Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 9 UL 142/70
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 638/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Berufung ist auch dann in vollem Umfang zulässig, wenn sich neben der Gewährung von Hinterbliebenenrente Sterbegeld und Überbrückungshilfe im Streit befinden.
2. Bei einem selbständigen Landwirt, der 3 Monate vor seinem Unfalltod zusätzlich als ständiger Waldarbeiter Beschäftigung gefunden hatte, ist der Jahresarbeitsverdienst (JAV) unter Zugrundelegung seines jährlichen Einkommens als Landwirt und Waldarbeiter zu berechnen. Die Feststellung des JAV gem. § 577 RVO „nach billigen Ermessen” ist gerichtlich in vollem Umfang, und nicht nur gem. § 54 Abs. 2 SGG nachprüfbar.
2. Bei einem selbständigen Landwirt, der 3 Monate vor seinem Unfalltod zusätzlich als ständiger Waldarbeiter Beschäftigung gefunden hatte, ist der Jahresarbeitsverdienst (JAV) unter Zugrundelegung seines jährlichen Einkommens als Landwirt und Waldarbeiter zu berechnen. Die Feststellung des JAV gem. § 577 RVO „nach billigen Ermessen” ist gerichtlich in vollem Umfang, und nicht nur gem. § 54 Abs. 2 SGG nachprüfbar.
Auf die Berufung der Kläger werden unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Kassel vom 25. Mai 1972 die Bescheide der Beklagten vom 4. Mai 1970 und 5. Juni 1974 dahin abgeändert, daß diese verurteilt wird, die Hinterbliebenenleistungen nach einem Jahresarbeitsverdienst von 16.537,– DM zu berechnen.
Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1925 geborene Ehemann und Vater der Kläger (H.) war von Beruf selbständiger Landwirt und bewirtschaftete ein Unternehmen mit einer Betriebsgröße von ca. 12 ha in der Gemeinde E./Krs. W. Nachdem er in den Jahren 1950 bis 1968 während der Wintermonate vorübergehend bei den Waldinteressenten E. im Holzeinschlag tätig war, wurde er am 17. November 1969 als ständiger Waldarbeiter von der Forstverwaltung von B., E., eingestellt. Beim Baumfällen am 17. März 1970 wurde er von einem stürzenden Baum erschlagen.
Durch Bescheid vom 4. Mai 1970 gewährte die Beklagte den Klägern Hinterbliebenenrente, Überbrückungshilfe und Sterbegeld. Der Berechnung legte sie den an 78 Arbeitstagen als Waldarbeiter erzielten Verdienst in Höhe von 3.453,92 DM sowie den vollen durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienst (JAV) eines landwirtschaftlichen Unternehmers in Höhe von 5.130,– DM, insgesamt 8.523,92 DM, zugrunde.
Gegen den am 4. Mai 1970 zur Post aufgelieferten Bescheid haben die Kläger am 1. Juni 1970 bei dem Sozialgericht Kassel (SG) Klage erhoben. Sie begründeten diese damit, der Verstorbene habe aus Rentabilitätsgründen als nichtselbständiger Arbeitnehmer tätig werden müssen und deshalb die Landwirtschaft nach Verkleinerung zum Nebenerwerb unstrukturiert. Dem JAV lägen die Verhältnisse des Jahres 1963 zugrunde, was dem Strukturwandel in der Landwirtschaft nicht gerecht werde. Wäre der Verstorbene ganzjährig als Waldarbeiter tätig gewesen, so hätte die Beklagte einen JAV von 13.312, DM (ausgehend von einem durchschnittlichen Stundenlohn von 6,40 DM) zugrunde legen müssen. – Nach der von den Klägern vorgelegten Stellungnahme des Kreisbauernverbandes in W. vom 11. Oktober 1971 war der Betrieb des H. in seiner Organisation eindeutig auf den Berufswechsel abgestellt worden, da er ein Defizit in der Berechnung des Arbeitseinkommens von 15.000,– DM aufgewiesen habe.
