L 5 V 1476/96

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2869/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1476/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 19. November 1996 wird zurückgewiesen.

II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der 1927 geborene Kläger hat als ausländischer Staatsangehöriger seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien).

Erstmals am 1. März 1989 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Versorgungsleistung und trug vor, am 7. Oktober 1942 durch die Explosion einer Bombe das Augenlicht auf beiden Augen verloren und sich Verletzungen an den Fingern zugezogen zu haben. Er sei zu 100 % Invalide und deshalb als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatland anerkannt. Er erhalte dementsprechende Invalidenrente. Nach weiteren Ermittlungen erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 7. Mai 1991 als Schädigungsfolgen

"Erblindung des rechten Auges. Verlust des linken Auges. Teilverlust der Finger 1 bis 3 rechts”

an und gewährte Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. nebst Schwerbeschädigtenzulage Stufe I und Pflegezulage Stufe III ab März 1989. Zur Begründung führte er unter anderem aus, daß die Leistung als sogenannte "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG bewilligt werde.

Diesen Bescheid nahm der Beklagte ohne vorherige Anhörung des Klägers mit Aufhebungsbescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung ab 1. Februar 1993 zurück und führte zur Begründung aus, daß der Bewilligungsbescheid rechtswidrig sei, da eine Doppelversorgung gemäß § 7 Abs. 2 BVG unzulässig sei. Der Kläger erhalte bereits Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat und habe deshalb keinen weiteren Anspruch nach dem BVG. Die Aufhebung sei im öffentlichen Interesse geboten. Zugunsten der Interessen des Klägers sei bereits berücksichtigt worden, daß der Grund des Zustandekommens des rechtswidrigen Bescheides allein in der Verantwortung der Deutschen Verwaltung liege. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei die persönliche Lage des Klägers berücksichtigt worden. Die Höhe der Versorgung des Heimatstaates könne nicht zu Gunsten des Klägers berücksichtigt werden, da auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß hätten.

Hiergegen legte der Kläger am 17. März 1993 Widerspruch ein und trug vor, daß die Entziehung der Versorgungsleistung seiner Ansicht nach rechtswidrig sei. Sein Vertrauen sei mißachtet worden, denn er habe alle Angaben richtig und vollständig gemacht und nunmehr könne ihm nicht die Rente entzogen werden. Mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Da den Kläger kein Verschulden an der Rechtswidrigkeit des Bescheides treffe, brauche er die gezahlten Leistungen nicht zurückzuerstatten. Für die Zukunft überwiege jedoch das öffentliche Interesse. Es sei bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Dieser Umstand treffe bei den Sozialleistungen vielfach zu und könne bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgeführt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.

Am 10. November 1993 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt am Main erhoben und vorgetragen, daß ihm der Widerspruchsbescheid durch die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad am 9. Oktober 1993 zugestellt worden sei. Er hat die Ansicht vertreten, daß die Entziehung von Versorgungsleistungen rechtswidrig sei und deshalb nicht hätte erfolgen dürfen.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. November 1996 hat das Sozialgericht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es im wesentlichen ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) er folgen können. Entscheidend sei, daß der Beklagte von dem ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Anwendung sachgemäßen Ermessens keinen Gebrauch gemacht habe. Der Beklagte habe seine Entscheidung nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Vielmehr weise die Formulierung darauf hin, daß der Beklagte bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des vorliegenden Falles im Auge gehabt habe, sondern solche Aspekte, die für sämtliche Fälle der Gewährung von Versorgungsleistung an zivile Kriegsopfer im ehemaligen Jugoslawien zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit werde insbesondere dadurch deutlich, daß in einer Vielzahl von Fällen die gleiche Formulierung benutzt wurde. Es sei gerichtsbekannt, daß der Beklagte nach Bekanntwerden der Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme eingeleitet habe und in ca. 300 gleichgelagerten Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.

Gegen den am 19. November 1996 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 29. November 1996 beim Hessischen Landessozialgericht Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall kein Ermessen auszuüben sei. Dies habe der 9/9 a Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung festgestellt. Der vorliegende Fall sei ein klassischer Regelfall. Außerdem ergebe sich aus dem Text des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides, daß sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen in die Überlegung mit einbezogen worden seien. Schließlich könne die Bürgerkriegslage im ehemaligen Jugoslawien nicht berücksichtigt werden, denn für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg entbrannt sei, sei die Bundesrepublik Deutschland nicht verantwortlich.

