Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 11 V 2101/93
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1163/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1939 geborene Kläger hat als Staatsbürger der Republik Kroatien seinen Wohnsitz in diesem Staat. Er beantragte erstmals am 22. Mai 1988 beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung und gab an, als noch nicht sechsjähriges Kind während des Zweiten Weltkrieges in seiner Heimat schwer geschädigt worden zu sein. Er habe im April 1945 in M. beim Spielen den Teil einer Granate gefunden, der, während er ihn mit beiden Händen hielt, explodiert sei. Er habe den Daumen der rechten Hand sowie Daumen und Zeigefinger der linken Hand, die amputiert werden mußten, sowie das rechte Auge verloren. Wegen dieser Schädigung sei er seit 1977 in Kroatien als ziviles Kriegsopfer anerkannt und beziehe Rente. Der Kläger legte ärztliche Unterlagen sowie Bescheide und auch einen Zahlungsbeleg aus dem Jahre 1989 über seine Rente als ziviles Kriegsopfer bei. Nach weiteren Ermittlungen erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 23. Mai 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("1. Verlust beider Daumen und des linken Zeigefingers; 2. Verlust des rechten Auges”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 80 v.H. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.
Diesen Bescheid nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Bescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück. Zur Begründung führte es aus, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen derselben Ursache einen Anspruch auf Zivil-Invalidenrente gegenüber seinem Heimatstaat habe. Gemäß § 7 Abs. 2 BVG aber sei eine solche Doppelversorgung ausgeschlossen. Da diese gesetzliche Bestimmung bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, sei dieser Bescheid rechtswidrig gewesen. Seine Rücknahme setze zwar voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten. Es sei zugunsten der Interessen des Klägers berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides zwar allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung liege. Dies allein führe jedoch nicht zur Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden; die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne aber nicht zu einer Ausübung des Ermessens zu seinen Gunsten führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten. Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid am 23. April 1993 (Eingang beim Versorgungsamt Fulda) Widerspruch und machte u.a. geltend, er habe von der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) keine Versorgung als Kriegsopfer bekommen, sondern nur eine Rente wegen seiner Arbeitsunfähigkeit als allgemein anerkannter Invalide. Nach dem BVG sei deshalb ein Anspruch auf Versorgung nicht ausgeschlossen. Der Kläger hat angeboten, die hierfür erforderlichen Nachweise der kroatischen Behörden nachzusenden. Weiter hat der Kläger vorgetragen, er könne nicht akzeptieren, daß sich aus einem eventuellen Fehler der deutschen Behörden für ihn nachteilige Folgen ergeben würden. Der Kläger hat schließlich geltend gemacht, sein Gesundheitszustand habe sich verschlimmert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte u.a. aus, es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistung abgesehen werden könne. Es sei zwar bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden jedoch bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen den am 23. Juli 1993 mit einfachem Brief abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger die am 27. August 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage erhoben. Er hat die Auffassung vertreten, daß ihn keine Schuld an dem möglichen Fehler beim Erlaß des Bescheides durch die deutsche Verwaltung treffe. Er sei in frühen Jahren durch Waffen, die als Folge des Zweiten Weltkrieges im damaligen Jugoslawien verblieben waren, geschädigt worden und lebe in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Aus diesen Gründen hat er beantragt, die Versorgungsleistung ohne Unterbrechung weiter zu erbringen.
Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es unter anderem ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Insoweit könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig gewesen sei und auch, ob der Aufhebungsbescheid schon allein deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses, in die Rechte des Klägers eingreifenden Verwaltungsaktes, keine Anhörung erfolgt sei. Der Beklagte habe jedenfalls von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens in fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheids sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Entsprechendes gelte auch für die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheids. Die dort verwendeten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des konkreten Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte gewürdigt habe, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit in den Ausführungen zum Ermessen zeige sich auch deutlich an der Verwaltungspraxis des beklagten Landes in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme bereits erteilter Bewilligungsbescheide eingeleitet habe und dabei in ca. 300 Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Dieser Schluß lasse sich aufgrund des dem Gericht bekannten Akteninhalts von ca. 100 vergleichbaren Streitsachen ziehen. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsverfahrens keine Anhörung durchgeführt habe, lasse sich auch schließen, daß er nicht die Absicht gehabt habe, eine individuelle Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das ihm am 25. November 1993 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 5. Dezember 1994 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Er vertritt die Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe. Dies sei vom 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden worden. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden) auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im vorliegenden Rechtsstreit handele es sich um einen klassischen Regelfall.
Es hätte deshalb keinerlei Ermessen ausgeübt werden müssen. Soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, sei dies nicht zutreffend. Aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides ergebe sich etwas anderes. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen des Klägers in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierige persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen als bekannt vorausgesetzt und zu seinen Gunsten unterstellt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Auswirkungen des Bürgerkrieges in den Teilrepubliken des früheren Jugoslawien nicht geprüft und entsprechend berücksichtigt habe, könne ihm nicht gefolgt werden. Im vorliegenden Streitfall gehe es um die Spätauswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert später entbrannt sei, könne die Bundesrepublik Deutschland keine Verantwortung übernehmen. Bei der Ausübung des ihr obliegenden Ermessens hätte dieser Umstand deshalb nicht zu einem Verzicht auf die Rücknahme des Bewilligungsbescheides führen können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält, und macht zur Begründung u.a. noch geltend, daß bei ihm erstmals 32 Jahre nach der Verwundung im Jahre 1977 durch den Heimatstaat Invalidität anerkannt worden sei und ihm erst durch den Bescheid aus Fulda vom Mai 1991 eine lebenslange Versorgung zugesichert worden sei. Im übrigen bezieht er sich auf sein Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte Bezug genommen (Archiv-Nr. ), die dem Senat vorlagen und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl weder der Kläger noch sein Prozeßbevollmächtigter im Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen waren. Denn mit der Ladung war darauf hingewiesen worden, daß auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 7. Oktober 1994 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1993 aufgehoben. Diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und beschweren den Kläger.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2–4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 von § 45 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Satz 3 von Abs. 2 § 45 SGB X).
