Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
12
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 1/8 J 993/88
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 12 J 1231/89
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. September 1989 sowie der Bescheid der Beklagten vom 23. August 1988 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem 1. Juli 1992 bis zum 30. Juni 1995 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit zu gewähren.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit/Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der 1942 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war von 1957 bis zum 8. Juli 1982 mit Unterbrechungen als Arbeiter tätig, zuletzt als Lastkraftwagenfahrer. 1987 bis 1989 hat er eine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Kassel 1 verbüßt. Seit Mai 1991 befindet er sich erneut in Haft.
Am 17. März 1987 beantragte der Kläger die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Die Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht bei Dr. S. (praktischer Arzt, Kassel, vom 11. August 1987) ein und zog Unterlagen eines Heilverfahrens aus dem Jahre 1986 bei. Darüber hinaus gab sie ein orthopädisches Sachverständigengutachten bei Dr. E. (K.) in Auftrag. Dieser stellte am 22. März 1988 fest, daß der Kläger trotz seiner körperlichen Leiden noch in der Lage sei, leichte körperliche Arbeiten mit Einschränkungen vollschichtig zu verrichten. Er sei im übrigen hinreichend umstellungs- und anpassungsfähig. Nach Beiziehung von Arztbriefen von Dr. A. P. (Radiologen, K.) vom 17. April 1986 und 28. März 1988 sowie Dr. M. ( Universität G.) vom 5. Mai 1988 hat Dr. B. (K., Sozialmedizinischer Dienst der Beklagten) in einem sozialärztlichen Gutachten vom 28. Juli 1988 ausgeführt, daß der Kläger unter
1) rezidivierenden Lumboischialgien mit Empfindungsstörung am rechten Bein bei fortgeschrittenen Bandscheibenveränderungen L5/S1 sowie Zustand nach Bandscheibenoperation L5/S1 rechts 1986,
2) Schulter-Rücken-Muskulatur-Verspannung bei leichten Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule und
3) extremem Übergewicht
leiden würde. Auch sie hielt den Kläger noch für in der Lage, vollschichtig leichte Arbeiten seit Rentenantragstellung im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen ohne einseitige Körperhaltung, ohne Absturzgefahr, ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten zu verrichten. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 23. August 1988 die Gewährung der beantragten Leistung ab.
Mit seiner am 6. September 1988 beim Sozialgericht Kassel erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das Sozialgericht Kassel hat Befundberichte bei Dr. D. (Orthopäde, K.) vom 11. Januar 1989 und Dr. S. vom 17. Januar 1989, der daneben diverse medizinische Unterlagen übersandt hat sowie Dr. S. (Orthopäde, B.) vom 17. März 1989 eingeholt und einen weiteren Arztbrief von Dr. M. (Universitätsklinik G.) vom 5. Juni 1989 beigezogen. Unter Berücksichtigung dieser medizinischen Unterlagen hat es mit Urteil vom 18. September 1989 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit keinesfalls vor Juli 1988 eingetreten sei. Im Juli 1988 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Leistung jedoch nicht mehr gegeben.
Gegen dieses dem Kläger am 6. Oktober 1989 zugestellte Urteil hat er am 7. November 1989 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Nachdem ihm durch Beschluss des Senates vom 10. Juli 1990 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden ist, hat er zur Berufungsbegründung vorgetragen, daß unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bzw. später Kinderberücksichtigungszeiten die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Darüber hinaus hat er Arztbriefe der Städtischen Kliniken Kassel vom 1. Dezember 1990, 18. November 1990, des Klinikums der Philipps-Universität Marburg, vom 14. November 1990 und 7. November 1990 sowie der Georg-August Universität Göttingen vom 31. Oktober 1990 und weitere bekannte medizinische Unterlagen übersandt. Der Senat hat Befundberichte bei der Universitätsklinik Göttingen vom 18. Februar 1991, den Orthopädischen Kliniken Kassel vom 26. April 1991, Dr. I. (B. W., Neurochirurg) vom 14. Juni 1991 und Dr. Steeb vom 4. September 1991 und 1. April 1992 eingeholt sowie weitere medizinische Unterlagen von den Städtischen Kliniken Kassel vom 19. März 1992 über eine erneute Bandscheibenoperation des Klägers am 7. Februar 1991 beigezogen. Nach Stellungnahmen von Dr. B. (Frankfurt am Main) vom 18. Februar 1992 und 7. Mai 1992 für die Beklagte hat der Senat darüber hinaus ein orthopädisches Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. K. (K.) in Auftrag gegeben. Der Sachverständige ist am 28. Januar 1993 zu folgenden Diagnosen gelangt:
1) Postlaminektomiesyndrom nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 rechts von 1986,
2) Lösung von Vernarbungen und Abtragung von knöchernen Randanbauten nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 1990 in Kassel,
3) chronische therapieresistente Cervicobrachialgie mit Nervenschädigung der Wurzel C 8 rechts,
4) Abzeßbildung im Bereich der Kopfschwarte an den Fixateurschrauben und
5) Adipositas permagna.