Durch Urteil vom 25. Mai 1972 hat das SG die Klage abgewiesen. Die von der Beklagten vorgenommene Rentenberechnung habe der gesetzlichen Vorschrift entsprochen und sei nicht in erheblichem Maß unbillig gewesen, da sie die beiden Einkommen aus der Landwirtschaft und der Waldarbeitertätigkeit berücksichtigt habe.
Gegen das ihnen am 8. Juni 1972 zugestellte Urteil haben die Kläger am 5. Juli 1972 Berufung eingelegt. Gegen die Feststellung des JAV aufgrund des § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO bestünden Bedenken, weil der JAV für die Landwirtschaft keine echte Verdienstermittlung, sondern eine von den satzungsgemäßen Organen festgesetzte pauschalierte Größe darstelle. Im vorliegenden Fall scheine es richtiger, die Feststellung aufgrund des § 571 Abs. 1 S. 3 RVO zu treffen, wonach von der Tätigkeit zur Zeit des Unfalles auszugehen und aus den Einkommen der Rückschluß auf das ganze Jahr – und damit die Berücksichtigung eines JAV von mindestens 12.000,– DM – zu ziehen sei. Folge man der Begründung des SG, und zwar nicht nur hinsichtlich der Berechnung des JAV als Arbeitnehmer, sondern auch bezüglich der Hinzurechnung eines Zusatzeinkommens mit dem halben pauschalierten JAV der Landwirte, so komme man auf einen JAV von rund 15.000,– DM, d.h., etwa dem doppelten des JAV, den die Beklagte der Berechnung zugrunde gelegt habe.
Der monatliche pauschalierte JAV aus landwirtschaftlicher Unternehmertätigkeit betrage 420,– DM, während der aus nichtselbständiger Tätigkeit als Waldarbeiter mindestens das Doppelte, nämlich 900,– DM, betragen würde. So gesehen sei der von der Beklagten festgestellte JAV in erheblichem Maße unbillig i.S. des § 577 RVO, der zu Unrecht hier nicht angewendet sei. Der Unterschied sei auch dadurch begründet, daß sich die Unternehmereinkünfte als Landwirt nicht in der gleichen Art und dem gleichen Umfang wie dem der anderen deutschen Arbeitnehmer entwickelt hätten.
Die Entscheidung der Beklagten müsse als ermessensfehlerhaft angesehen werden, da die außergewöhnliche Situation des einen Jahres, in dem der tödliche Unfall sich ereignet habe, nicht als Grundlage für die Feststellung des JAV dienen dürfe. Auch nach Umstrukturierung der Landwirtschaft hätte der Verstorbene diese neben der Tätigkeit als Waldarbeiter weiter betreiben können, mit der Folge, daß dem JAV aus Landwirtschaft der aus Waldarbeitertätigkeit hinzugerechnet werden müsse. Wegen der wirtschaftlichen Entwicklung in der deutschen Landwirtschaft habe der Verstorbene in einen anderen Beruf hinüber wechseln müssen. Schon aus diesem Grunde sei es ermessensfehlerhaft, wenn in der Hauptsache die frühere Tätigkeit voll und die zuletzt ausgeübte hauptberufliche Tätigkeit nur zum geringeren Anteil berücksichtigt werde.
Durch Bescheid vom 5. Juni 1974 hat die Beklagte die Waisenrente für den Kläger zu 2) wegen der nicht abgeschlossenen Berufsausbildung weitergewährt.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 25. Mai 1972 aufzuheben sowie die Bescheide der Beklagten vom 4. Mai 1970 und vom 5. Juni 1974 abzuändern und für die Gewährung der Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung den Jahreslohn eines Forstarbeiters neben dem eines selbständigen landwirtschaftlichen Unternehmers zugrunde zu legen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im wesentlichen für zutreffend. Ihre Rentenberechnung entspreche den gesetzlichen Bestimmungen und sei nicht in erheblichem Maß unbillig, zumal die beiden Einkommen aus Landwirtschaft und Waldarbeitertätigkeit berücksichtigt seien.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten, insbesondere die Auskunft der Forstverwaltung von B., E., vom 14. Februar 1973, Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt.