Der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 23. Mai 1991 war rechtswidrig, weil der Kläger gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezogen hat und bezieht. Die Ausführungen des Klägers, er habe in seinem Heimatstaat keine Rente wegen der (zivilen) Kriegsbeschädigung zugebilligt bekommen, sind durch die von ihm selbst vorgelegten Unterlagen widerlegt. Eine solche Doppelversorgung ist nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, keine Versorgungsleistungen nach dem BVG (auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit) gewährt werden dürfen. Dies hat das BSG zunächst für Kriegsopfer mit Heimatland Frankreich festgestellt, die dort ähnliche Versorgungsleistungen erhielten, wie sie das BVG vorsieht (BSG Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75 = SozR 2-3100 § 7 BVG Nr. 2). In mehreren weiteren Urteilen hat das BSG sodann entschieden, daß ein solcher Ausschluß von Leistungen nach dem BVG auch dann zu gelten habe, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91 – = SozR 3-3100 § 7 BVG Nrn. 1 und 2). Letzteren Entscheidungen lagen solche Fälle zugrunde, bei denen, wie hier, die Kläger Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer in einem Teilstaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) erhielten (vgl. insbesondere BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ nach dem Recht der nunmehr selbständigen Teilrepubliken – wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist – grundsätzlich Anspruch auf eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Jedenfalls die Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina haben insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen bzw. die Rechtsregeln aus der Zeit des Bestehens der SFRJ übernommen oder in neues Recht umgestaltet. Unerheblich ist dabei, ob diese Nachfolgestaaten der SFRJ – sowohl während des im früheren Jugoslawien tobenden Bürgerkrieges als auch jetzt nach dessen Ende – tatsächlich die Geldleistungen erbringen, auf die ihre Bürger Anspruch haben. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es hierauf auch nicht an (vgl. BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Ausreichend ist vielmehr, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben. Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren selbst noch einen Zahlungsbeleg über eine Rente als ziviles Kriegsopfer – neben den Anerkennungsbescheiden aus dem Jahre 1977 bzw. 1978 – vorgelegt, wonach feststeht, daß er auch zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides des Versorgungsamtes Fulda vom 23.05.1991 noch eine Rente seines Heimatstaates erhielt. Da demnach eine Doppelversorgung hätte ausgeschlossen werden müssen, war der Bescheid des Versorgungsamtes vom 23. Mai 1991 rechtswidrig, weshalb der Beklagte grundsätzlich verpflichtet war, ein Verfahren zur Rücknahme dieses Bescheides nach § 45 SGB X einzuleiten.
Der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 23. April 1993 sind nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor Erlaß des ersten Bescheides keine Anhörung erfolgt ist. Zwar ist nach § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von dieser Notwendigkeit der vorherigen Anhörung konnte der Beklagte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X absehen, weil insbesondere kein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliegt, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn "gleichartige Verwaltungsakte größerer Zahl” zu erlassen sind. Der Beklagte hat zwar, wie er selbst vorträgt, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rücknahmebescheide erlassen. Gleichwohl liegen keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vor, weil die Verwaltungsakte nicht aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen konnten, sondern eingehende individuelle Ermittlungen notwendig waren (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – Kommentar, K § 24 SGB X Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden, die nach § 45 SGB X ergehen, sind regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies ergibt sich schon aus dem Gesetzestext. Es kann dahinstehen, ob sich der Beklagte auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen konnte, weil nicht festgestellt werden kann und auch vom Beklagten nicht dargelegt worden ist, weswegen erst im Januar 1993 ein Verwaltungsverfahren zur Rücknahme der Bewilligungsbescheide eingeleitet wurde, obwohl die bereits zuvor bestehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. November 1976 – SozR 2-3100 § 7 Nr. 2 –) schon lange vorher hätte bekannt sein müssen und auch die klarstellenden Urteile zur Auslandsversorgung von Bürgern der früheren SFRJ bereits am 20. Mai 1992 ergangen waren. Der Beklagte, der selbst Verfahrensbeteiligter der am 20. Mai 1992 ergangenen Entscheidungen war, weil er für die Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet der früheren SFRJ zuständig ist, mußte von der Entscheidung vom 20. Mai 1992 und den sie tragenden Gründen bereits innerhalb kurzer Zeit informiert gewesen sein und hätte deshalb die Betroffenen auch vor Erlaß des Rücknahmebescheides anhören können. Jedoch ist der Mangel der unterbliebenen Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Deshalb kann der Bescheid vom 11. Januar 1993 – in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1993 – insoweit nicht beanstandet werden.
Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 7. Oktober 1993 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig sind, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 in Verbindung mit den Abs. 2–4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG, SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X –, Kommentar, § 45 Erläuterung III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses des Erstanerkennungsbescheides (23.05.1991) davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11.01.1993 noch in der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren zugegangen ist.
Jede weitere Sachaufklärung aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß und genaue Antragen und Auskünfte nur zu erhalten sind, wenn die entsprechenden Schriftstücke ins Kroatische übersetzt werden. Hieran ändert sich auch nichts Grundsätzliches deshalb, weil der Kläger durch einen Dolmetscher vertreten ist. Auch die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen einer Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich ist, könnte nur über den Prozeßbevollmächtigten und einen Dolmetscher erfolgen.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Daraus folgt, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3 1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel –, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und – 345/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von der eingeräumten Ermessensausübung Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ, in der Krieg herrschte. Zeitweilig war die Auszahlung der über die Zentralbank in Belgrad angewiesenen Versorgungsleistungen aus Deutschland ungewiß und zögerlich. Allein die Tatsache, daß der Kläger in dem Gebiet um R. nicht unmittelbar von den teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien betroffen war, rechtfertigt es zur Überzeugung des Senates nicht, die Tatsache außer Acht zu lassen, daß zum Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheides und auch des Widerspruchsbescheides in Kroatien Krieg herrschte und die wirtschaftliche Existenz der von Leistungen nach dem BVG – wenn auch rechtswidrig – Begünstigten aufs äußerste angespannt und bedroht war. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen anzustellen, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß sich dessen Gesundheitszustand seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 weiter verschlechtert habe. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtefallgesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar – Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Gesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III. 7). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfall-Entscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er auch nicht wieder im unmittelbaren Kampfgebiet wohnte – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat ausdrücklich sich darauf berufen, daß sich sein Gesundheitszustand seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 weiter verschlechtert hatte. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der schwerwiegenden bereits im Kindesalter erlittenen Beschädigung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr gezwungen sein wird, vorzeitig Rente in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung der Bescheide aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Umstände kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
II. Der Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung von Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) im Verfahren nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).