Der Kläger sei mit diesen Erkrankungen nur noch in der Lage, halb- bis untervollschichtig leichte Tätigkeiten unter Berücksichtigung von weiteren Leistungseinschränkungen zu verrichten. Eine durchgreifende Besserung der Beschwerden könne nicht prognostiziert werden. Zwischen der ersten und der zweiten Bandscheibenoperation habe sich das Leistungsvermögen des Klägers nicht durchgreifend verändert. Anfang 1992 hätten sich zusätzlich noch gravierende Halswirbelsäulenbeschwerden durch eine neurologisch nachweisbare Läsion der Nervenwurzel C 8 und Therapieresistenz entwickelt. Diese Beschwerden seien so gravierend, daß dem Kläger eine vollschichtige Durchführung auch leichter Arbeiten, wie in den Vorgutachten empfohlen, nicht mehr zumutbar sei.
Der Kläger vertritt die Auffassung, daß ihm unter Berücksichtigung des zuletzt eingeholten Gutachtens eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustünde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. September 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. August 1988 aufzuheben und dem Kläger eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalls vom 1. März 1987,
hilfsweise,
vom 1. Januar 1992 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, daß das Leistungsvermögen des Klägers zwar ab Januar 1992 nur noch als halb- bis untervollschichtig einzuschätzen sei. Dies begründe jedoch keinen Anspruch auf eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, denn der allgemeine Arbeitsmarkt sei dem Kläger nicht wegen dieses Leistungsvermögens, sondern wegen der Strafhaft verschlossen. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien bei einem Eintritt des Versicherungsfalles im Januar 1992 nunmehr erfüllt.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten, die Akten des Arbeitsamtes Kassel zur Stammnummer: XXXX sowie der Krankenakten des Landeswohlfahrtsverbandes Kassel – die der Senat beide beigezogen hat – und der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151, 146 Sozialgerichtsgesetz –SGG–, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 19. Januar 1993, BGBl. I, 1993, S. 50, 56).
Die Berufung ist auch teilweise begründet.
Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. September 1989 kann keinen Bestand haben. Der Bescheid der Beklagten vom 23. August 1988 ist rechtswidrig. Der Kläger wird dadurch in seinen Rechten verletzt. Er hat einen Anspruch auf die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Reichsversicherungsordnung –RVO– bzw. Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 44 Sozialgesetzbuch – 6. Buch (SGB 6).
Nach § 1247 Abs. 1 RVO, der nach § 300 Abs. 2 SGB 6 bei einem Versicherungsfall vor dem 31. Dezember 1991 Anwendung fände, erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Gemäß § 1247 Abs. 2 RVO ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Dies gilt entsprechend für die eingangs benannte Vorschrift des SGB 6.
Unter Berücksichtigung sämtlicher medizinischer Unterlagen ist der Kläger, dies steht nach eigener Überzeugungs- und Meinungsbildung des Senats fest, zumindest bis zum 31. Dezember 1991 noch in der Lage gewesen, vollschichtig leichte Erwerbstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, mit gewissen Einschränkungen, zu verrichten. Er ist jedoch seit dem 1. Januar 1992 erwerbsunfähig. Unter Zusammenfassung sämtlicher aus dem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren bekannter Diagnosen litt der Kläger seit 1986 unter einem Postlaminektomiesyndrom nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 rechts (1986), einer Lösung von Vernarbungen und Abtragung von knöchernen Randanbauten nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 1990 und einer Adipositas. Die Aussagen der medizinischen Sachverständigen Dr. E., Prof. Dr. K. sowie Dr. B. decken sich insoweit im wesentlichen. Prof. Dr. K. hatte allerdings in seinem Gutachten vom 28. Januar 1993, nach Untersuchung des Klägers am 1. September 1992, im Gegensatz zu den beiden vorbenannten Gutachtern die zweite Bandscheibenoperation aus dem Jahre 1990 bei der Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers zusätzlich zu berücksichtigen. Seine Diagnosen stehen diesbezüglich jedoch in Übereinstimmung mit denen der den Kläger behandelnden Ärzte sowie der übrigen im vorliegenden Fall beteiligten Mediziner. Unter Beachtung dessen hat Prof. Dr. K. ausgeführt, daß das Leistungsvermögen des Klägers zwischen der ersten und der zweiten Bandscheibenoperation keine wesentliche Veränderung erfahren habe. Insoweit kommt er, wie die anderen beiden mit Gutachten zum Gesundheitszustand und Leistungsvermögen des Klägers im Rahmen des Verwaltungsverfahrens beauftragten Mediziner zu dem Ergebnis, daß der Kläger noch in der Lage sei, einer vollschichtigen Tätigkeit nachzugehen.
Prof. Dr. K. hat hierzu überzeugend in seinem Sachverständigengutachten ausgeführt, daß bis ca. 8 bis 9 Monate vor der Untersuchung des Klägers im September 1992 die dominanten Beschwerden diejenigen von seiten der Lendenwirbelsäule gewesen seien. Unter Berücksichtigung der anamnestischen Angaben des Klägers, sämtlicher zur Verfügung gestellter Akten, einschließlich der Krankenakte der Orthopädischen Kliniken Kassel, eigener Untersuchung sowie selbst gefertigter Röntgenaufnahmen, ist dem medizinischen Sachverständigen nach Auffassung des Senats dahingehend zu folgen, daß den zweifelsohne von seiten der Lendenwirbelsäule her bestehenden Beschwerden des Klägers hinreichend dadurch Rechnung getragen wird, daß ihm deswegen nur noch leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne schweres Heben und Tragen und ohne starke Klimaschwankungen zuzumuten sind. Dieses Leistungsvermögen begründet unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen keinen Anspruch auf eine Rentenleistung.
