L 9 S 123/85

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 S 123/85
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Ablehnungsgesuche des betreffend die Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Kämmerer und Schulz, die Richterin am Landessozialgericht Balser, die Richter am Landessozialgericht Bergmann und Meyer, die Richterin am Sozialgericht Immel-Schelzke und den Richter am Landessozialgericht Dr. Stoll werden als unzulässig zurückgewiesen.

Gründe:

Die Ablehnungsgesuche stellen eine rechtsmißbräuchliche Ausübung der durch § 60 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auch für das sozialgerichtliche Verfahren anerkannten Befugnis dar, Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, und sind rechtlich unbeachtlich. Sie zielen in ihrer Wirkung auf eine Umgehung der Geschäftsverteilung beim Hessischen Landessozialgericht ab und dienen damit einem Zweck, der von der Regelung in §§ 42 ff. Zivilprozeßordnung (ZPO) nicht gedeckt ist.

I. Die zur Rechtfertigung der Gesuche vorgetragenen Umstände erfüllen nicht den Tatbestand eines Ablehnungsgrundes im Sinn von §§ 42 Abs. 2, 44 Abs. 2 ZPO. Die Tatsache, daß die abgelehnten Richter sich in vorangegangenen anderen Verfahren bereits zur Frage der Wirksamkeit der Berufung ehrenamtlicher Richter am Hessischen Landessozialgericht in einem bestimmten Sinn geäussert haben, kann für sich allein kein "Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit”, wie es das Gesetz meint, begründen. Zur amtlichen Funktion des Richters als Rechtspflegeorgan gehört in konkreten Rechtsstreitigkeiten nicht nur, den prozeßerheblichen Sachverhalt festzustellen, sondern ebenso, den festgestellten Sachverhalt rechtlich zu beurteilen. Ist die bei der Beurteilung anzuwendende Rechtsnorm in ihrer Bedeutung und Tragweite umstritten, setzt die ordnungsgemäße Erfüllung der richterlichen Funktion voraus, daß sich der Richter auf eine bestimmte Rechtsauffassung festlegt. Es wäre ein Widerspruch in sich und bedeutete, die dem Richter grundgesetzlich zugewiesene Aufgabe im Kern zu leugnen, würde dem Richter auf der einen Seite diese Festlegung in der Rechtsmeinung abverlangt, ihm auf der anderen Seite aber zugleich daraus der Vorwurf der Parteilichkeit, d.h. aber der funktions – widrigen Amtsausübung, gemacht.

Im gedanklichen Ansatz von einer derartigen elementaren – und soweit ersichtlich, bisher nicht bezweifelten – Kennzeichnung richterlicher Tätigkeit offensichtlich als selbstverständlich ausgehend, ziehen Rechtsprechung und Schrifttum denn auch in allgemeiner Übereinstimmung nur solche Fälle der Festlegung auf eine Rechtsmeinung für eine Befangenheit in Betracht, die durch zusätzliche Umstände den Verdacht eines funktionsfremden Verhaltens des Richters nahelegen. Bezeichnet werden die Tatbestände meist als "stures”, d.h. für Gegenargumente unzugängliches und uneinsichtiges Festhalten an einer einmal bezogenen Rechtsposition (vgl. hierzu z.B. Baumbach-Lauterbach-Hartmann, Zivilprozeßordnung, 43. Aufl. 1985, § 42, 2 B; Thomas-Putzo, Zivilprozeßordnung, 12. Aufl. 1982, § 42, 2 a dd; Zöller-Vollkommer, Zivilprozeßordnung, 14. Aufl. 1984, § 42, 2 e (Rdnr. 15); Teplitzky, Die Richterablehnung wegen Befangenheit, JuS 1969, 318 (322); jeweils m.w.N.). Mit den gestellten Ablehnungsgesuchen sind keine Tatsachen gemäß § 44 Abs. 2 ZPO vorgetragen und glaubhaft gemacht worden, die einen Anhalt für ein "stures” Verhalten der abgelehnten Richter im bezeichneten Sinn geben. Zwar wird wiederholt und nachdrücklich die Befürchtung geäußert, die abgelehnten Richter würden auch im hier anstehenden Amtsenthebungsverfahren ihre schon anderweitig kundgetane Auffassung, die zur Entscheidung stehenden Berufungen ehrenamtlicher Richter seien unwirksam, weiterhin verfechten und zur Grundlage des verfahrensabschließenden Beschlusses machen. Bei einer früher gebildeten Rechtsmeinung zu bleiben und sie der weiteren richterlichen Tätigkeit zugrunde zulegen, kann für sich allein aber ebensowenig wie die Festlegung auf die Meinung als funktionswidriges, u.U. zur Besorgnis der Befangenheit führendes Verhalten betrachtet werden. Im Gegenteil ist es gerade zur Gewährleistung von Rechtssicherheit und Rechtsgewißheit eine wesentliche Aufgabe des Richters, das von ihm angewendete Recht in einem beständigen, verläßlichen Sinn zu interpretieren und zur Grundlage seiner Entscheidungen zu machen. Es würde erneut einen unauflösbaren inneren Widerspruch bedeuten, dem Richter einerseits Kontinuität der Rechtsmeinung abzufordern, andererseits ihm aber daraus bei nachfolgenden Entscheidungen Befangenheit vorzuwerfen, wenn dabei nicht mehr als diese beiden Momente gegenübergesetzt werden.