Der 1939 geborene Kläger hat als Staatsbürger der Republik Kroatien seinen Wohnsitz in diesem Staat. Er beantragte erstmals am 22. Mai 1988 beim Versorgungsamt Fulda die Gewährung von Beschädigtenversorgung und gab an, als noch nicht sechsjähriges Kind während des Zweiten Weltkrieges in seiner Heimat schwer geschädigt worden zu sein. Er habe im April 1945 in M. beim Spielen den Teil einer Granate gefunden, der, während er ihn mit beiden Händen hielt, explodiert sei. Er habe den Daumen der rechten Hand sowie Daumen und Zeigefinger der linken Hand, die amputiert werden mußten, sowie das rechte Auge verloren. Wegen dieser Schädigung sei er seit 1977 in Kroatien als ziviles Kriegsopfer anerkannt und beziehe Rente. Der Kläger legte ärztliche Unterlagen sowie Bescheide und auch einen Zahlungsbeleg aus dem Jahre 1989 über seine Rente als ziviles Kriegsopfer bei. Nach weiteren Ermittlungen erkannte das Versorgungsamt Fulda mit Bescheid vom 23. Mai 1991 die vom Kläger geltend gemachten Gesundheitsstörungen ("1. Verlust beider Daumen und des linken Zeigefingers; 2. Verlust des rechten Auges”) als Schädigungsfolgen nach dem BVG an und gewährte ihm Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 80 v.H. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, daß die Leistung als sog. "Kannleistung” gemäß § 64 e Abs. 1 bzw. § 64 Abs. 2 BVG zuerkannt werde.
Diesen Bescheid nahm das Versorgungsamt Fulda ohne vorherige Anhörung des Klägers durch Bescheid vom 11. Januar 1993 mit Wirkung vom 1. Februar 1993 zurück. Zur Begründung führte es aus, der Bewilligungsbescheid sei rechtswidrig gewesen, da der Kläger wegen derselben Ursache einen Anspruch auf Zivil-Invalidenrente gegenüber seinem Heimatstaat habe. Gemäß § 7 Abs. 2 BVG aber sei eine solche Doppelversorgung ausgeschlossen. Da diese gesetzliche Bestimmung bei Erteilung des ursprünglichen Bewilligungsbescheides nicht beachtet worden sei, sei dieser Bescheid rechtswidrig gewesen. Seine Rücknahme setze zwar voraus, daß das Interesse des Bürgers an der Aufrechterhaltung des Vorteils nicht höher zu bewerten sei, als das öffentliche Interesse des Staates und der Allgemeinheit an der Beseitigung der Rechtswidrigkeit eines Bescheides. Die Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides sei aber aus öffentlichem Interesse geboten. Es sei zugunsten der Interessen des Klägers berücksichtigt worden, daß der Grund für das Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides zwar allein im Verantwortungsbereich der deutschen Verwaltung liege. Dies allein führe jedoch nicht zur Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Klägers in den Bestand des Bescheides. Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung sei die persönliche Situation des Klägers gewürdigt worden; die niedrige Höhe der Versorgung im Heimatstaat könne aber nicht zu einer Ausübung des Ermessens zu seinen Gunsten führen, weil deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß auf die wirtschaftlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Klägers haben könnten. Der Kläger erhob gegen diesen Bescheid am 23. April 1993 (Eingang beim Versorgungsamt Fulda) Widerspruch und machte u.a. geltend, er habe von der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) keine Versorgung als Kriegsopfer bekommen, sondern nur eine Rente wegen seiner Arbeitsunfähigkeit als allgemein anerkannter Invalide. Nach dem BVG sei deshalb ein Anspruch auf Versorgung nicht ausgeschlossen. Der Kläger hat angeboten, die hierfür erforderlichen Nachweise der kroatischen Behörden nachzusenden. Weiter hat der Kläger vorgetragen, er könne nicht akzeptieren, daß sich aus einem eventuellen Fehler der deutschen Behörden für ihn nachteilige Folgen ergeben würden. Der Kläger hat schließlich geltend gemacht, sein Gesundheitszustand habe sich verschlimmert.
Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1993 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte u.a. aus, es sei auch geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistung abgesehen werden könne. Es sei zwar bekannt, daß der Kläger schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sei und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebe. Diese Umstände würden jedoch bei Beziehern von Sozialleistungen vielfach vorliegen und könnten deshalb nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt werde, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen.
Gegen den am 23. Juli 1993 mit einfachem Brief abgesandten Widerspruchsbescheid hat der Kläger die am 27. August 1993 beim Sozialgericht Frankfurt am Main eingegangene Klage erhoben. Er hat die Auffassung vertreten, daß ihn keine Schuld an dem möglichen Fehler beim Erlaß des Bescheides durch die deutsche Verwaltung treffe. Er sei in frühen Jahren durch Waffen, die als Folge des Zweiten Weltkrieges im damaligen Jugoslawien verblieben waren, geschädigt worden und lebe in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Aus diesen Gründen hat er beantragt, die Versorgungsleistung ohne Unterbrechung weiter zu erbringen.