Eine Änderung ist erst eingetreten durch die gravierenden Halswirbelsäulenbeschwerden des Klägers. Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. K. der in seine Beurteilung auch die eigenen Krankenunterlagen aus der ständigen Behandlung des Klägers in den Orthopädischen Kliniken Kassel einbeziehen konnte, besteht beim Kläger nunmehr eine mäßiggradige Chondrose mit reaktiver Spondylose in der mittleren Halswirbelsäule. Nachgewiesen wurde dies spätestens mit der Kernspinuntersuchung vom 21. August 1992. Ausweislich des anamnestischen Befundes der orthopädischen Kliniken Kassel vom 6. August 1992 bestanden diese Beschwerden seit Januar 1992. Sie führen, wie sich auch aus dem Bericht der Werner Wicker-Klinik vom 21. September 1992 ergibt, zu Beschwerden des Klägers im Bereich der rechten Schulter und ausstrahlend in den rechten Arm mit Einschlafen der ulnaren Langfinger. Darüber hinaus leidet der Kläger dadurch unter einem chronischen Hinterkopfschmerz sowie einer verminderten Sensibilität der Finger 4 und 5 und einem Streckdefizit der Finger der rechten Hand. Unter Berücksichtigung des neurologischen Befundes von Dr. A., der den Kläger am 31. August 1992 konsiliarisch untersucht hat (Kassel) sowie der sorgfältig begründeten Einschätzung von Prof. Dr. K. steht es zur Überzeugung des Senats fest, daß der Kläger ab Auftreten dieser Beschwerden im Januar 1992 nicht mehr in der Lage war, einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen, sondern vielmehr nur noch halb- bis untervollschichtig leistungsfähig ist.
Er ist mithin nur noch in der Lage, eine Teilerwerbstätigkeit zu verrichten. Die insoweit eingeschränkte Fähigkeit eines Versicherten, sein Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwerten, stellt ebenfalls einen Grund für eine Rentengewährung dar. Im Sinne der Rechtsprechung des Großen Senates des Bundessozialgerichts (Az.: GS 2/75 vom 10. Dezember 1976, BSGE 43, 75) – der sich der Senat anschließt – ist diesen Versicherten, wenn ihnen nicht innerhalb eines Jahres seit Rentenantragstellung ein konkreter, ihrem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz vom Arbeitsamt oder Rentenversicherungsträger angeboten worden ist, wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Ein derartiges Angebot ist dem Kläger ausweislich der vom Senat beigezogenen Akten des Arbeitsamtes Kassel, von dem der Kläger auch nach seiner letzten Haftentlassung 1989 durchgehend bis zum erneuten Haftantritt Leistungen bezogen hat, nicht angeboten worden.
Der Einwand der Beklagten, daß Grund für die Rentengewährung nicht die Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes sein würde, sondern der Kläger wegen der Verbüßung der Strafhaft dem Arbeitsmarkt objektiv nicht zur Verfügung stehe, vermag im konkreten Fall nicht zu überzeugen. Grundsätzlich kommt es für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nicht nur darauf an, ob der Versicherte gesundheitlich noch bestimmte Tätigkeiten verrichten kann. Es ist vielmehr auch erheblich, ob solche Tätigkeiten die Möglichkeit bieten, durch ihre Verrichtung Erwerbseinkommen zu erzielen. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten kann deshalb nicht nach Tätigkeiten beurteilt werden, die kein Erwerbseinkommen verschaffen können.
Die Fähigkeit zum Erwerb und die Möglichkeit eine Erwerbstätigkeit ausüben zu können, sind nicht gegeben, wenn der Versicherte auf Tätigkeiten verwiesen werden würde, für die es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, der Arbeitsmarkt also praktisch verschlossen ist, so daß der Versicherte nicht damit rechnen kann, einmal einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden (vgl. nur Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976, Az.: GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75 und GS 3/76, BSGE 43, 75, 79). Hiervon ist im vorliegenden Fall unabhängig von der derzeit vom Kläger zu verbüßenden Strafhaft auszugehen.
