L 5 V 1180/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1180/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Ein Rückerstattungsanspruch kann nur dann zur Aufrechnung gestellt werden, wenn er besteht.
2) Ein freiwilliges Mitglied einer AOK ist mit Leistungen für Krankheiten ausgeschlossen, die schon bei Beginn der Mitgliedschaft vorgelegen haben (§ 310 Abs. 2 RVO). Hierzu zählen auch Gesundheitsstörungen, die als Schädigungsfolgen nach dem BVG anerkannt sind.
3) Eine Krankheit liegt vor, wenn Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit besteht. Behandlungsbedürftigkeit bedeutet nicht, dass die Krankheit auch tatsächlich behandelt worden sein muss.
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. November 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Rückerstattung von nach Auffassung des Beklagten zu Unrecht erstatteten Heilbehandlungskosten nach § 20 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die kriegsbeschädigte Frau M. M. (MM) bezieht von dem Beklagten nach dem rechtskräftigen Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 9. Februar 1956 eine Rente nach dem BVG nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. wegen "Zustand nach Gehirnschädigung mit neurologischen Ausfallerscheinungen”. Sie war ab 3. Mai 1960 freiwilliges Mitglied der Klägerin.

Mit Schreiben vom 7. Mai 1968 an die Klägerin forderte der Beklagte nach seiner Auffassung zu Unrecht erstattete Kosten nach § 20 BVG betr. die Heilbehandlung der MM für die Quartale III/66 bis III/67 von DM 50,54 zurück. Die Klägerin habe zu Unrecht Ersatzansprüche wegen Behandlung von Schädigungsfolgen für solche Beschädigte geltend gemacht, die – wie MM – freiwillige Kassenmitglieder nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) und deshalb nach der Kassensatzung ohne Leistungsanspruch bei Behandlung von Schädigungsfolgen seien.

Die Klägerin hat hierauf mit Schreiben vom 10. Mai 1968 die Rückerstattung des obigen Betrages abgelehnt. Der Leistungsausschluß beruhe vorliegend auf der Gesetzesvorschrift des § 310 Abs. 2 RVO, der sich nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29.7.1965 – 3 RK 56/60 – auf die zur Zeit des freiwilligen Beitritts bestehenden behandlungsbedürftigen Erkrankungen beziehe und auch für Schädigungsfolgen gelte. Der Ausschluß bestehe solange, wie die Erkrankung behandlungsbedürftig sei und deshalb einen einheitlichen Versicherungsfall bilde. Dies sei hier nach der Aktenlage und den anerkannten Schädigungsfolgen seit Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft der Fall.

Mit Schreiben vom 25. November 1968 wandte der Beklagte demgegenüber ein, der Ausschluß nach § 310 Abs. 2 RVO bestehe nur solange wie die Erkrankung eine laufende Krankenpflege erforderlich mache oder deshalb Arbeitsunfähigkeit bestehe. Dies sei auch offenbar die Auffassung von Peters (Handbuch der Krankenversicherung Teil II, Erläuterung 4 b zu § 310 RVO), wonach hier nicht nur Krankheiten in medizinischem Sinne gemeint seien. Vorliegend habe jedoch wegen der Schädigungsfolgen keine Notwendigkeit zu laufender Krankenpflege bestanden. Im übrigen reduzierte der Beklagte die Rückforderung auf DM 29,54.

In dem weiteren Schriftwechsel blieb die Klägerin bei ihrer Auffassung, daß eine Notwendigkeit zu laufender Krankenpflege vorliegend bestanden habe; auch nach Auskunft des behandelnden Neurologen Dr. H. sei MM wegen der Schädigungsfolgen ab 3. Mai 1960 laufend behandlungsbedürftig gewesen. Darauf, ob sie tatsächlich laufend ärztliche Hilfe in Anspruch genommen habe, komme es nach dem Gesetzeswortlaut und der in der gesetzlichen Krankenversicherung herrschenden Meinung nicht an.

Demgegenüber hielt der Beklagte an seiner gegenteiligen Auffassung fest, zumal MM nach den vorliegenden Belegen keine laufende Heilbehandlung in Anspruch genommen habe.