Der Beklagte beantragt (sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 15. November 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger wiederholt im wesentlichen seine Widerspruchs- und Klagebegründung. Er ist der Ansicht, daß er weiterhin Anspruch auf Versorgungsleistungen habe und die Entziehung rechtswidrig sei.

Der Senat hat mit gerichtlichem Schreiben vom 23. Januar 1997 die Urteile des Senates vom 14. Dezember 1995 (L-5/V-345/95 und L-5/V-1221/94) in vergleichbaren Fällen in das Verfahren eingeführt.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, da das Einverständnis beider Beteiligten für diese Vorgehensweise vorlag (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§ 151 Abs. 1 i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die Berufung ist jedoch sachlich unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Gerichtsbescheid vom 15. November 1996 den Bescheid vom 11. Januar 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juli 1993 aufgehoben, denn diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig.

Die Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsaktes gemäß § 45 Abs. 1 SGB X unterliegt bestimmten Voraussetzungen und Einschränkungen (§ 45 Abs. 2 bis 4 SGB X). Der Senat hat bereits in mehreren gleichgelagerten Fällen (vgl. u.a. Hessisches Landessozialgericht, Urteile vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 – und – L-5/V-345/95 –) entschieden, daß die Rücknahmebescheide rechtswidrig sind. Diese Urteile sind bereits in das Verfahren eingeführt. Der Senat nimmt vollinhaltlich darauf Bezug.

Entscheidend ist hiernach, daß die Entscheidung der Bewilligung von Versorgungsleistungen alleine in den Verantwortungsbereich der Versorgungsverwaltung fällt. Eine Doppelversorgung ist gemäß § 7 Abs. 2 BVG grundsätzlich ausgeschlossen. Das Bundessozialgericht hat in ständiger Rechtsprechung (BSG, Urteil vom 25. November 1976 – 8 RV 188/75 –, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 – und – 9 a RV 12/91 –, zuletzt Urteil vom 10. August 1993 – 9/9 a RV 39/92 –) entschieden, daß Kriegsopfer, die von ihrem Heimatstaat Versorgungsleistungen erhalten, keinen weiteren Anspruch nach dem BVG haben. Entscheidend ist grundsätzlich nur der Anspruch. Unerheblich ist, ob und inwieweit die Geldleistung letztlich erbracht wird. Der Kläger ist als ziviles Kriegsopfer in seinem Heimatstaat anerkannt und gehört damit einem anderen Versorgungssystem bereits an.

Entscheidend ist ferner auch im vorliegenden Fall, daß ein Ermessensfehler gegeben ist, so daß die angefochtenen Entscheidungen rechtswidrig sind (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Der Senat sieht im vorliegenden Fall keinen Regelfall, der jegliche Ermessensentscheidung der Verwaltung verzichtbar macht. Vielmehr fehlt eine notwendige pflichtgemäße Ermessensentscheidung. Es liegt eine sogenannte Ermessensunterschreitung vor. Denn es wurden dieselben Formulierungen für eine Vielzahl von Fällen benutzt und damit die Verhältnisse nur pauschal, aber nicht alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt. Auch im vorliegenden Fall waren weitere Umstände bekannt, jedenfalls hätten sie vom Beklagten ermittelt werden können und müssen. Der Senat sieht, wie in vergleichbaren Fällen, insbesondere in der Schädigung des Klägers selbst – die Erblindung – eine besondere Betroffenheit. Aufgrund dieser schweren Schädigungsfolge ist ein erhöhter finanzieller Bedarf immer gegeben. Im übrigen waren die Umstände dieses Falles auch dazu geeignet, eine Ermessensentscheidung dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiterzuzahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Ganz unabhängig davon, ob eine solche Entscheidung tatsächlich hätte ergehen können und dürfen, hat der Beklagte auf jeden Fall schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er die Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in der Begründung des Bescheides dargetan hat. Die Berufung war deshalb – wie bereits in vergleichbaren Fällen – zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
Rechtskraft
Aus
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