Ausweislich des Versicherungsverlaufs der Beklagten vom 18. Februar 1983 sowie unter Berücksichtigung der vom Senat beigezogenen Akte des Arbeitsamtes Kassel zur Stammnummer 937981 hat der Kläger nach dem Ende der Strafhaft am 22. Dezember 1989 ab dem 23. Dezember 1989 bis zum 20. Februar 1991 Arbeitslosengeld und vom 21. Februar 1991 bis zum 15. Mai 1992 Arbeitslosenhilfe vom Arbeitsamt Kassel erhalten. Nach Auskunft des Arbeitsamtes Kassel (Beratungsvermerke) sind ihm in dieser Zeit keine Beschäftigungsverhältnisse angeboten worden. Nun kann zwar im vorliegenden Fall Maßstab nicht die Rentenantragstellung im März 1987 sein, da der Versicherungsfall erst im Januar 1992 eingetreten ist. Aber auch zwischen Januar 1992 und 15. Mai 1992 hat der Kläger Leistungen vom Arbeitsamt Kassel erhalten und ist es dem Arbeitsamt Kassel offensichtlich nicht gelungen, den Kläger auf einen leistungsgerechten Arbeitsplatz zu vermitteln. Unter Berücksichtigung dessen sowie unter Beachtung dessen, daß dem Arbeitsamt Kassel ausweislich der Leistungsakte nicht bekannt war, daß der Kläger wiederum zu einer Haftstrafe verurteilt worden war – er hat Leistungen bis Juli 1992 erhalten – kann in diesem besonders gelagerten Fall nicht von einer überholenden Kausalität durch die Strafhaft ausgegangen werden. Gerade die seit 9. Juli 1982 mit Unterbrechung durch die Strafhaft vom 22. Dezember 1986 bis 22. Dezember 1989 festzustellende Nichtvermittelbarkeit des Klägers in einen leistungsgerechten Arbeitsplatz durch das Arbeitsamt Kassel – also mit noch vollschichtigem Leistungsvermögen –, spricht dafür, daß mit aller Wahrscheinlichkeit mit reduziertem Leistungsvermögen nicht mehr damit zu rechnen ist, daß dem Kläger zwischen Mitte Mai 1992 und Ende Dezember 1992 ein entsprechender Arbeitsplatz hätte angeboten werden können. Dies gilt um so mehr, weil der Kläger bis 22. Juli 1992 noch in der Kartei des Arbeitsamtes Kassel als arbeitsuchend geführt wurde. Gerade in diesen Fällen der vorausgegangenen jahrelangen Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug braucht aber das eine Jahr seit Stellung des Rentenantrags nicht abgewartet zu werden, um von der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes ausgehen zu können (vgl. hierzu Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts, a.a.O., S. 82/83).
Der Kläger erfüllt auch die versicherungs- und wartezeitrechtlichen Voraussetzungen für eine derartige Rentengewährung.
Nach § 44 Abs. 1 Ziff. 2, Abs. 4 i.V.m. § 43 Abs. 3 SGB 6 steht Versicherten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nur dann zu, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben. Eine Verlängerung dieses 5-Jahres-Zeitraumes durch Aufschubtatbestände (§ 44 Abs. 4 i.V.m. § 43 Abs. 3 Nr. 2 SGB 6) ist möglich. Dies sind im vorliegenden Fall nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB 6 Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit. Trotzdem erfüllt der Kläger nur die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, wenn er die noch verbleibenden Lücken mit freiwilligen Beiträgen im Sinne des § 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI füllen könnte. Dies ist der Fall.
Nach § 241 Abs. 2 SGB 6 sowie Art. 2 § 6 Abs. 2 Arbeiterrenten-Versicherungs-Neuregelungsgesetz sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auch dann erfüllt, wenn vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit (60 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen) erfüllt ist und jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist. Hierzu gehören nach § 240 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGB 6 Beitrags- und beitragsfreie Zeiten, also auch mit freiwilligen Beiträgen und Anrechnungszeiten belegte Kalendermonate.
Die allgemeine Wartezeit von mehr als 60 Kalendermonaten belegt mit Pflichtbeiträgen hat der Kläger erfüllt. Vom 1. Januar 1984 bis zum 31. Dezember 1986 hat der Kläger jeden Kalendermonat mit einer Ausfallzeit/Anrechnungszeit der Arbeitslosigkeit/Arbeitsunfähigkeit belegt. Da die Rentenantragstellung am 17. März 1987 als eine Bereiterklärung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge im Sinne des § 1420 Abs. 1 RVO anzusehen ist, könnte der Kläger die zwischen dem 1. Januar 1987 und dem 31. Dezember 1991 vorhandenen Lücken im Versicherungsverlauf durch die Entrichtung von 11 freiwilligen Beiträgen für das Jahr 1987, 12 freiwilligen Beiträgen für das Jahr 1988 und 11 freiwilligen Beiträgen für das Jahr 1989 füllen. Angesichts des § 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ist die tatsächliche Nachentrichtung zur Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen jedoch nicht erforderlich. Die Zulässigkeit der Beitragszahlung – wie hier – ist ausreichend.
Die dem Kläger zu gewährende Rente ist allerdings, da sie von der Arbeitsmarktlage für Teilzeitbeschäftigungen abhängig ist, "nur” als eine wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit (§ 102 Abs. 2 SGB 6) zu gewähren. Rentenbeginn ist nach § 101 Abs. 1 SGB 6 der 1. Juli 1992 und die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit ist nach § 102 Abs. 2 Satz 3 für drei Jahre ab dem 1. Juli 1992, also bis zum 30. Juni 1995 zu zahlen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zur Hälfte zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit/Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.
Der 1942 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war von 1957 bis zum 8. Juli 1982 mit Unterbrechungen als Arbeiter tätig, zuletzt als Lastkraftwagenfahrer. 1987 bis 1989 hat er eine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Kassel 1 verbüßt. Seit Mai 1991 befindet er sich erneut in Haft.