Hierauf erhob die Klägerin eine Feststellungsklage gegen den Beklagten. Außer ihrem bisherigen Vorbringen trug sie vor, MM sei vom 3. Mai 1960 bis 31. Dezember 1967 freiwilliges Kassenmitglied nach § 176 RVO gewesen; solange sei ihr für Schädigungsfolgen Heilbehandlung gemäß § 10 Abs. 1 BVG gewährt worden. Ferner machte sie geltend, auch nach der zum Krankheitsbegriff nach dem 2. Buch der RVO ergangenen Rechtsprechung werde nur auf die Behandlungsbedürftigkeit und nicht auf die tatsächlich erfolgte Behandlung abgestellt.

Demgegenüber machte der Beklagte weiterhin geltend, daß keine laufende ärztliche Behandlung erfolgt sei, was daraus hervorgehe, daß in den Quartalen I bis III/61 und IV/62 bis I/63 keine Bundesbehandlungsscheine für MM ausgestellt worden seien. An einer Rückforderung für die Zeit vor dem Quartal III/66 sei er nur durch § 21 Abs. 2 BVG gehindert.

Mit Urteil vom 5. November 1971 stellte das Sozialgericht Darmstadt antragsgemäß fest, daß der Beklagte keinen Anspruch auf Rückforderung der bereits gezahlten Kosten gemäß § 20 BVG für die Beschädigte MM habe; zugleich wurde die Berufung gegen das Urteil zugelassen. Die negative Feststellungsklage sei begründet, da dem Beklagten infolge Verjährung nach § 21 Abs. 2 BVG kein Rückerstattungsanspruch zustehe. Die einschlägige zweijährige Verjährungsfrist sei vorliegend vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1970 gelaufen. Die Verjährung sei nicht unterbrochen worden, insbesondere auch nicht durch das vorliegende Klageverfahren. Dies sei nicht nach § 209 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) der Fall gewesen, da nicht der Anspruchsberechtigte (also das Land Hessen) geklagt habe, aber auch nicht durch die Verteidigung des Beklagten, zumal dieser keine Widerklage erhoben habe. Schließlich sei auch keine Unterbrechung der Verjährung durch die Geltendmachung des Rückerstattungsanspruchs mit dem Schreiben des Beklagten vom 7. Mai 1968 eingetreten, da auch insoweit nur die Klageerhebung ausreichend gewesen wäre. Im übrigen sei die eingetretene Verjährung nach herrschender Meinung von Amts wegen zu beachten.

Gegen dieses ihm am 19. November 1971 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. Dezember 1971 Berufung eingelegt. Nach seiner Auffassung ist die streitige Forderung deshalb nicht verjährt, weil sie infolge Aufrechnung nach § 389 BGB bereits seit langem erloschen sei. Das Versorgungsamt habe nämlich bereits am 15. September 1969 in dem Kostennachweis II/69 der Klägerin den streitigen Betrag von DM 29,54 DM abgesetzt.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 5. November 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der Beklagte habe § 390 BGB übersehen, wonach eine Forderung nicht aufrechenbar sei, wenn ihr eine Einrede entgegenstehe. Diese Einrede sei hier in der sachlich begründeten Ablehnung der gegnerischen Forderung mit Schreiben vom 10. Mai 1968 zu erblicken. Im übrigen betrage ihre Forderung DM 38,05. Die Klägerin legte ferner den ärztlichen Bericht des Neurologen Dr. H. vom 20. Dezember 1968 vor.

Demgegenüber wendet der Beklagte ein, die Klägerin verkenne offenbar den Begriff der Einrede im Sinne des BGB. Die Ablehnung einer Forderung sei jedenfalls keine Einrede.