Mit Urteil vom 7. Oktober 1994 hat das Sozialgericht den angegriffenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. In den Entscheidungsgründen hat es unter anderem ausgeführt, eine Aufhebung hätte nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X erfolgen können. Insoweit könne dahingestellt bleiben, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt überhaupt rechtswidrig gewesen sei und auch, ob der Aufhebungsbescheid schon allein deshalb rechtswidrig sei, weil vor Erlaß dieses, in die Rechte des Klägers eingreifenden Verwaltungsaktes, keine Anhörung erfolgt sei. Der Beklagte habe jedenfalls von der ihm nach § 45 Abs. 1 SGB X obliegenden Pflicht zur Ausübung sachgerechten Ermessens in fehlerhafter Weise Gebrauch gemacht. Der Beklagte habe in seinen Entscheidungen nicht auf den individuellen Einzelfall des Klägers abgestellt. Hinsichtlich des Rücknahmebescheids sei dies schon deshalb offenkundig, weil der Kläger vor dessen Erlaß nicht angehört worden sei und das beklagte Land folglich mangels aktueller Kenntnis der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers eine individuelle Würdigung gar nicht habe vornehmen können. Entsprechendes gelte auch für die Ausführungen zur Ermessensausübung in der Begründung des Widerspruchsbescheids. Die dort verwendeten Formulierungen deuteten darauf hin, daß das beklagte Land bei seiner Entscheidung gerade nicht die individuellen Verhältnisse des konkreten Falles im Auge gehabt habe, sondern nur solche Aspekte gewürdigt habe, die für alle Fälle der Gewährung von Versorgungsleistungen an zivile Kriegsopfer in der ehemaligen SFRJ zutreffen würden. Das Fehlen jeglicher Einzelfallbezogenheit in den Ausführungen zum Ermessen zeige sich auch deutlich an der Verwaltungspraxis des beklagten Landes in allen dem vorliegenden vergleichbaren Fällen. Es sei gerichtsbekannt, daß das beklagte Land nach Bekanntwerden des Urteils des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Mai 1992 zahlreiche Verwaltungsverfahren zur Rücknahme bereits erteilter Bewilligungsbescheide eingeleitet habe und dabei in ca. 300 Fällen praktisch wortgleiche Rücknahme- und Widerspruchsbescheide erlassen habe. Dieser Schluß lasse sich aufgrund des dem Gericht bekannten Akteninhalts von ca. 100 vergleichbaren Streitsachen ziehen. Aus der Tatsache, daß der Beklagte vor Erlaß des Widerspruchsverfahrens keine Anhörung durchgeführt habe, lasse sich auch schließen, daß er nicht die Absicht gehabt habe, eine individuelle Einzelfallentscheidung zu treffen. Der Bescheid und der Widerspruchsbescheid seien deshalb wegen der nicht ordnungsgemäßen Ausübung des Ermessens aufzuheben gewesen.
Gegen das ihm am 25. November 1993 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner am 5. Dezember 1994 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangenen Berufung. Er vertritt die Ansicht, daß bei Rücknahmeentscheidungen nach § 45 SGB X im sozialen Entschädigungsrecht im Regelfall überhaupt kein Ermessensspielraum bestehe. Dies sei vom 9/9 a-Senat des BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden worden. Soweit sich das erstinstanzliche Gericht für seine Auffassung, es sei Ermessen auszuüben (und nicht pflichtgemäß ausgeübt worden) auf Rechtsprechung anderer Senate des BSG beziehe, sei diese im sozialen Entschädigungsrecht nicht einschlägig. Im vorliegenden Rechtsstreit handele es sich um einen klassischen Regelfall.
Es hätte deshalb keinerlei Ermessen ausgeübt werden müssen. Soweit das Sozialgericht meine, die Verwaltung habe überhaupt kein Ermessen ausgeübt, sei dies nicht zutreffend. Aus den Texten des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides ergebe sich etwas anderes. Es seien sowohl die Höhe der ausländischen Zivilopferrente als auch das Lebensalter, die Schädigung und das relativ geringe Gesamteinkommen des Klägers in die Überlegungen einbezogen worden. Ermittlungen zu den aktuellen Einkommensverhältnissen seien nicht erforderlich gewesen, da zugunsten des Klägers dessen schwierige persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen als bekannt vorausgesetzt und zu seinen Gunsten unterstellt worden seien. Auch soweit das Sozialgericht bemängele, daß der Beklagte die Auswirkungen des Bürgerkrieges in den Teilrepubliken des früheren Jugoslawien nicht geprüft und entsprechend berücksichtigt habe, könne ihm nicht gefolgt werden. Im vorliegenden Streitfall gehe es um die Spätauswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Für die Folgen des Bürgerkrieges, der ein halbes Jahrhundert später entbrannt sei, könne die Bundesrepublik Deutschland keine Verantwortung übernehmen. Bei der Ausübung des ihr obliegenden Ermessens hätte dieser Umstand deshalb nicht zu einem Verzicht auf die Rücknahme des Bewilligungsbescheides führen können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 7. Oktober 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision zuzulassen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, das er für zutreffend hält, und macht zur Begründung u.a. noch geltend, daß bei ihm erstmals 32 Jahre nach der Verwundung im Jahre 1977 durch den Heimatstaat Invalidität anerkannt worden sei und ihm erst durch den Bescheid aus Fulda vom Mai 1991 eine lebenslange Versorgung zugesichert worden sei. Im übrigen bezieht er sich auf sein Vorbringen im erstinstanzlichen Verfahren.
Für den Sach- und Streitstand im übrigen wird auf die Gerichts- und die Verwaltungsakte Bezug genommen (Archiv-Nr. ), die dem Senat vorlagen und auszugsweise zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.
Entscheidungsgründe:
Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl weder der Kläger noch sein Prozeßbevollmächtigter im Termin zur mündlichen Verhandlung erschienen waren. Denn mit der Ladung war darauf hingewiesen worden, daß auch im Falle des Ausbleibens verhandelt und entschieden werden könne (§§ 110 Abs. 1 Satz 2, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§ 151 in Verbindung mit §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –).
Die Berufung ist sachlich jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 7. Oktober 1994 den Bescheid des Beklagten vom 11. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1993 aufgehoben. Diese Verwaltungsentscheidungen sind rechtswidrig und beschweren den Kläger.
Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat und der rechtswidrig ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs. 2–4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (Abs. 2 Satz 2 von § 45 SGB X). Auf das Vertrauen kann sich der Begünstigte (nur dann) nicht berufen, soweit
1) er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat,
2) der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat, oder
3) er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (Satz 3 von Abs. 2 § 45 SGB X).
