.

Entscheidend ist hiernach, daß die Bewilligung der Versorgungsleistung allein in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 9 a RV 12/91, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer anerkannt. Auch der ehemalige Staat Jugoslawien gewährte Versorgungsleistungen. An der materiellen Rechtslage (Kriegsopferentschädigungsgesetz) hat sich durch die Unabhängigkeit Kroatiens nichts geändert, denn die Kriegsopfergesetze waren bereits zu Zeiten des Bestehens der SFRJ (Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens) Republikgesetz zur damaligen jugoslawischen Teilrepublik Kroatien.

Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler vorliegt, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall auch keinen Regelfall, der jegliche Ermessenserwägung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt die notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen genutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal berücksichtigt, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls gewürdigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie von dem Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Kläger selbst hat vorgetragen, daß seine individuellen Zustände nicht richtig von dem Beklagten eingeschätzt worden seien. Er habe als Erblindeter in einem Land, das vom Krieg betroffen sei, gelebt und dadurch besondere Schwierigkeiten ertragen müssen. Hinzu komme seine persönliche und materielle Lage, die besonders schwierig sei, da seine Ehefrau 1995 verstorben sei und er jetzt aufgrund seiner Erblindung auf fremde Hilfe insbesondere im täglichen Leben angewiesen sei. Der Senat sieht, wie bereits in vergleichbaren Fällen, in den Schädigungsfolgen des Klägers selbst, und zwar die Erblindung und den Verlust einer Hand, eine besondere Betroffenheit. Der Beklagte hat von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch gemacht, denn er hat keine individuelle Ermessensprüfung vorgenommen. Die Umstände dieses Falles waren auch dazu geeignet, eine Ermessenentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiterzuzahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht die individuelle Begründung der Bescheide dargetan hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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