Auf den weiteren Inhalt der Gerichts- und Versorgungsakten sowie der beigezogenen Abrechnungsunterlagen der Beteiligten, welcher zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde, wird im einzelnen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig. Insbesondere ist die an sich nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossene Berufung wegen Zulassung durch das Sozialgericht nach § 150 Nr. 1 SGG statthaft. An diese Zulassung ist das Landessozialgericht nach herrschender Meinung gebunden (Hofmann-Schroeter, 2. Aufl., Anm. 2 zu § 150 SGG). Die Berufung ist jedoch unbegründet. Der Entscheidung des Sozialgerichts ist jedenfalls im Ergebnis beizupflichten. Wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, ist der vom Beklagten geltend gemachte Rückerstattungsanspruch verjährt. Nach § 21 Abs. 2 BVG verjähren solche Ansprüche in zwei Jahren die Verjährung beginnt mit Ablauf des Jahres, in dem der Kostennachweis der Verwaltungsbehörde vorgelegt worden ist. Da letzteres nach der Erklärung des Beklagtenvertreters im Verhandlungstermin im Frühjahr 1968 der Fall war, lief die Verjährungsfrist vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1970. Eine Unterbrechung dieser Verjährung ist nicht eingetreten, wie schon das Sozialgericht zutreffend im einzelnen und insoweit auch vom Beklagten unwidersprochen ausgeführt hat.

Der Beklagte kann auch nicht geltend machen, zu einer Verjährung seiner streitigen Forderung habe es deshalb nicht kommen können, weil sie durch eine innerhalb der Verjährungsfrist erfolgte Aufrechnung nach §§ 387, 389 BGB schon seit langem erloschen sei. Der vom Beklagten geltend gemachte Rückerstattungsanspruch bestand nämlich überhaupt nicht. Vielmehr war der ihm gegenüber schon seinerzeit von der Klägerin erhobene rechtshindernde Einwand aus § 310 Abs. 2 RVO begründet und stand deshalb eine Aufrechnung entgegen. MM war nämlich nach dieser Vorschrift mit ihren seit Beginn der freiwilligen Mitgliedschaft bei der Klägerin als "Erkrankung” bzw. "Krankheit” bezeichneten Schädigungsfolgen von den Kassenleistungen ausgeschlossen. Nach Peters (Handbuch der Krankenversicherung Teil II, Anm. 4 b zu § 310 RVO) wurde das Wort "Erkrankung” gewählt, um klarzustellen, daß bloße Krankheitsanlage nicht genügt, die Krankheit vielmehr beim Beitritt bereits eingetreten sein muß. Dabei ist Krankheit nicht in medizinischem Sinne, sondern als ein Zustand zu verstehen, der die Notwendigkeit der Krankenpflege oder Arbeitsunfähigkeit begründet; es muß sich also ma.W. um eine behandlungsbedürftige Erkrankung handeln. Ähnlich ist auch die Rechtsprechung des BSG von der Voraussetzung der Behandlungebedürftigkeit ausgegangen.

Behandlungsbedürftigkeit ist aber keineswegs gleichbedeutend mit tatsächlich erfolgter Behandlung, was der Beklagte offensichtlich verkennt. Nach der Lebenserfahrung werden behandlungsbedürftige Krankheiten häufig aus den verschiedensten Gründen tatsächlich nicht behandelt. Insoweit sagt auch Peters an anderer Stelle (Anm. 3 c aa. zu § 182 RVO) klar und eindeutig sowie ganz allgemein zum Begriff der Krankheit als Versicherungsfall im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung: "Im übrigen kommt es auf die Notwendigkeit der Heilbehandlung an, nicht auch darauf, ob diese Behandlung in Anspruch genommen wird”. Dem hat sich der Senat angeschlossen. Peters fordert a.a.O. nur, daß die Krankheit nach außen wahrnehmbar sein muß. Diese Forderung ist sowohl sinngemäß nach dem von der Klägerin zitierten und vorgelegten fachärztlichen Bericht des Neurologen Dr. H. erfüllt, weil danach fortlaufende Behandlungsbedürftigkeit seit 1960 bestanden hat. Ferner folgt das daraus, daß bei MM ein "Zustand nach Gehirnschädigung mit neurologischen Ausfallerscheinungen” rechtskräftig als Schädigungsfolge mit Schwerbeschädigteneigenschaft anerkannt war und ist. Insoweit ist ferner auffällig, daß in den drei Bundesbehandlungsscheinen des Jahres 1967 der zuständige Versorgungsarzt jedes Mal den ursächlichen Zusammenhang der behandelten Beschwerden mit der anerkannten Schädigungsfolge bejaht und damit auch die Behandlungsbedürftigkeit anerkannt hat.

Somit war, wie geschehen, zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil kein gesetzlicher Grund hierfür ersichtlich war.
Rechtskraft
Aus
Saved