Am 17. März 1987 beantragte der Kläger die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeit. Die Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht bei Dr. S. (praktischer Arzt, Kassel, vom 11. August 1987) ein und zog Unterlagen eines Heilverfahrens aus dem Jahre 1986 bei. Darüber hinaus gab sie ein orthopädisches Sachverständigengutachten bei Dr. E. (K.) in Auftrag. Dieser stellte am 22. März 1988 fest, daß der Kläger trotz seiner körperlichen Leiden noch in der Lage sei, leichte körperliche Arbeiten mit Einschränkungen vollschichtig zu verrichten. Er sei im übrigen hinreichend umstellungs- und anpassungsfähig. Nach Beiziehung von Arztbriefen von Dr. A. P. (Radiologen, K.) vom 17. April 1986 und 28. März 1988 sowie Dr. M. ( Universität G.) vom 5. Mai 1988 hat Dr. B. (K., Sozialmedizinischer Dienst der Beklagten) in einem sozialärztlichen Gutachten vom 28. Juli 1988 ausgeführt, daß der Kläger unter
1) rezidivierenden Lumboischialgien mit Empfindungsstörung am rechten Bein bei fortgeschrittenen Bandscheibenveränderungen L5/S1 sowie Zustand nach Bandscheibenoperation L5/S1 rechts 1986,
2) Schulter-Rücken-Muskulatur-Verspannung bei leichten Verschleißerscheinungen der Halswirbelsäule und
3) extremem Übergewicht
leiden würde. Auch sie hielt den Kläger noch für in der Lage, vollschichtig leichte Arbeiten seit Rentenantragstellung im Wechsel zwischen Sitzen und Stehen ohne einseitige Körperhaltung, ohne Absturzgefahr, ohne häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten zu verrichten. Die Beklagte lehnte daraufhin mit Bescheid vom 23. August 1988 die Gewährung der beantragten Leistung ab.
Mit seiner am 6. September 1988 beim Sozialgericht Kassel erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Das Sozialgericht Kassel hat Befundberichte bei Dr. D. (Orthopäde, K.) vom 11. Januar 1989 und Dr. S. vom 17. Januar 1989, der daneben diverse medizinische Unterlagen übersandt hat sowie Dr. S. (Orthopäde, B.) vom 17. März 1989 eingeholt und einen weiteren Arztbrief von Dr. M. (Universitätsklinik G.) vom 5. Juni 1989 beigezogen. Unter Berücksichtigung dieser medizinischen Unterlagen hat es mit Urteil vom 18. September 1989 die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, daß der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit keinesfalls vor Juli 1988 eingetreten sei. Im Juli 1988 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Leistung jedoch nicht mehr gegeben.
Gegen dieses dem Kläger am 6. Oktober 1989 zugestellte Urteil hat er am 7. November 1989 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Nachdem ihm durch Beschluss des Senates vom 10. Juli 1990 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden ist, hat er zur Berufungsbegründung vorgetragen, daß unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten bzw. später Kinderberücksichtigungszeiten die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Darüber hinaus hat er Arztbriefe der Städtischen Kliniken Kassel vom 1. Dezember 1990, 18. November 1990, des Klinikums der Philipps-Universität Marburg, vom 14. November 1990 und 7. November 1990 sowie der Georg-August Universität Göttingen vom 31. Oktober 1990 und weitere bekannte medizinische Unterlagen übersandt. Der Senat hat Befundberichte bei der Universitätsklinik Göttingen vom 18. Februar 1991, den Orthopädischen Kliniken Kassel vom 26. April 1991, Dr. I. (B. W., Neurochirurg) vom 14. Juni 1991 und Dr. Steeb vom 4. September 1991 und 1. April 1992 eingeholt sowie weitere medizinische Unterlagen von den Städtischen Kliniken Kassel vom 19. März 1992 über eine erneute Bandscheibenoperation des Klägers am 7. Februar 1991 beigezogen. Nach Stellungnahmen von Dr. B. (Frankfurt am Main) vom 18. Februar 1992 und 7. Mai 1992 für die Beklagte hat der Senat darüber hinaus ein orthopädisches Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. K. (K.) in Auftrag gegeben. Der Sachverständige ist am 28. Januar 1993 zu folgenden Diagnosen gelangt:
1) Postlaminektomiesyndrom nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 rechts von 1986,
2) Lösung von Vernarbungen und Abtragung von knöchernen Randanbauten nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 1990 in Kassel,
3) chronische therapieresistente Cervicobrachialgie mit Nervenschädigung der Wurzel C 8 rechts,
4) Abzeßbildung im Bereich der Kopfschwarte an den Fixateurschrauben und
5) Adipositas permagna.
Der Kläger sei mit diesen Erkrankungen nur noch in der Lage, halb- bis untervollschichtig leichte Tätigkeiten unter Berücksichtigung von weiteren Leistungseinschränkungen zu verrichten. Eine durchgreifende Besserung der Beschwerden könne nicht prognostiziert werden. Zwischen der ersten und der zweiten Bandscheibenoperation habe sich das Leistungsvermögen des Klägers nicht durchgreifend verändert. Anfang 1992 hätten sich zusätzlich noch gravierende Halswirbelsäulenbeschwerden durch eine neurologisch nachweisbare Läsion der Nervenwurzel C 8 und Therapieresistenz entwickelt. Diese Beschwerden seien so gravierend, daß dem Kläger eine vollschichtige Durchführung auch leichter Arbeiten, wie in den Vorgutachten empfohlen, nicht mehr zumutbar sei.