II. Selbst wenn man die Grundposition anders bestimmte, könnte die Festlegung auf eine Rechtsansicht überhaupt nur dann als tatbestandliche Voraussetzung der Rechtsfolge "Befangenheit” anerkannt werden, sobald sie als allgemeingültiger, d.h. auf jeden Fall einer Meinungsfixierung anzuwendender Obersatz verstanden und praktiziert würde. Der konkrete Inhalt der vertretenen Rechtsauffassung hätte dann keine Bedeutung. Maßgeblich wäre allein, daß der abgelehnte Richter sich in irgendeinem Sinn schon einmal zu der aktuell anstehenden Rechtsfrage geäußert hätte.

Von einem solchen ausschließlich möglichen Rechtsverständnis geht der Gesuchsteller jedoch erkennbar selbst nicht aus. Stünde er nämlich auf dem Boden dieser einzig in Betracht kommenden Gesetzesinterpretation, hätte er alle Richter des Hessischen Landessozialgerichts, die bisher zur Frage der Berufung ehrenamtlicher Richter mit Entscheidungen und Äußerungen hervorgetreten sind, als befangen ablehnen müssen. Das hat er nicht getan, sondern sich – wie seine vorgetragene Begründung im Zusammenhang mit der namentlichen Nennung bloß von Richtern des 9. und 8. Senats ergibt – bewußt auf Richter beschränkt, die eine von seiner, des Gesuchstellers Meinung abweichende Rechtsauffassung vertreten. Richter des 12. Senats, die laut Geschäftsverteilungsplan für das Hessische Landessozialgericht im Weg der "Ergänzenden Vertretung durch Beisitzer” bei Verhinderung der originären sowie erststufig vertretenen Besetzung des 9. Senats zur Entscheidung über die Amtsenthebung berufen wären, hat er nicht abgelehnt; sie sind nämlich mit den beisitzenden Richtern des 1. Senats personenidentisch, der in einer früheren Entscheidung eine vom Gesuchsteller gebilligte Rechtsansicht zur Frage der Berufung ehrenamtlicher Richter kundgetan hat.

Dem Gesuchsteller gilt damit als maßgebliches Kriterium für die Prüfung, ob ein Richter ihm gegenüber befangen ist oder nicht, die Divergenz der Rechtsauffassungen zwischen ihm und dem Richter. Wie wenig jedoch auch dies die gesetzliche Funktion des Richters sachlich trifft, wird nicht nur aus dem bloßen Hinweis auf den in sämtlichen Prozeßgesetzen unserer Rechtsordnung stillschweigend vorausgesetzten Grundsatz deutlich, daß "das Gericht das Recht kennt” (iura novit curia) und seine Rechtsauffassung für die Fallbeurteilung ausschlaggebend ist. Die Fehleinschätzung erhellt vielmehr unmittelbar auch aus der Überlegung, daß vom Standpunkt des Gesuchstellers aus jede Prozeßpartei, die einen Rechtsstreit verliert, weil sie sich mit ihrer Rechtsauffassung bei Gericht nicht hat durchsetzen können, in der für sie ungünstigen Entscheidung ein funktionswidriges Verhalten des zuständigen Richters sehen und diesen damit für befangen halten müßte – ein Ergebnis, das die grundsätzliche kontradiktorische Struktur der deutschen Gerichtsverfahren ad absurdum führte.