Wenn neben laufenden Rentenleistungen einmalige und wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen, nämlich Sterbegeld und Überbrückungshilfe des Bundessozialgerichts (BSG) die Berufung insoweit nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen sein, da es sich um prozessual selbständige Teile eines Entschädigungsanspruchs handele (vgl. zuletzt Urteil des BSG vom 12.3.74, 2 RU 289/73). Im vorliegenden Fall ist zwar keine dieser Leistungen dem Grunde nach streitig, weil die Beklagte den Klägern neben Hinterbliebenenrente auch Sterbegeld und Überbrückungshilfe gewährt, wie sich aus dem angefochtenen Bescheid ergibt. Streit besteht hier lediglich darüber, nach welchen JAV diese Leistungen zu berechnen sind. Da aber über den Umfang des Anspruchs der Kläger auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe zu entscheiden ist, muß angenommen werden, daß das BSG seine bisherige Rechtsprechung auch hier für anwendbar hält. Ihr vermag sich der erkennende Senat jedoch nicht anzuschließen. Nach seiner Auffassung ist die Berufung in derartigen Fällen und damit auch in diesem Rechtsstreit in vollem Umfang zulässig, weil es sich um einen einheitlichen prozessualen Anspruch handelt (vgl. z.B. Urteile vom 1.8.1973 – L-3/U – 266/71, vom 22.5.1974 – L-3/U – 1196/72 und vom 30.9.1974 – L-3/U – 831/70).
Der Begriff "Anspruch” i.S. des § 144 Abs. 1 SGG ist ausschließlich in dem allgemeinen prozessualen Sinn als das Begehren einer Prozeßpartei zu verstehen, die Rechtsfolgen eines materiell-rechtlichen Tatbestandes durch Urteil auszusprechen (vgl. u.a. BSG, Urt. vom 20.12.1956 – 3 RK 22/55, BSG 4, 206). Da die verschiedenen Einzelleistungen an Hinterbliebene dem Grunde nach sämtlich davon abhängen, daß der Tod des Versicherten durch einen Arbeitsunfall eingetreten ist (§ 589 Abs. 1 RVO "bei Tod durch Arbeitsunfall ist zu gewähren ”), handelt es sich nach hiesiger Auffassung grundsätzlich um einen einheitlichen prozessualen Anspruch auf alle Hinterbliebenenbezüge. Die Beklagte hat daher auch über die Hinterbliebenenrente, die Überbrückungshilfe und das Sterbegeld nach einem einheitlichen JAV entschieden. Mit der Einlegung der Berufung ist der Anspruch auf alle diese Leistungen infolgedessen in ganzen Umfang beim Berufungsgericht angefallen. Er erfordert seiner Natur nach auch eine einheitliche Entscheidung. Es ist nicht zu vertreten, von dieser Entscheidung einzelne Leistungen auszunehmen und hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung gesondert zu behandeln (vgl. BSG 5, 222). Hierbei ist zu beachten, daß nach § 143 SGG die Berufung gegen sozialgerichtliche Urteile grundsätzlich zulässig ist, soweit nicht die besonderen Ausschlußtatbestände der §§ 144 ff SGG zum Zuge kommen. Es handelt sich dabei um Ausnahmevorschriften, die eng auszulegen sind. Sie sollen nur bezwecken, daß die Berufungsgerichte nicht in Bagatellsachen beansprucht werden, um sie zu entlasten. Dieser Sinn und Zweck wird aber nicht vereitelt, wenn im Berufungsverfahren, das zur maßgebenden Höhe des JAV ohnehin durchgeführt werden muß, die Entscheidung auch die übrigen in § 589 Abs. 1 RVO angeführten Leistungen mitumfaßt. Im übrigen enthalten die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes über die Berufungsausschließungsgründe keine Bestimmung darüber, daß beim Zusammentreffen einer zulässigen Berufung mit einer an sich unzulässigen Berufung diese nicht mit nachgeprüft werden darf (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 250 d I bis III). Eine andere Rechtsanwendung würde zu Ergebnissen führen, die im Interesse der materiellen Gerechtigkeit nicht hingenommen werden können. So müßte den Hinterbliebenen eines Versicherten z.B. das Sterbegeld und die Überbrückungshilfe nach der Klageabweisung durch das Sozialgericht vom Berufungsgericht selbst dann versagt werden, wenn dieses den Tod als Arbeitsunfallfolge feststellt und zur Gewährung von Hinterbliebenenrente verurteilt. Umgekehrt verblieben den Hinterbliebenen diese Leistungen, wenn das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufhebt und die Klage bezüglich der Hinterbliebenenrente abweist. Der Weg zur uneingeschränkten Nachprüfung des erstinstanzlichen Urteils ist nach der Auffassung des BSG nur dann frei, wenn das Sozialgericht im Urteil die Berufung hinsichtlich der von § 144 Abs. 1 SGG erfaßten Leistungen zugelassen hat, was aber nur möglich ist, wenn der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 150 Nr. 1 SGG). Nach der Rechtsprechung des BSG, die in Literatur und Rechtsprechung nicht ohne Widerspruch geblieben ist (vgl. LSG Berlin, Breithaupt 1954, 1197; Bayr. LSG, Breithaupt 1955, 661; LSG Schleswig-Holstein, Breithaupt 1955, Seite 100; BSG GVBl. 1966, 117; BGHZ 2, 16, Peters-Sautter-Wolff, Anm. 2 zu § 150 SGG; Miesbach-Ankenbrank, Anm. 1 zu § 150 SGG), tritt aber bei der Zulassung des Rechtsmittels für das Rechtsmittelgericht keine Bindungswirkung ein, wenn die Zulassung gesetzwidrig ist, d.h., wenn sie offensichtlich unbegründet ist (so: BSG E 2, 540; 6, 70, 10, 240; SozR Nr. 194 zu § 162 SGG; Urteil vom 17. Februar 1972 – 7 RU 27/69; SozR Nr. 44 zu § 150 SGG). Nach dieser Rechtsprechung dürften Berufungszulassungen, die lediglich im Hinblick auf die obengenannte Rechtsprechung des BSG erfolgt sind, um eine einheitliche Entscheidung über alle Entschädigungsansprüche zu ermöglichen, vom Berufungsgericht nicht berücksichtigt werden, weil sie keine Streitigkeiten von grundsätzlicher Bedeutung zum Gegenstand haben, der Senat ist nach alledem der Auffassung, daß die Rechtsprechung des BSG zur Frage des Berufungsausschusses von einzelnen Hinterbliebenenleistungen dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 1 SGG nicht gerecht wird. Das Verfahrensrecht soll den gestörten Rechtsfrieden wiederherstellen und sichern sowie der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit dienen, sich aber nicht zum Selbstzweck erheben. Zwar können Sterbegeld und Überbrückungshilfe auch unabhängig von der Hinterbliebenenrente Gegenstand eines Verwaltungsaktes und eines gerichtlichen Verfahrens sein und stellen dann prozessual selbständige Ansprüche dar (Urteil des BSG vom 12.3.1974, 2 RU 289/73). Werden sie jedoch vom Versicherungsträger gemeinsam mit der Hinterbliebenenrente in einem Verwaltungsakt dem Grunde nach abgelehnt, weil kein Arbeitsunfall vorgelegen habe, oder aber – wie im vorliegenden Fall – anerkannt und besteht nur darüber Streit, nach welchem JAV sie zu berechnen sind, so liegt ein einheitlicher Verwaltungsvorgang vor, der in materiell-rechtlicher Hinsicht im Rechtsmittelverfahren auch einheitlich nachzuprüfen ist (vgl. Brackmann a.a.O., S. 250 d III unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts). Über die Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe bzw. deren Höhe besteht kein isolierter Streit und es wird insoweit auch kein selbständiger Anspruch geltend gemacht.