Der Kläger vertritt die Auffassung, daß ihm unter Berücksichtigung des zuletzt eingeholten Gutachtens eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustünde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. September 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. August 1988 aufzuheben und dem Kläger eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalls vom 1. März 1987,
hilfsweise,
vom 1. Januar 1992 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie vertritt die Auffassung, daß das Leistungsvermögen des Klägers zwar ab Januar 1992 nur noch als halb- bis untervollschichtig einzuschätzen sei. Dies begründe jedoch keinen Anspruch auf eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, denn der allgemeine Arbeitsmarkt sei dem Kläger nicht wegen dieses Leistungsvermögens, sondern wegen der Strafhaft verschlossen. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen seien bei einem Eintritt des Versicherungsfalles im Januar 1992 nunmehr erfüllt.
Wegen der weiteren Einzelheiten sowie zum Vorbringen der Beteiligten im übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten, die Akten des Arbeitsamtes Kassel zur Stammnummer: XXXX sowie der Krankenakten des Landeswohlfahrtsverbandes Kassel – die der Senat beide beigezogen hat – und der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, denn sie ist sowohl form- als auch fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 143, 151, 146 Sozialgerichtsgesetz –SGG–, Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 19. Januar 1993, BGBl. I, 1993, S. 50, 56).
Die Berufung ist auch teilweise begründet.
Das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 18. September 1989 kann keinen Bestand haben. Der Bescheid der Beklagten vom 23. August 1988 ist rechtswidrig. Der Kläger wird dadurch in seinen Rechten verletzt. Er hat einen Anspruch auf die Gewährung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Reichsversicherungsordnung –RVO– bzw. Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Sinne des § 44 Sozialgesetzbuch – 6. Buch (SGB 6).
Nach § 1247 Abs. 1 RVO, der nach § 300 Abs. 2 SGB 6 bei einem Versicherungsfall vor dem 31. Dezember 1991 Anwendung fände, erhält Rente wegen Erwerbsunfähigkeit der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Gemäß § 1247 Abs. 2 RVO ist erwerbsunfähig der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Dies gilt entsprechend für die eingangs benannte Vorschrift des SGB 6.
Unter Berücksichtigung sämtlicher medizinischer Unterlagen ist der Kläger, dies steht nach eigener Überzeugungs- und Meinungsbildung des Senats fest, zumindest bis zum 31. Dezember 1991 noch in der Lage gewesen, vollschichtig leichte Erwerbstätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, mit gewissen Einschränkungen, zu verrichten. Er ist jedoch seit dem 1. Januar 1992 erwerbsunfähig. Unter Zusammenfassung sämtlicher aus dem Verwaltungs- und Gerichtsverfahren bekannter Diagnosen litt der Kläger seit 1986 unter einem Postlaminektomiesyndrom nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 rechts (1986), einer Lösung von Vernarbungen und Abtragung von knöchernen Randanbauten nach Bandscheibenoperation im Segment L5/S1 1990 und einer Adipositas. Die Aussagen der medizinischen Sachverständigen Dr. E., Prof. Dr. K. sowie Dr. B. decken sich insoweit im wesentlichen. Prof. Dr. K. hatte allerdings in seinem Gutachten vom 28. Januar 1993, nach Untersuchung des Klägers am 1. September 1992, im Gegensatz zu den beiden vorbenannten Gutachtern die zweite Bandscheibenoperation aus dem Jahre 1990 bei der Beurteilung des Leistungsvermögens des Klägers zusätzlich zu berücksichtigen. Seine Diagnosen stehen diesbezüglich jedoch in Übereinstimmung mit denen der den Kläger behandelnden Ärzte sowie der übrigen im vorliegenden Fall beteiligten Mediziner. Unter Beachtung dessen hat Prof. Dr. K. ausgeführt, daß das Leistungsvermögen des Klägers zwischen der ersten und der zweiten Bandscheibenoperation keine wesentliche Veränderung erfahren habe. Insoweit kommt er, wie die anderen beiden mit Gutachten zum Gesundheitszustand und Leistungsvermögen des Klägers im Rahmen des Verwaltungsverfahrens beauftragten Mediziner zu dem Ergebnis, daß der Kläger noch in der Lage sei, einer vollschichtigen Tätigkeit nachzugehen.
Prof. Dr. K. hat hierzu überzeugend in seinem Sachverständigengutachten ausgeführt, daß bis ca. 8 bis 9 Monate vor der Untersuchung des Klägers im September 1992 die dominanten Beschwerden diejenigen von seiten der Lendenwirbelsäule gewesen seien. Unter Berücksichtigung der anamnestischen Angaben des Klägers, sämtlicher zur Verfügung gestellter Akten, einschließlich der Krankenakte der Orthopädischen Kliniken Kassel, eigener Untersuchung sowie selbst gefertigter Röntgenaufnahmen, ist dem medizinischen Sachverständigen nach Auffassung des Senats dahingehend zu folgen, daß den zweifelsohne von seiten der Lendenwirbelsäule her bestehenden Beschwerden des Klägers hinreichend dadurch Rechnung getragen wird, daß ihm deswegen nur noch leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung, ohne schweres Heben und Tragen und ohne starke Klimaschwankungen zuzumuten sind. Dieses Leistungsvermögen begründet unter Berücksichtigung der vorangegangenen Ausführungen keinen Anspruch auf eine Rentenleistung.
