L 5 V 1142/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 1142/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die arterielle Komplikation muss nach den Rundschreiben des BMA – 25.4.68 und 29.8.68 – in gehörigem zeitlichen Abstand zu den Einwirkungen einer Kriegsgefangenschaft eingetreten sein.
Ernährungsstörungen auf Grund einer durchgemachten, Dystrophie unmittelbar nach der Gefangenschaft bilden kein Brückensymptom, wenn die Komplikation erst nach 21 Jahren aufgetreten ist.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 29. Oktober 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin ist die Witwe des 1907 geborenen und vermutlich an einem Herzinfarkt am 25. April 1971 verstorbenen K. P. (künftighin P. genannt). Sie nahm als Rechtsnachfolgerin das Verwaltungsverfahren auf, das durch den Antrag des P. am 13. Juli 1970 eingeleitet worden war. Er hatte Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Amputation des linken Oberschenkels beantragt, die am 17. April 1970 wegen arterieller Durchblutungsstörung des linken Beines in der Chirurgischen Klinik der J.-Universität F. vorgenommen worden war. Bereits vom 14. Februar bis 4. Mai 1968 hatte eine stationäre Behandlung stattgefunden. Wegen einer Lungentuberkulose war vom 6. November 1968 bis 19. Juni 1969 im Zentrum der Inneren Medizin eine weitere Behandlung durchgeführt worden.

Unter Auswertung der Befundberichte über diese Behandlungen und der Befunde des Jahres 1947 meinte Dr. S. in der versorgungsärztlichen Äußerung vom 26. August 1971, der Verlust des linken Beines stehe in keinem ursächlichen Zusammenhang mit den Einwirkungen der russischen Kriegsgefangenschaft, sondern sei Folge von arteriellen Durchblutungsstörungen, die erst 1967 aufgetreten seien. Da außerdem auch kein zeitlicher Zusammenhang gegeben sei, könne eine Kannversorgung nicht vorgeschlagen werden. Die 1968 aufgetretene Lungentuberkulose sei gleichfalls nicht ursächlich auf kriegs- und gefangenschaftsbedingte Einwirkungen zurückzuführen. Für das Ableben seien Herzkranzgefäßveränderungen verantwortlich zu machen.

Mit Bescheid vom 1. Oktober 1971 wurde der Antrag abgelehnt, da der Verlust des Beines keine Schädigungsfolge im Sinne des § 1 BVG sei. Eine Kannversorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG könne wegen Fehlens des zeitlichen Zusammenhangs ebenfalls nicht gewährt werden. Die 1968 aufgetretene Lungentuberkulose sei gleichfalls keine Schädigungsfolge.

Mit dem Widerspruch machte die Klägerin geltend, P. habe bereits seit 1947 immer in ärztlicher Behandlung gestanden.

Nachdem Dres. G. und Sc. die versorgungsärztlichen Äußerungen vom 28. Februar und 3. August 1972 abgegeben hatten, lehnte der Hessische Sozialminister am 21. August 1972 seine Zustimmung zur Gewährung einer Kannleistung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG ab.

Der Widerspruchsbescheid vom 29. Dezember 1972 führte noch aus, zu dem Beinverlust hätten arterielle Durchblutungsstörungen geführt, deren erste Erscheinungen im September 1967 aufgetreten seien. Die Befundberichte der Orthopädischen Klinik W. aus 1947 enthielten lediglich Angaben über erhebliche Fußverbildungen im Sinne von Knick-Senkfüßen mit ödematösen Schwellungen beider Unterschenkel. Die 21 Jahre nach der Entlassung aufgetretenen arteriellen Durchblutungsstörungen stünden somit weder zeitlich noch ursächlich mit schädigenden Einwirkungen im Sinne des § 1 BVG in einem Zusammenhang. Dieser Tatbestand schließe damit auch eine Versorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG aus.

In dem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Frankfurt/Main hat die Klägerin unter Hinweis auf die Tagebücher des verstorbenen P. sowie auf eine Fotografie vorgetragen, er habe seit seiner Rückkehr aus der russischen Kriegsgefangenschaft im Oktober 1946 immer an Schmerzen in den Beinen gelitten. Besonders links seien quälende Beschwerden aufgetreten. Er habe deshalb Ärzte konsultiert.