Die mithin uneingeschränkt statthafte Berufung ist daher zulässig. Sie ist auch begründet.
Der angefochtene Bescheid ist bereits unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten, wonach der JAV nur gem. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO festzustellen ist, rechtswidrig. Die Beklagte hat nämlich die Zeit, in der H. im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, nicht berücksichtigt, wozu sie nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO verpflichtet ist. Da er vom 5. Januar bis 3. Februar 1970 wegen hoher Schneelage als Waldarbeiter arbeitslos war, ist für diese Zeit das Arbeitseinkommen zugrunde zu legen, das seiner letzten Tätigkeit vor der Arbeitslosigkeit entspricht. Sinn dieser Vorschrift ist es, individuell begrenzte Umstände der Vermögensminderung wie z.B. Krankheit oder Arbeitslosigkeit auszugleichen (vgl. Lauterbach, Komm. zur Unfallversicherung, Anm. 4 a zu § 571). Es handelt sich hier nur um die Feststellung des JAV für die Tätigkeit des H. als Waldarbeiter, soweit er von der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid errechnet worden ist, so daß dem Umstand, daß er während seiner nicht mit Arbeitslosengeldbezug verbundenen Arbeitslosigkeit noch selbständiger Landwirt war, keine Bedeutung zukommt. Da sein Entgelt als Waldarbeiter an 78 Arbeitstagen 3.453,92 DM, täglich also 44,28 DM, betrug, hat sich der JAV für die 22 ausgefallenen Arbeitstage um 974,16 DM zu erhöhen.
Darüber hinaus ist der von der Beklagten berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig” (§ 577 Satz 1 RVO). Nach dieser Bestimmung ist der JAV im Rahmen des § 575 nach billigem Ermessen festzustellen, wenn der nach den § 3, 571 bis 576 berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit z. Zt. des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen (vgl. Satz 2 a.a.O.).
Bereits zu § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. hatte das BSG die Auffassung vertreten, der grundlegende, vom Gerechtigkeitsprinzip getragene Grundgedanke dieser Bestimmung sei darauf gerichtet, den Verletzten einen sozialen oder wirtschaftlichen Aufstieg, den sie vor dem Versicherungsfall erreicht haben, in vollem Umfang zugute kommen zu lassen (vgl. Urteil vom 27. April 1960, 2 RU 191/56). Durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UNVG) sind die bisherigen Bestimmungen über den JAV wesentlich erweitert worden. Nach § 577 RVO ist nunmehr die Festsetzung des JAV nach billigem Ermessen in allen Fällen der Berechnung des JAV nach den §§ 571 bis 576 a.a.O. möglich, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß der JAV "in erheblichem Maße” unbillig ist, was jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden muß (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, § 577 RVO Anm. 1 bis 3).
Hierzu hat der 8. Senat des BSG (vgl. Urteil vom 11.10.1973 – 8/2 RU 42/69) in Bezug auf Gastarbeiter die Auffassung vertreten, ob die JAV-Berechnung bei extrem niedrigen ausländischen Verdiensten in erheblichem Maße unbillig sei, hänge im allgemeinen davon ab, welchen Zeitraum die ausländischen Verdienste innerhalb der für die JAV-Berechnung maßgeblichen Jahres einnehmen. Daß dieser Grundsatz nur für ausländische Versicherte gelten soll, wie die Beklagte meint, hat das BSG nicht ausgesprochen. Diese Ansicht ist auch abzulehnen, weil eine unterschiedliche Behandlung deutscher und ausländischer Verletzter bei der Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zulässig ist.