Der dem Kläger Versorgungsleistungen gewährende Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 23. Mai 1991 war rechtswidrig, weil der Kläger gleichzeitig Rente als ziviles Kriegsopfer von seinem Heimatstaat bezogen hat und bezieht. Die Ausführungen des Klägers, er habe in seinem Heimatstaat keine Rente wegen der (zivilen) Kriegsbeschädigung zugebilligt bekommen, sind durch die von ihm selbst vorgelegten Unterlagen widerlegt. Eine solche Doppelversorgung ist nach § 7 Abs. 2 BVG ausgeschlossen. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung hierzu entschieden, daß zivilen Kriegsopfern, welche für die im Krieg erlittenen Beschädigungen von ihren Heimatstaaten Leistungen erhalten, keine Versorgungsleistungen nach dem BVG (auch nicht gemäß § 8 BVG im Rahmen einer Ermessensentscheidung mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit) gewährt werden dürfen. Dies hat das BSG zunächst für Kriegsopfer mit Heimatland Frankreich festgestellt, die dort ähnliche Versorgungsleistungen erhielten, wie sie das BVG vorsieht (BSG Urteil vom 25. November 1976 – 9 RV 188/75 = SozR 2-3100 § 7 BVG Nr. 2). In mehreren weiteren Urteilen hat das BSG sodann entschieden, daß ein solcher Ausschluß von Leistungen nach dem BVG auch dann zu gelten habe, wenn die Versorgungsleistungen des Heimatlandes im Vergleich zur Versorgung nach deutschem Recht erheblich geringer sind (BSG, Urteile vom 20. Mai 1992 – 9 a RV 11/91 und 12/91 – = SozR 3-3100 § 7 BVG Nrn. 1 und 2). Letzteren Entscheidungen lagen solche Fälle zugrunde, bei denen, wie hier, die Kläger Versorgungsleistungen als zivile Kriegsopfer in einem Teilstaat der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) erhielten (vgl. insbesondere BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Dieser Personenkreis hat auch nach dem Zerfall der früheren SFRJ nach dem Recht der nunmehr selbständigen Teilrepubliken – wie dem Senat aus zahlreichen gleichgearteten Fällen bekannt ist – grundsätzlich Anspruch auf eine Rente als ziviles Kriegsopfer. Jedenfalls die Republiken Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina haben insoweit die früher geltenden Rechtsnormen fortbestehen lassen bzw. die Rechtsregeln aus der Zeit des Bestehens der SFRJ übernommen oder in neues Recht umgestaltet. Unerheblich ist dabei, ob diese Nachfolgestaaten der SFRJ – sowohl während des im früheren Jugoslawien tobenden Bürgerkrieges als auch jetzt nach dessen Ende – tatsächlich die Geldleistungen erbringen, auf die ihre Bürger Anspruch haben. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es hierauf auch nicht an (vgl. BSG, a.a.O., SozR 3-3100 § 7 BVG Nr. 1). Ausreichend ist vielmehr, daß die Geschädigten dem Grunde nach einen Anspruch gegenüber ihrem Heimatstaat haben. Der Kläger hat im Verwaltungsverfahren selbst noch einen Zahlungsbeleg über eine Rente als ziviles Kriegsopfer – neben den Anerkennungsbescheiden aus dem Jahre 1977 bzw. 1978 – vorgelegt, wonach feststeht, daß er auch zum Zeitpunkt der Erteilung des Bescheides des Versorgungsamtes Fulda vom 23.05.1991 noch eine Rente seines Heimatstaates erhielt. Da demnach eine Doppelversorgung hätte ausgeschlossen werden müssen, war der Bescheid des Versorgungsamtes vom 23. Mai 1991 rechtswidrig, weshalb der Beklagte grundsätzlich verpflichtet war, ein Verfahren zur Rücknahme dieses Bescheides nach § 45 SGB X einzuleiten.
Der Rücknahmebescheid vom 11. Januar 1993 und der Widerspruchsbescheid vom 23. April 1993 sind nicht schon deshalb rechtswidrig, weil vor Erlaß des ersten Bescheides keine Anhörung erfolgt ist. Zwar ist nach § 24 Abs. 1 SGB X einem Betroffenen vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in seine Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Von dieser Notwendigkeit der vorherigen Anhörung konnte der Beklagte auch nicht nach § 24 Abs. 2 SGB X absehen, weil insbesondere kein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vorliegt, wonach die Anhörung unterbleiben kann, wenn "gleichartige Verwaltungsakte größerer Zahl” zu erlassen sind. Der Beklagte hat zwar, wie er selbst vorträgt, in ca. 300 ähnlichen Fällen Rücknahmebescheide erlassen. Gleichwohl liegen keine gleichartigen Verwaltungsakte im Sinne des § 24 Abs. 2 Nr. 4 SGB X vor, weil die Verwaltungsakte nicht aufgrund weniger, typisierter Grundmerkmale formularmäßig ergehen konnten, sondern eingehende individuelle Ermittlungen notwendig waren (vgl. Hauck/Haines, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – Kommentar, K § 24 SGB X Rdz. 16). Bei Aufhebungsbescheiden, die nach § 45 SGB X ergehen, sind regelmäßig individuelle Ermittlungen und Abwägungen notwendig; dies ergibt sich schon aus dem Gesetzestext. Es kann dahinstehen, ob sich der Beklagte auf § 24 Abs. 2 Nr. 2 SGB X berufen konnte, weil nicht festgestellt werden kann und auch vom Beklagten nicht dargelegt worden ist, weswegen erst im Januar 1993 ein Verwaltungsverfahren zur Rücknahme der Bewilligungsbescheide eingeleitet wurde, obwohl die bereits zuvor bestehende Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 25. November 1976 – SozR 2-3100 § 7 Nr. 2 –) schon lange vorher hätte bekannt sein müssen und auch die klarstellenden Urteile zur Auslandsversorgung von Bürgern der früheren SFRJ bereits am 20. Mai 1992 ergangen waren. Der Beklagte, der selbst Verfahrensbeteiligter der am 20. Mai 1992 ergangenen Entscheidungen war, weil er für die Auslandsversorgung auf dem Staatsgebiet der früheren SFRJ zuständig ist, mußte von der Entscheidung vom 20. Mai 1992 und den sie tragenden Gründen bereits innerhalb kurzer Zeit informiert gewesen sein und hätte deshalb die Betroffenen auch vor Erlaß des Rücknahmebescheides anhören können. Jedoch ist der Mangel der unterbliebenen Anhörung gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden, weil dem Kläger im Widerspruchsverfahren Gelegenheit gegeben wurde, sich zu äußern. Deshalb kann der Bescheid vom 11. Januar 1993 – in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juli 1993 – insoweit nicht beanstandet werden.