Eine Änderung ist erst eingetreten durch die gravierenden Halswirbelsäulenbeschwerden des Klägers. Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. K. der in seine Beurteilung auch die eigenen Krankenunterlagen aus der ständigen Behandlung des Klägers in den Orthopädischen Kliniken Kassel einbeziehen konnte, besteht beim Kläger nunmehr eine mäßiggradige Chondrose mit reaktiver Spondylose in der mittleren Halswirbelsäule. Nachgewiesen wurde dies spätestens mit der Kernspinuntersuchung vom 21. August 1992. Ausweislich des anamnestischen Befundes der orthopädischen Kliniken Kassel vom 6. August 1992 bestanden diese Beschwerden seit Januar 1992. Sie führen, wie sich auch aus dem Bericht der Werner Wicker-Klinik vom 21. September 1992 ergibt, zu Beschwerden des Klägers im Bereich der rechten Schulter und ausstrahlend in den rechten Arm mit Einschlafen der ulnaren Langfinger. Darüber hinaus leidet der Kläger dadurch unter einem chronischen Hinterkopfschmerz sowie einer verminderten Sensibilität der Finger 4 und 5 und einem Streckdefizit der Finger der rechten Hand. Unter Berücksichtigung des neurologischen Befundes von Dr. A., der den Kläger am 31. August 1992 konsiliarisch untersucht hat (Kassel) sowie der sorgfältig begründeten Einschätzung von Prof. Dr. K. steht es zur Überzeugung des Senats fest, daß der Kläger ab Auftreten dieser Beschwerden im Januar 1992 nicht mehr in der Lage war, einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen, sondern vielmehr nur noch halb- bis untervollschichtig leistungsfähig ist.
Er ist mithin nur noch in der Lage, eine Teilerwerbstätigkeit zu verrichten. Die insoweit eingeschränkte Fähigkeit eines Versicherten, sein Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwerten, stellt ebenfalls einen Grund für eine Rentengewährung dar. Im Sinne der Rechtsprechung des Großen Senates des Bundessozialgerichts (Az.: GS 2/75 vom 10. Dezember 1976, BSGE 43, 75) – der sich der Senat anschließt – ist diesen Versicherten, wenn ihnen nicht innerhalb eines Jahres seit Rentenantragstellung ein konkreter, ihrem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz vom Arbeitsamt oder Rentenversicherungsträger angeboten worden ist, wegen der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Ein derartiges Angebot ist dem Kläger ausweislich der vom Senat beigezogenen Akten des Arbeitsamtes Kassel, von dem der Kläger auch nach seiner letzten Haftentlassung 1989 durchgehend bis zum erneuten Haftantritt Leistungen bezogen hat, nicht angeboten worden.
Der Einwand der Beklagten, daß Grund für die Rentengewährung nicht die Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes sein würde, sondern der Kläger wegen der Verbüßung der Strafhaft dem Arbeitsmarkt objektiv nicht zur Verfügung stehe, vermag im konkreten Fall nicht zu überzeugen. Grundsätzlich kommt es für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nicht nur darauf an, ob der Versicherte gesundheitlich noch bestimmte Tätigkeiten verrichten kann. Es ist vielmehr auch erheblich, ob solche Tätigkeiten die Möglichkeit bieten, durch ihre Verrichtung Erwerbseinkommen zu erzielen. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten kann deshalb nicht nach Tätigkeiten beurteilt werden, die kein Erwerbseinkommen verschaffen können.
Die Fähigkeit zum Erwerb und die Möglichkeit eine Erwerbstätigkeit ausüben zu können, sind nicht gegeben, wenn der Versicherte auf Tätigkeiten verwiesen werden würde, für die es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, der Arbeitsmarkt also praktisch verschlossen ist, so daß der Versicherte nicht damit rechnen kann, einmal einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden (vgl. nur Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 10. Dezember 1976, Az.: GS 2/75, GS 3/75, GS 4/75 und GS 3/76, BSGE 43, 75, 79). Hiervon ist im vorliegenden Fall unabhängig von der derzeit vom Kläger zu verbüßenden Strafhaft auszugehen.