Ferner hat das BSG in dem genannten Urteil nicht zum Ausdruck gebracht, ob der oben angegebene Grundsatz nur bei "extrem niedrigen” Verdiensten – auch in Deutschland – während eines Teils des dem Unfall vorausgegangenen Jahres gelten soll, oder ob es darauf ankommt, daß der Verdienst im Unfallzeitpunkt wesentlich höher oder niedriger ist, als der übrige Verdienst im Jahr vor dem Unfall. Nur letzteres kann richtig sein. Denn auch wenn im Jahre vor dem Unfall für eine bestimmte Zeit ein normales, im Unfallzeitpunkt aber ein wesentlich höheres oder wesentlich niedrigeres Arbeitsentgelt erzielt wird, kann der nach § 571 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig sein. Bei der Prüfung der Frage, ob der JAV in erheblichem Maße unbillig ist, kann es also nur auf die Relation zwischen dem Verdienst im Unfallzeitpunkt und demjenigen im letzten Jahre vor dem Unfall ankommen.
Gegen die Auffassung des BSG, die Frage der erheblichen Unbilligkeit im Sinne von § 577 RVO hänge davon ab, welchen Zeitraum die niedrigen Verdienste innerhalb des für die JAV-Berechnung maßgeblichen Jahres einnähmen, bestehen Bedenken. In Anlehnung an die – andere Rechtsgebiete betreffenden – §§ 168 Abs. 2 a, 1228 Abs. 2 a RVO soll ein niedriger Verdienst während eines Zeitraums von bis zu 5 Monaten hierfür nicht ausreichen. Dem in § 577 Satz 1 RVO gebrauchten Ausdruck "in erheblichem Maße unbillig” wohnt jedoch begrifflich kein Zeitmoment inne. Das BSG hat seine entgegengesetzte Auffassung nicht näher begründet. Die Heranziehung der genannten Bestimmungen ist daher von der Sache her nicht gerechtfertigt und mit der Regelung in den §§ 570 ff. RVO nicht vereinbar. Nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO ist für den JAV nur die Tätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls maßgebend, wenn der Versicherte früher nicht tätig war. Bei einem Versicherten, der bisher ohne Arbeit war und der erst kurze Zeit (bis zu 3 Monaten) vor dem Arbeitsunfall eine mit einem hohen Einkommen versicherte Tätigkeit aufnahm, ist daher der JAV-Berechnung nur dieses Einkommen zugrunde zu legen (erste Fallgruppe). Hatte der gleiche Versicherte aber im Jahre vor dem Unfall im übrigen ein niedrigeres Arbeitseinkommen, etwa bei einem anderen Unternehmer, so läge der JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO bei einem nur sehr kurzfristig bezogenen höheren Einkommen im Unfallzeitpunkt nur unwesentlich über diesem Verdienst und eine Korrektur mit Hilfe des § 577 RVO könnte nach der Rechtsprechung des BSG nicht erfolgen, weil das wesentlich höhere Einkommen nicht mehr als 3 Monate lang bezogen wurde (zweite Fallgruppe). Die Schlechterstellung der Versicherten, die zu der zweiten Fallgruppe gehören, gegenüber denjenigen, die unter die erste Fallgruppe fallen, ist ungerecht. Ungerechtigkeiten dieser Art bei der JAV-Berechnung sollen aber nach dem Willen des Gesetzgebers durch § 577 RVO verhindert werden. Entspricht in Fällen der zweiten Gruppe das nur sehr kurze Zeit bezogene hohe Arbeitseinkommen den "Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten”, so sind diese Umstände nach § 577 Satz 2 RVO bei der JAV-Berechnung ebenso zu berücksichtigen, wie seine "Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls”. Das bedeutet nicht, daß bei den Versicherten dieser Gruppe stets der gleiche JAV festzustellen ist, wie bei der ersten Fallgruppe. Jedenfalls ist aber eine andere Feststellung des JAV nach § 577 RVO zu treffen, wenn der Versicherte im Laufe des letzten Jahres vor dem Unfall seien berufliche Stellung außergewöhnlich verbessern konnte, das höhere Entgelt aber wegen des Arbeitsunfalls nur kurze Zeit bezog, so daß es sich bei der Berechnung nach § 571 Abs. 1 RVO nicht oder nur unwesentlich auswirkt, damit ihm oder seinen Hinterbliebenen die neue berufliche Position bei der Rentenberechnung zugute kommt (so auch Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, Anm. 1 zu § 577; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Teil 2, Seite 130 zu § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F.; Urteil des HLSG vom 9.9.1970, L-3/U – 900/69).