III. Die dargelegte Beschränkung der Argumentation des Gesuchstellers macht deutlich, daß die gestellten Gesuche entgegen ihrer förmlichen Bezeichnung als Richterablehnung in Wahrheit eine Bedeutung haben, die vom Rechtsinstrument der Ablehnung gemäß § 60 Abs. 1 SGG i.V.m. §§ 42 ff. ZPO inhaltlich nicht gedeckt wird, und auf ein Ziel gerichtet sind, das vom Gesetz nicht der Verfügungs- oder auch nur Beeinflussungsmöglichkeit von Verfahrensbeteiligten anheim gegeben ist. Mit der Befugnis, einen Richter wegen eines "Grundes, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen” (§ 42 Abs. 2 ZPO), abzulehnen, soll sichergestellt werden, daß Verfahrensablauf und -entscheidung aus der Sicht eines vernünftig urteilenden Beteiligten unvoreingenommen und sachorientiert erfolgen, d.h. von personenbezogenen Subjektivismen des Richters und ausserhalb des zu entscheidenden Rechtsstreites angesiedelten Erwägungen freigehalten werden. Nicht damit soll jedoch einem Verfahrensbeteiligten der Weg eröffnet sein, sich den für die konkrete Streitentscheidung zuständigen Richter danach aussuchen zu können, welche Rechtsauffassung der Richter in den für die Fallbeurteilung erheblichen Einzelpunkten vertritt (in diesem Sinn bereits RGZ 44, 402 und BGH NJW 1974, 55 (56)). Welcher konkrete Richter für eine konkrete Rechtssache zuständig ist – und damit: welche konkrete Rechtsauffassung bei umstrittener Rechtslage für den abschließenden Richterentscheid leitend wird –, bestimmt vielmehr ausschließlich der zu Beginn eines Geschäftsjahres allgemein aufgestellte Geschäftsverteilungsplan des Gerichtes, dem als behördlicher Organisation der betreffende Richter angehört. Die Beteiligten des einzelnen Gerichtsverfahrens haben darauf weder abstrakt noch vor allem bezogen auf ihren Rechtsstreit einen gesetzlich legitimierten oder gar formalisierten Einfluß. Die Geschäftsverteilung ist allein Aufgabe der Selbstverwaltung der Gerichte und steht unter dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit (BGHZ 46, 148).

Es entspricht allgemeinen Rechtsgrundsätzen, daß ein rechtlich unzulässiger Erfolg nicht auf dem Umweg über die Anwendung einer anderen Zwecken dienenden Rechtsfigur herbeigeführt werden darf und kann. Der dennoch in dieser Richtung unternommene Versuch ist als Rechtsmißbrauch unwirksam und unbeachtlich. Das Bemühen eines Verfahrensbeteiligten, sich einer von ihm bekämpften Rechtsauffassung des geschäftsplanmäßigen zunächst zuständigen Richters dadurch zu entziehen, daß er den Richter ablehnt und mit Hilfe des danach eingreifenden Vertretungsmechanismus zu einem anderen Richter gelangt, der eine ihm genehme Ansicht vertritt (u.U. sogar wie hier in Wiederholung dieser Prozedur), stellt einen derartigen unstatthaften Gebrauch einer Rechtsfigur in Richtung auf ein rechtlich ausgeschlossenes Ergebnis dar. Es hieße die grundgesetzliche Garantie des "gesetzlichen Richters” (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) in das Belieben der Verfahrensbeteiligten zu stellen, wollte man das Vorgehen anders bewerten.

IV. Die Mißbräuchlichkeit und Unbeachtlichkeit der Ablehnungsgesuche hat zur Folge, daß die abgelehnten Richter die Legitimation haben, die sie betreffenden Ablehnungsgesuche in eigener Person als unzulässig zu verwerfen. Sie müssen dies allerdings nicht (vgl. BSG in SGb 1976, 286; BGH in NJW 1968, 710; Meyer-Ladewig, SGG mit Erläuterungen, 2. neubearbeitete Auflage, Anm. 10 zu § 60). Daraus ergibt sich für den vorliegenden Fall einerseits, daß die gegen die erkennenden Richter des 9. Senats, den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Schulz, den Richter am Landessozialgericht Meyer und die Richterin am Sozialgericht Immel-Schelzke, gestellten Ablehnungsgesuche nicht notwendig durch diese Richter selbst zu verwerfen waren. Schon allein wegen der lediglich möglichen Mitwirkung abgelehnter Richter bei rechts mißbräuchlichen Ablehnungsgesuchen konnten sie sich – wie geschehen – der Entscheidung durch Abgabe der Sache verbindlich entledigen. Welche Rechtsauffassung die damit aus dem Entscheidungsprozeß über die Ablehnungsgesuche ausgeschiedenen drei Richter zur Frage der Zulässigkeit der Gesuche im einzelnen vertreten haben, ist für den weiteren Verlauf in jeder Beziehung unerheblich. Andererseits waren die geschäftsplanmäßig erststufigen Vertreter der abgelehnten Richter, der Richter am Landessozialgericht Bergmann und die Richterin am Landessozialgericht Balser, unter den gegebenen Umständen nicht gehindert, über die auch gegen sie gerichteten Ablehnungsgesuche zusammen mit dem nicht abgelehnten ständigen Mitglied des 9. Senats, dem Richter am Landessozialgericht Prof. Dr. Baltzer, selbst zu befinden und diese im Verhältnis zu den Ablehnungsgesuchen gegen die erkennenden Richter des 9. Senats denkgesetzlich vorrangigen Ablehnungsgesuche angesichts des identischen Ergebnisses zusammen mit allen anderen Ablehnungsgesuchen auch durch gemeinsamen Beschluss als unzulässig zu verwerfen.

V. Eine mündliche Verhandlung hat der Senat für nicht erforderlich gehalten, § 46 Abs. 1 ZPO.

VI. Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar, da ihn das Landessozialgericht erlassen hat, § 177 SGG.
Rechtskraft
Aus
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