Ausweislich des Versicherungsverlaufs der Beklagten vom 18. Februar 1983 sowie unter Berücksichtigung der vom Senat beigezogenen Akte des Arbeitsamtes Kassel zur Stammnummer 937981 hat der Kläger nach dem Ende der Strafhaft am 22. Dezember 1989 ab dem 23. Dezember 1989 bis zum 20. Februar 1991 Arbeitslosengeld und vom 21. Februar 1991 bis zum 15. Mai 1992 Arbeitslosenhilfe vom Arbeitsamt Kassel erhalten. Nach Auskunft des Arbeitsamtes Kassel (Beratungsvermerke) sind ihm in dieser Zeit keine Beschäftigungsverhältnisse angeboten worden. Nun kann zwar im vorliegenden Fall Maßstab nicht die Rentenantragstellung im März 1987 sein, da der Versicherungsfall erst im Januar 1992 eingetreten ist. Aber auch zwischen Januar 1992 und 15. Mai 1992 hat der Kläger Leistungen vom Arbeitsamt Kassel erhalten und ist es dem Arbeitsamt Kassel offensichtlich nicht gelungen, den Kläger auf einen leistungsgerechten Arbeitsplatz zu vermitteln. Unter Berücksichtigung dessen sowie unter Beachtung dessen, daß dem Arbeitsamt Kassel ausweislich der Leistungsakte nicht bekannt war, daß der Kläger wiederum zu einer Haftstrafe verurteilt worden war – er hat Leistungen bis Juli 1992 erhalten – kann in diesem besonders gelagerten Fall nicht von einer überholenden Kausalität durch die Strafhaft ausgegangen werden. Gerade die seit 9. Juli 1982 mit Unterbrechung durch die Strafhaft vom 22. Dezember 1986 bis 22. Dezember 1989 festzustellende Nichtvermittelbarkeit des Klägers in einen leistungsgerechten Arbeitsplatz durch das Arbeitsamt Kassel – also mit noch vollschichtigem Leistungsvermögen –, spricht dafür, daß mit aller Wahrscheinlichkeit mit reduziertem Leistungsvermögen nicht mehr damit zu rechnen ist, daß dem Kläger zwischen Mitte Mai 1992 und Ende Dezember 1992 ein entsprechender Arbeitsplatz hätte angeboten werden können. Dies gilt um so mehr, weil der Kläger bis 22. Juli 1992 noch in der Kartei des Arbeitsamtes Kassel als arbeitsuchend geführt wurde. Gerade in diesen Fällen der vorausgegangenen jahrelangen Arbeitslosigkeit mit Leistungsbezug braucht aber das eine Jahr seit Stellung des Rentenantrags nicht abgewartet zu werden, um von der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes ausgehen zu können (vgl. hierzu Entscheidung des Großen Senats des Bundessozialgerichts, a.a.O., S. 82/83).
Der Kläger erfüllt auch die versicherungs- und wartezeitrechtlichen Voraussetzungen für eine derartige Rentengewährung.
Nach § 44 Abs. 1 Ziff. 2, Abs. 4 i.V.m. § 43 Abs. 3 SGB 6 steht Versicherten eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nur dann zu, wenn sie in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeitragszeiten haben. Eine Verlängerung dieses 5-Jahres-Zeitraumes durch Aufschubtatbestände (§ 44 Abs. 4 i.V.m. § 43 Abs. 3 Nr. 2 SGB 6) ist möglich. Dies sind im vorliegenden Fall nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 SGB 6 Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit. Trotzdem erfüllt der Kläger nur die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, wenn er die noch verbleibenden Lücken mit freiwilligen Beiträgen im Sinne des § 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI füllen könnte. Dies ist der Fall.
Nach § 241 Abs. 2 SGB 6 sowie Art. 2 § 6 Abs. 2 Arbeiterrenten-Versicherungs-Neuregelungsgesetz sind die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen auch dann erfüllt, wenn vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit (60 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen) erfüllt ist und jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt ist. Hierzu gehören nach § 240 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGB 6 Beitrags- und beitragsfreie Zeiten, also auch mit freiwilligen Beiträgen und Anrechnungszeiten belegte Kalendermonate.
Die allgemeine Wartezeit von mehr als 60 Kalendermonaten belegt mit Pflichtbeiträgen hat der Kläger erfüllt. Vom 1. Januar 1984 bis zum 31. Dezember 1986 hat der Kläger jeden Kalendermonat mit einer Ausfallzeit/Anrechnungszeit der Arbeitslosigkeit/Arbeitsunfähigkeit belegt. Da die Rentenantragstellung am 17. März 1987 als eine Bereiterklärung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge im Sinne des § 1420 Abs. 1 RVO anzusehen ist, könnte der Kläger die zwischen dem 1. Januar 1987 und dem 31. Dezember 1991 vorhandenen Lücken im Versicherungsverlauf durch die Entrichtung von 11 freiwilligen Beiträgen für das Jahr 1987, 12 freiwilligen Beiträgen für das Jahr 1988 und 11 freiwilligen Beiträgen für das Jahr 1989 füllen. Angesichts des § 240 Abs. 2 Satz 3 SGB VI ist die tatsächliche Nachentrichtung zur Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen jedoch nicht erforderlich. Die Zulässigkeit der Beitragszahlung – wie hier – ist ausreichend.
Die dem Kläger zu gewährende Rente ist allerdings, da sie von der Arbeitsmarktlage für Teilzeitbeschäftigungen abhängig ist, "nur” als eine wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit (§ 102 Abs. 2 SGB 6) zu gewähren. Rentenbeginn ist nach § 101 Abs. 1 SGB 6 der 1. Juli 1992 und die Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit ist nach § 102 Abs. 2 Satz 3 für drei Jahre ab dem 1. Juli 1992, also bis zum 30. Juni 1995 zu zahlen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 193, 160 SGG.
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