Im vorliegenden Fall kann es allerdings dahingestellt bleiben, ob der Auffassung des BSG zur Frage der Dauer des höheren Arbeitsverdienstes zu folgen ist. H. war nämlich im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall in der Hauptsache selbständiger Landwirt und außerdem an 78 Arbeitstagen als Waldarbeiter tätig, wie die Forstverwaltung von B., E., der Beklagten in dem unter dem 25. März 1970 ausgefüllten Erhebungsbogen über dessen Einkommen in der Zeit vom 17. November 1969 bis 4. Januar 1970 und vom 4. Februar bis 16. März 1970 mitgeteilt hat. Damit hatte er aber mehr als "3 Monate oder insgesamt 75 Arbeitstage” (vgl. BSG a.a.O., S. 21) eine nicht selbständige Tätigkeit als Waldarbeiter ausgeübt. Er war am 17. November 1969 nicht nur vorübergehend, sondern für dauernd in den Dienst der Forstverwaltung von B. eingetreten, weil er in seiner Landwirtschaft kein ausreichendes Einkommen mehr fand. Seine Landwirtschaft hatte er reduziert und wollte sie in dieser Form nur noch als Nebenerwerbstätigkeit beibehalten. Die neue berufliche Tätigkeit, die nach über 3 Monaten durch seinen Tod beendet wurde, bewirkt, daß der von der Beklagten nach § 571 Abs. 1 S. 1 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Sein Arbeitseinkommen als Waldarbeiter hätte nämlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall (vom 17. März 1969 bis 16. März 1970) 11.407,– DM betragen, wie die Forstverwaltung von B. am 14. Februar 1973 mitgeteilt hat, das als selbständiger Landwirt war von der Beklagten gem. § 780 RVO aber nur auf 5.130,– DM festgesetzt worden. Dabei ist gem. 577 Satz 2 RVO zu berücksichtigen, daß H. z.Zt. des Arbeitsunfalls nach seinen Fähigkeiten und seiner Ausbildung nicht nur land- sondern auch forstwirtschaftliche Arbeiten verrichten konnte und auch verrichtete. Während er den Beruf des Landwirts bereits seit langer Zeit ausgeübt hatte, war er bei der Forstverwaltung von B. zwar nur einige Monate tätig gewesen. Wie diese auf Antrage aber im Berufungsverfahren am 14. Februar 1973 mitgeteilt hat, war er bereits seit etwa 1950 "während der Wintermonate unterschiedlich bei den Waldinteressenten E. im Holzeinschlag” tätig gewesen und damit auf den Beruf eines Waldarbeiters vorbereitet. Er war daher seiner Lebensstellung und Erwerbstätigkeit nach im Unfallzeitpunkt in eine berufliche Position aufgestiegen, die sich von der bisher ausgeübten landwirtschaftlichen Tätigkeit erheblich unterschied. Da sich sein weiteres Erwerbsleben auf Dauer geprägt hätte, ist festzustellen, daß die von der Beklagten vorgenommene JAV-Berechnung in erheblichem Maße unbillig ist, da nur die kurze, tatsächliche Beschäftigungsdauer des H. als Waldarbeiter neben seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit berücksichtigt wurde.