Im Ergebnis zutreffend hat jedoch das Sozialgericht Frankfurt am Main in seinem Urteil vom 7. Oktober 1993 festgestellt, daß der angefochtene Rücknahmebescheid wie auch der Widerspruchsbescheid rechtswidrig sind, weil der Beklagte das nach § 45 Abs. 1 SGB X ihm eingeräumte Ermessen nicht in rechtlich einwandfreier Form ausgeübt hat (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG). Grundsätzlich ist es dem Gericht verwehrt, Ermessensfragen zu prüfen, bevor die richterlich voll nachprüfbaren Voraussetzungen für das Vorliegen bzw. den Wegfall eines Vertrauenstatbestandes nach § 45 Abs. 1 in Verbindung mit den Abs. 2–4 SGB X erörtert worden sind (vgl. hierzu BSG, SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 20). In besonders gelagerten Einzelfällen kann es aber aus prozeßökonomischen Gründen geboten sein, die Sachgerechtigkeit der Ermessensausübung vorab zu prüfen (vgl. Grüner, Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – SGB X –, Kommentar, § 45 Erläuterung III. 7). Solche prozeßökonomischen Gründe sind hier gegeben. Zwar kann im Hinblick auf die Daten des Erlasses des Erstanerkennungsbescheides (23.05.1991) davon ausgegangen werden, daß der Rücknahmebescheid vom 11.01.1993 noch in der dem Beklagten nach § 45 Abs. 3 SGB X eingeräumten Frist von zwei Jahren zugegangen ist.
Jede weitere Sachaufklärung aber ist schon allein dadurch erschwert, daß der Schriftverkehr mit dem Kläger ins fremdsprachige Ausland geführt werden muß und genaue Antragen und Auskünfte nur zu erhalten sind, wenn die entsprechenden Schriftstücke ins Kroatische übersetzt werden. Hieran ändert sich auch nichts Grundsätzliches deshalb, weil der Kläger durch einen Dolmetscher vertreten ist. Auch die Anhörung des Klägers zu seinen individuellen Lebensumständen, die im Rahmen einer Prüfung nach § 45 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB X erforderlich ist, könnte nur über den Prozeßbevollmächtigten und einen Dolmetscher erfolgen.
Nach § 45 Abs. 1 SGB X aber "darf” ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Daraus folgt, daß die Verwaltung nicht schlechthin verpflichtet ist, jeden rechtswidrigen Verwaltungsakt zurückzunehmen. Selbst wenn die Voraussetzungen der Abs. 2–4 von § 45 SGB X gegeben sind und insoweit eine Rücknahme grundsätzlich in Betracht kommt, steht es im Ermessen der Verwaltung, von einer Rücknahme abzusehen (BSG, Urteil vom 18. August 1983 – 11 RZ/Lw 11/82 = SozR 2-1300 § 52 Nr. 3; Urteil vom 25. Oktober 1984 – 11 RA 24/84 SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 12; Urteil vom 14. November 1985 – 7 RAr 123/84 = SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 19; Urteil vom 28. November 1994 – 10 RKg 15/94 –; Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93 –; vgl. auch Kasseler Kommentar – Steinwedel § 45 SGB X Rdnr. 52; Hauck/Haines a.a.O., K § 45 SGB X Rdz. 16; Grüner, a.a.O., § 45 Erläuterungen III. 7). Nur bei ganz wenigen, eingeschränkten Fallkonstellationen kann davon ausgegangen werden, daß das Ermessen zur Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes derart auf "Null” reduziert ist, daß die Verwaltung nur diese und keine andere Entscheidung treffen kann und darf. So wird allgemein anerkannt, daß bei vorsätzlicher, betrügerischer Leistungserschleichung auf jeden Fall eine Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes erfolgen muß. Bereits für den Fall fahrlässiger Bösgläubigkeit im Hinblick auf wesentliche, für den Erlaß des rechtswidrigen Bescheides maßgeblichen Tatsachen (Abs. 2 Nrn. 2 und 3 von § 45 SGB X) wird in der neueren Rechtsprechung des BSG teilweise eine Ermessensreduzierung auf "Null” vertreten, teilweise aber auch nicht (vgl. BSG, SozR 3 1300 § 50 Nr. 16 einerseits und andererseits BSG, Urteil vom 24. Januar 1995 – 8 RKn 11/93).
Für den Bereich der Kriegsopferversorgung wird in der Rechtsprechung des 9/9 a-Senates – wie dies vom Beklagten zutreffend ausgeführt worden ist – die Auffassung vertreten, daß "in den üblichen Fällen” eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt und damit weitere Erwägungen der Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens weder erforderlich sind noch dargelegt werden müssen (BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 – 9 a RVg 2/94 – BSGE 60, 147 ff.). Begründet wird diese einschränkende Interpretation des § 45 SGB X unter Bezugnahme auf Formulierungen im Rücknahmetatbestand der früher geltenden §§ 40, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes zum Kriegsopferrecht (KOVVfG). Diese Begründung hält der erkennende Senat jedoch nicht mehr für überzeugend, weil das SGB X sämtliche Verfahrensvorschriften der Sozialleistungsbereiche, für die es gilt, abgelöst hat und deshalb auch die Vorschriften des KOVVfG nicht mehr Anwendung finden. Die Regelungen des SGB X hatten die Vereinheitlichung des Verfahrensrechts und der für ein rechtsstaatliches Verfahren geltenden Maßstäbe im gesamten Sozialrecht zum Ziel. Besondere Regelungen und "bereichsspezifische” Interpretationen für Teile des Sozialleistungsrechts können deshalb nur gelten, wenn sie auch aus den seit Erlaß des SGB X ergangenen und heute geltenden Vorschriften herzuleiten sind. So hat z.B. der parlamentarische Gesetzgeber für den Bereich der Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit und das Arbeitsförderungsrecht mit der am 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Neufassung des § 152 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) klargestellt, daß das der Verwaltung durch § 45 SGB X eingeräumte Ermessen in besonders gelagerten Fällen ausdrücklich eingeschränkt werden sollte. Der grundsätzliche Vorrang der Regelungen des SGB X und ihre einheitliche Interpretation sind auch im sozialen Entschädigungsrecht zu beachten. Normen, die nach Inkrafttreten des SGB X Geltung erlangt haben und die eine Einschränkung der Notwendigkeit zur Ermessensausübung für die Versorgungsverwaltung begründen könnten, sind weder in der zitierten Rechtsprechung des 9/9 a-Senates des BSG angeführt noch vom Beklagten benannt worden; auch der erkennende Senat vermag solche nicht zu erkennen und/oder zu benennen. Der Senat verkennt dabei nicht, daß in den Regelfällen, wie sie in § 45 Abs. 2 SGB X normiert sind, es der Verwaltung schwer fallen wird, weitere Gesichtspunkte bei der Ermessensprüfung zu benennen, die nicht schon bereits bei der Prüfung des Vertrauenstatbestandes Erwähnung gefunden haben (vgl. hierzu Haus, SGb 1987, S. 190 ff.). Die gesetzliche Regelung schließt es jedoch nicht aus, bei der Ermessensausübung wieder auf die Gesichtspunkte zurückzugreifen, die bereits zur Versagung des Vertrauensschutzes geführt haben (Kasseler Kommentar – Steinwedel –, a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53 unter Bezugnahme auf BSGE 59, 157 ff., 169 f.). Die bislang – soweit erkennbar – vom 9/9 a-Senat des BSG noch ausdrücklich vertretene Auffassung zur Reduzierung des den Verwaltungsbehörden eingeräumten Ermessens auf "Null” kann der erkennende Senat, wie schon bisher, nicht zur Grundlage seiner Entscheidungen machen (vgl. HLSG, Urteile vom 17. Januar 1991 – L-5/V-747/87 – und vom 14. Dezember 1995 – L-5/V-1221/94 und – 345/95 –).