Demgegenüber hat der Beklagte ausgeführt, die Befundberichte über die Behandlungen nach 1946 lägen vor. Aus dem Befundbericht des Dr. P. vom 16. Juni 1970 folge, daß sich erst im September 1967 die Schmerzzustände als Ausdruck der Durchblutungsstörung bemerkbar gemacht hätten. Es hätte deshalb ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden müssen. Wegen des zeitlichen Abstands von 20 Jahren sei ein Zusammenhang der Krankheitserscheinungen, die zur Amputation und letzten Endes zum Tode des P. geführt hätten, mit schädigenden Einwirkungen im Sinne des § 1 BVG abzulehnen.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben und von dem Zentrum der Chirurgie der Universität F. das Gutachten vom 1. August 1973 eingeholt. Prof. Dr. Sa. hat darin mit dem Oberarzt der Klinik Dr. T. die Ansicht vertreten, die Hauptursache für die arterielle Durchblutungsstörung, die zu der Amputation des linken Oberschenkels geführt habe, sei die arterielle Sklerose. Wehrdienst- oder Kriegsgefangenschaftseinflüsse kämen als Ursache dafür nicht in Frage. Als provozierende Faktoren seien auch nicht die Ekthyma und die Ernährungsstörungen der beiden Beine nach der Gefangenschaft anzusehen.

Mit Urteil vom 29. Oktober 1973 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, eine Beschädigtenrente könne nicht gewährt, werden, da der Verlust des linken Beines nicht auf Einflüsse des Krieges oder der Gefangenschaft zurückgehe. Als ursächliche Faktoren seien vielmehr dafür ausgeprägte arteriosklerotische Veränderungen der Arterien der linken unteren Extremität anzusehen. Die nach 1947 entstandenen Beinbeschwerden seien dafür nicht ursächlich gewesen. Eine Kannversorgung käme gleichfalls nicht in Betracht, da sich die arteriosklerotische Komplikation erst 1967 und damit rund 20 Jahre nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft eingestellt habe.

Gegen das der Klägerin am 20. November 1973 abgesandte Urteil ist die Berufung am 3. Dezember 1973 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen.

Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 29. Oktober 1973 sowie den Bescheid vom 1. Oktober 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1972 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, unter Anerkennung des Verlustes des linken Beines im Oberschenkel Beschädigtenrente nach einer noch festzustellenden MdE zu gewähren,
hilfsweise,
den Bescheid vom 1. Oktober 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1972 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Versorgungsakte hat vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakte beider Rechtszüge, der auszugsweise in der mündlichen Verhandlung vorgetragen worden ist, wird zur Ergänzung des Tatbestandes Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig; sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 150 Nr. 3, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Sie ist jedoch unbegründet.

Der Bescheid vom 1. Oktober 1971, der in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Dezember 1972 Gegenstand der Klage geworden ist (§ 95 SGG), ist zu Recht ergangen, denn die Klägerin kann weder den Rechtsanspruch auf Versorgung mit Erfolg geltend machen noch die Gewährung einer Kannversorgung begehren. Als Rechtsgrundlage kommt einmal § 1 Abs. 1 i.V.m. §§ 1 Abs. 3 Satz 1, 62 Abs. 1 BVG und zum anderen § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG in Betracht. Hiernach hat derjenige, der durch eine militärische Dienstverrichtung oder durch die dem militärischen Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung Anspruch auf Versorgung. Zur Anerkennung einer Gesundheitsschädigung als Schädigungsfolge genügt dabei die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann weiterhin mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Versorgung in gleicher Weise wie für Schädigungsfolgen gewährt werden (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BVG).

Was die Versorgung aufgrund des Rechtsanspruchs angeht, so liegt eine Wahrscheinlichkeit im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm nicht vor. Denn die ersten Erscheinungen der arteriellen Durchblutungsstörungen sind nach der aktenkundigen Vorgeschichte im Jahre 1967 in Form von Schmerzzuständen im linken Unterschenkel und beginnendem intermittierenden Hinken aufgetreten. Dabei war der Verlauf dieser Erkrankung so progressiv, daß bereits die erste Operation im Februar 1968 in Form einer Symphathektomie erforderlich wurde, während die zweite Operation im April 1970, nachdem sich erhebliche Ernährungsstörungen am linken Unterschenkel eingestellt hatten, zur Amputation des Beines führte. Irgendwelche Ausfallerscheinungen oder sonstige andere Krankheitszeichen, die bis in die Zeit der Kriegsgefangenschaft 1946 hineinreichen und damit als Brückensymptome gewertet werden könnten, sind nach der überragenden Beurteilung der im Verwaltungsverfahren gehörten Ärzte Dres. S., G. und Sc. nicht vorhanden. Das ist im übrigen auch die Auffassung des im sozialgerichtlichen Verfahren gehörten medizinischen Sachverständigen Prof. Dr. Sa., der gleichfalls unter Auswertung der Behandlungsunterlagen der Jahre 1946/1947 zu der zutreffenden Ansicht gelangte, daß sowohl die damals behandelten Ekthyma und die Ernährungsstörungen der beiden Beine keine provozierenden Faktoren für die arterielle Durchblutungsstörung bilden. Insoweit wird von ihm zu Recht darauf hingewiesen, daß, wenn die Behauptung der Klägerin richtig sein sollte, die Symptome wesentlich früher zur Manifestation hätten kommen müssen und nicht erst im Herbst 1967. Im übrigen lassen die Behandlungsvorgänge aus dem Jahre 1947 auch nur erkennen, daß damals erhebliche Fußverbildungen vorgelegen haben. Die Behandlung wurde wegen Knick-Senkfüßen mit ödematösen Schwellungen beider Unterschenkel durchgeführt. Die damals eingeleiteten Behandlungsmaßnahmen waren auch erfolgreich. Denn die Ödeme wurden ausgeschwemmt und die Beschwerden durch die Knick-Senkfußbildung durch orthopädische Einlagen beseitigt. Damit sind diese Erkrankungen, die sich im Anschluß an die russische Kriegsgefangenschaft gezeigt haben, keine Brückensymptome, so daß ihnen keine spezifische Bedeutung für die erst 1967 aufgetretenen arteriellen Durchblutungsstörungen zugemessen werden kann. Das haben mit Sicherheit die gehörten medizinischen Gutachter und Sachverständigen ausgeschlossen. Hiernach ist der Senat, ebenso wie das Sozialgericht, der Überzeugung, daß ein ursächlicher Zusammenhang nicht vorliegt.