Jedenfalls für den vorliegenden Fall geht der Senat davon aus, daß es sich nicht um einen solchen Regelfall handelt, bei dem die Verwaltung des Beklagten auf jegliche Ermessenserwägungen verzichten konnte und auch nicht um einen Fall, bei dem es für die erforderliche Ermessensausübung ausreichend war, lediglich mit floskelhaften allgemeinen Ausführungen, die jegliches Eingehen auf die besonderen Umstände des Klägers vermissen ließen, von der eingeräumten Ermessensausübung Gebrauch zu machen. Insoweit handelt es sich um den Fall des Ermessensfehlgebrauchs durch "Ermessensunterschreitung” (Meyer-Ladewig, SGG, Kommentar, 5. Aufl., § 54 Rdnrn. 25, 30). Von Ermessensunterschreitung wird gesprochen, wenn die Behörde den ihr eingeräumten Spielraum irrtümlich zu eng einschätzt oder wenn sie grob gegen Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellen sind, verstößt (Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 30).
Der Senat sieht vorliegend Umstände gegeben, die eine sorgfältige und differenzierte Ermittlung erforderlich machten und – nachfolgend – eine ebensolche Ermessensausübung unerläßlich erscheinen lassen. Der Kläger lebte zum Zeitpunkt der Entscheidung in einer der Teilrepubliken der ehemaligen SFRJ, in der Krieg herrschte. Zeitweilig war die Auszahlung der über die Zentralbank in Belgrad angewiesenen Versorgungsleistungen aus Deutschland ungewiß und zögerlich. Allein die Tatsache, daß der Kläger in dem Gebiet um R. nicht unmittelbar von den teilweise völkerrechtswidrigen und außerordentlich grausam geführten Maßnahmen der Kriegsparteien betroffen war, rechtfertigt es zur Überzeugung des Senates nicht, die Tatsache außer Acht zu lassen, daß zum Zeitpunkt des Erlasses des Rücknahmebescheides und auch des Widerspruchsbescheides in Kroatien Krieg herrschte und die wirtschaftliche Existenz der von Leistungen nach dem BVG – wenn auch rechtswidrig – Begünstigten aufs äußerste angespannt und bedroht war. Soweit man nicht allein die Tatsache, daß der Kläger zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen beeinträchtigt worden war, für ausreichend hält, um zusätzliche weitere Ermessenserwägungen anzustellen, so ist der Beklagte jedoch in keiner Weise erkennbar dem Vorbringen des Klägers weiter nachgegangen, daß sich dessen Gesundheitszustand seit Erlaß des Bescheides im Jahre 1991 weiter verschlechtert habe. Insoweit erweisen sich die von dem Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zur Überzeugung des Senates als rechtlich nicht haltbar, weil der Beklagte Härtefallgesichtspunkte nicht weiter aufgeklärt hat und deshalb von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht ordnungsgemäß Gebrauch machen konnte. Zwar steht es der Behörde in den Grenzen ihres Ermessens in der Regel frei, auf welche Umstände sie abstellen will (vgl. BSG in SozR 3-1300 § 45 SGB X Nrn. 2 und 5). Ermessen ist dann von den Gerichten allein daraufhin zu überprüfen, ob von der Verwaltung bei ihrer Entscheidung alle wesentlichen Umstände berücksichtigt worden sind (BSG, Beschluss vom 10. August 1993 – 9 BV 4/93, Kasseler Kommentar – Steinwedel a.a.O., § 45 SGB X Rdnr. 53). Um die Ermessensentscheidung überhaupt einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich zu machen, sieht aber § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X vor, daß bei einem Verwaltungsakt, der nach pflichtgemäßem Ermessen ergeht, die wesentlichen Gesichtspunkte schriftlich mitgeteilt werden müssen, von denen die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist. Dabei können Billigkeitsgesichtspunkte (BSG in SozR 2-1300 § 45 SGB X Nr. 34), die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen (BSGE 59, S. 157 ff.) und – nicht zuletzt – das Verschulden des Leistungsträgers ebenso wie das Verschulden des Leistungsempfängers (BSG, SozR 3-1300 a.a.O. Nr. 2) berücksichtigt werden. Auf jeden Fall aber sind die sog. besonderen Härtetatbestände mit einzubeziehen, wie etwa ein hohes Alter und das psychische Befinden (Frehse, VersorgB 1987, S. 31 ff.), die familiäre Situation, unverschuldete Notlagen oder schwere Krankheiten und auch solche besonderen Umstände, die es allgemein rechtfertigen, von einer besonderen Härte auszugehen. Das Vorliegen solcher Gesichtspunkte hat die Verwaltung im Rahmen des Amtsermittlungsgrundsatzes gemäß § 20 SGB X von Amts wegen zu prüfen (vgl. z.B. Grüner a.a.O., § 45 SGB X, Erl. III. 7). Ermessensentscheidungen – insbesondere dann, wenn Anlaß für die Einbeziehung von Härtegesichtspunkten besteht – sind dann als individuelle Einzelfall-Entscheidungen zu treffen, die auf jede Besonderheit abstellen und versuchen müssen, ihr gerecht zu werden. Leerformeln in einem Verwaltungsakt, die inhaltlich nichts aussagen, reichen für die Darlegung der maßgeblichen Ermessensgesichtspunkte nicht aus (BSGE 59, 157 ff.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, die sich der Senat zu eigen macht, kommt der Senat zu dem Ergebnis, daß der Beklagte von dem ihm eingeräumten Ermessen nicht pflichtgemäß Gebrauch gemacht hat. In dem angefochtenen Bescheid vom 11. Januar 1993 heißt es lediglich: "Im Rahmen der gebotenen Ermessensprüfung wurde Ihre persönliche Situation gewürdigt. Die niedrigere Höhe der Versorgung Ihres Heimatstaates kann nicht zu einer Ermessensausübung zu Ihren Gunsten führen, weil auf diese wirtschaftlichen Verhältnisse deutsche Verwaltungsentscheidungen keinen Einfluß haben. Eine Ermessensausübung zu Ihren Gunsten kommt daher nicht in Betracht.” Mit diesen Ausführungen hat der Beklagte jedoch gerade nicht auf den Einzelfall Bezug genommen und ist nicht auf die besondere Situation des Klägers eingegangen. Er hat nur auf alle ähnlichen bzw. vergleichbaren Fälle von denjenigen Leistungsempfängern verwiesen, bei denen eine äußerst geringfügige Versorgungsleistung vom Heimatstaat gewährt wird. Die Ausführungen im Bescheid vom 11. Januar 1993 lassen nicht erkennen, inwieweit eine individuelle Ermessensentscheidung getroffen worden ist. Auch im Widerspruchsbescheid vom 23. Juli 1993, in dem der Beklagte eine Ermessensentscheidung noch hätte nachholen können, wird lediglich ausgeführt: "Es ist ferner geprüft worden, ob im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens ganz oder teilweise von der Entziehung der laufenden Leistungen abgesehen werden kann. Es ist bekannt, daß Sie schon in jungen Jahren schwer geschädigt worden sind und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Diese Umstände treffen bei Sozialleistungen vielfach zu und können bei allem Verständnis nicht dazu führen, daß lebenslang fortgesetzt wird, was nach dem Gesetz nicht hätte sein dürfen”. Auch hierin liegt zur Überzeugung des erkennenden Senates lediglich ein standardisierter, leerformelartiger Text vor, der in keinem Fall geeignet war und ist, auf die jeweils besondere Lebenslage der im Kriegsgebiet der ehemaligen SFRJ lebenden Leistungsempfänger einzugehen. Zu Recht hat das Sozialgericht Frankfurt am Main deshalb darauf hingewiesen, daß praktisch dieselbe Formulierung in allen 100 beim Sozialgericht anhängigen Klageverfahren und in insgesamt rund 300 Verwaltungsverfahren benutzt worden ist. Dies ist, wie das Sozialgericht zur Überzeugung des Senates zutreffend ausgeführt hat, gerade ein entscheidender Hinweis darauf, daß keine individuellen Gesichtspunkte berücksichtigt worden sind und auch nicht geprüft werden sollten. Zwar ist für den Bereich einer Massenverwaltung dem Beklagten gegenüber einzuräumen, daß er ohne die Verwendung von Textbausteinen heute nicht mehr würde arbeiten können. Dies steht einer sorgfältigen und auf den Einzelfall bezogenen Ermessenserwägung aber auch nicht entgegen. Neben der Verwendung von standardisierten Texten enthalten heutige Textverarbeitungssysteme ausreichende Möglichkeiten, um ergänzende Textteile einzufügen, in denen alle wesentlichen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt, gewürdigt und in die Begründung des Bescheides miteinbezogen werden können. Der Kläger war – wenn er auch nicht wieder im unmittelbaren Kampfgebiet wohnte – zum zweiten Mal in seinem Leben von kriegerischen Ereignissen in seiner Heimat betroffen. Er hat ausdrücklich sich darauf berufen, daß sich sein Gesundheitszustand seit der Erteilung des Anerkennungsbescheides im Jahre 1991 weiter verschlechtert hatte. Insoweit ist nicht auszuschließen, daß der Kläger, der trotz der schwerwiegenden bereits im Kindesalter erlittenen Beschädigung einen Beruf erlernt und ausgeübt hat, nunmehr gezwungen sein wird, vorzeitig Rente in Anspruch zu nehmen. Ein solcher Umstand hätte zumindest geeignet sein können, eine Ermessensentscheidung auch dahin zu treffen, die dem Kläger gewährte Versorgung ganz oder teilweise weiter zu zahlen, wobei auch die Möglichkeit des "Einfrierens” nach § 48 Abs. 3 SGB X bestanden hätte. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob eine solche Entscheidung richtig gewesen wäre und hätte ergehen können und dürfen. Auf jeden Fall hat der Beklagte schon deshalb ermessensmißbräuchlich gehandelt, weil er Gesichtspunkte, die eine besondere Situation des Klägers hätten verdeutlichen können, weder ermittelt noch bei seiner Entscheidung zugrunde gelegt und auch nicht in die Begründung der Bescheide aufgenommen hat.
Gerade weil sich der Beklagte darauf beruft, daß auch bei Berücksichtigung der zur Überzeugung des Senats zu diskutierenden Umstände kein Verzicht auf die Rücknahme hätte erfolgen können, wird zur Überzeugung des Senates deutlich, daß ein Verwaltungsverfahren mit sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte eben gerade nicht stattgefunden hat und auch nicht hat stattfinden sollen. Nach übereinstimmender Auffassung in der Rechtsprechung aber kann im Klage- und Berufungsverfahren bezüglich des angegriffenen Rücknahmebescheides und des Widerspruchsbescheides die Ermessensprüfung durch den Beklagten nicht mehr nachgeholt werden. Zu Recht hat deshalb das Sozialgericht Frankfurt am Main die angegriffenen Bescheide aufgehoben. Aus denselben Gesichtspunkten war auch die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Die Revision mußte zugelassen werden, da das BSG in vergleichbaren Fällen auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten die Revision bereits zugelassen hat.
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