Eine Kannversorgung gem. § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG kommt ebenfalls nicht in Betracht. Das hat der Beklagte ohne erkennbaren Ermessensfehler festgestellt. Seine Ablehnung hat die Zustimmung des Hessischen Sozialministers gefunden und hält sich im Rahmen des Rundschreibens des Bundesarbeitsministers vom 25. April 1968, welches durch das Rundschreiben vom 29. August 1966 ergänzt worden ist. Bei dieser Ermessensleistung ist das Ermessenshandeln der Behörde von dem Vorliegen gewisser Voraussetzungen abhängig. Zu den tatbestandsmäßigen Leistungsvoraussetzungen gehört nicht nur, daß über die Ursache der Erkrankung in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, sondern, daß die angeschuldigten Schädigungen nach den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft geeignet sein müssen, das Leiden hervorzurufen. Die arteriosklerotischen Komplikationen des P. gehören zwar zu denjenigen Leiden, aber deren Ursache in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, jedoch sind im vorliegenden Falle die angeschuldigten schädigenden Einwirkungen nach der Erfahrung der medizinischen Wissenschaft nicht geeignet, die bei P. im Jahre 1967 aufgetretenen arteriellen Durchblutungsstörungen zu verursachen. Das haben die gehörten medizinischen Gutachter Dres. S., G. und Sc. sowie der medizinische Sachverständige Prof. Dr. Sa. zutreffend ausgeführt. Nach dem Rundschreiben des BMA kommt eine Kannversorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG im übrigen nur dann in Betracht, wenn die arteriosklerotische Komplikation bis zu 10 Jahren nach einer Gefangenschaft unter extremen Lebensbedingungen von mindestens dreijähriger Dauer und in einem Lebensalter bis zu 50 Jahren aufgetreten ist, sofern die der Komplikation zugrundeliegende Arteriosklerose bis in die Zeit der extremen Lebensverhältnisse oder der Reparationsphase zurückzuverfolgen ist und sofern nicht in ihrer ursächlichen Bedeutung bekannte Faktoren als Ursache angesehen werden müssen. Da bei P. erst im Herbst 1967 arterielle Durchblutungsstörungen sich bemerkbar gemacht haben, fehlt es von vornherein am zeitlichen Zusammenhang. Denn die Beschwerden in beiden Beinen im Jahre 1947 sind nach den eindeutigen fachorthopädischen Unterlagen nicht als arterielle Durchblutungsstörungen zu werten, sondern waren durch Knick-Senkfüße und durch Narben an beiden Unterschenkeln nach offenen Stellen bei Distrophie durch Ernährungsstörungen ausgelöst. Hätte es sich dabei schon um die von der Klägerin behauptete Durchblutungsstörungen gehandelt, wäre die Manifestation des Gefäßleidens mit Gefäßverschluß viel früher und nicht erst 21 Jahre später eingetreten, worauf zu Recht auch die begutachtende Ärztin Dr. Sc. wie gleichfalls der medizinische Sachverständige Prof. Dr. Sa. hingewiesen haben. Weiterhin ist auch die Grundvoraussetzung einer mindestens dreijährigen Kriegsgefangenschaft unter extremen Lebensbedingungen nicht gegeben.

Hiernach konnte der Senat sich nicht die Überzeugung verschaffen, daß Anhaltspunkte für einen zeitlichen Zusammenhang der arteriellen Durchblutungsstörung mit Einflüssen des Kriegsdienstes oder der Kriegsgefangenschaft bestehen. Damit sind die Voraussetzungen für eine Kannversorgung nach § 1 Abs. 3 Satz 2 nicht gegeben, so daß zu Recht in den angefochtenen Bescheiden die Gewährung einer Kannleistung abgelehnt worden ist. Ein Ermessensfehler kann darin nicht erblickt werden.

Der Berufung war daher der Erfolg zu versagen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG kam nach Lage des Falles nicht in Betracht.
Rechtskraft
Aus
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