Aber auch aus einem weiteren Grunde ist die Feststellung des JAV durch die Beklagte in erheblichem Maße unbillig. Das BSG hat in seinem oben zitierten Urteil (8/2 RU 42/69, S. 22) ferner ausgeführt, daß "in den übrigen fällen”, also dann, wenn keine 3-monatige Beschäftigung mit höherem Arbeitseinkommen vorliegt, die JAV-Berechnung in erheblichem Maße unbillig sein könne, wenn die "tatsächlichen deutschen Verdienste mehr als doppelt so hoch wie die nach den unter V dargelegten Grundsätzen umgerechneten ausländischen Verdienste (im Durchschnitt)” sind. Da bei Verdiensten, die nur in Deutschland erzielt werden, entsprechend das gleiche zu gelten hat, kann also nach dieser Rechtsprechung § 577 RVO angewandt werden, wenn im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls das Arbeitseinkommen mehr als doppelt so hoch ist wie im übrigen Teil des letzten Jahres vor dem Unfall. Das war hier der Fall. Der von der Beklagten nach § 780 RVO festgesetzte JAV in der Landwirtschaft des H. betrug nämlich 5.130,– DM, dessen Arbeitsverdienst als Waldarbeiter aber bereits an 78 Arbeitstagen DM 3.453,92.
Da der JAV nach alledem im vorliegenden Fall in erheblichem Maße unbillig ist, war er von der Beklagten im Rahmen des § 578 RVO "nach billigem Ermessen” festzustellen. Hierbei soll es sich nach allgemeiner Auffassung, auch des BSG, um eine Ermessensentscheidung handeln. Aus dem Urteil des BSG vom 16.12.1970 – 2 RU 239/68 – geht das zwar nicht hervor. Dort ist nur davon die Rede, daß die Beurteilung der Frage, ob ein nach den §§ 571 – 576 RVO errechneter JAV in erheblichem Maße unbillig ist, nicht im Ermessen des Versicherungsträgers liegt. In seinem Urteil vom 11.10.1973 – S/2 RU 42/69 – hat das BSG den Versicherungsträger aber verurteilt, den JAV "nach billigem Ermessen festzustellen”, weil es offenbar der Auffassung war, daß es sich hierbei um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers handelt, die der vollen Nachprüfung durch die Gerichte entzogen ist. Hiergegen bestehen jedoch Bedenken.
In § 577 RVO ist – anders als z.B. in den §§ 184 Abs. 1, 559 Abs. 4 RVO a.F. " kann gewähren ” – die Feststellung des JAV nicht dem pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers überlassen. Die Hinterbliebenenrente ist in keiner Beziehung eine Kannleistung. Ihre Höhe ist daher auch nicht in gewissem Umfang in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt. Keine der Bestimmungen über die Feststellung des JAV (§§ 570 ff. RVO) weist darauf hin. Das Wort "Ermessen” in § 577 Satz 1 RVO allein ist nicht geeignet, die JAV-Feststellung der vollen gerichtlichen Nachprüfbarkeit zu entziehen. Andernfalls hätte der Gesetzgeber bestimmen müssen, daß der Versicherungsträger in diesem bestimmten Fall den JAV nach seinem Ermessen feststellen "kann.” Da es aber in § 577 Satz 1 RVO heißt: "Ist der JAV in erheblichem Maße unbillig, so ist der JAV nach billigem Ermessen festzustellen,” darf diese Bestimmung nur dahin ausgelegt werden, daß der Versicherungsträger bei erheblicher Unbilligkeit des JAV verpflichtet ist, den JAV nach Billigkeitsgrundsätzen festzustellen, also die Billigkeit herzustellen. Durch den Zusatz nach "billigem” Ermessen ist ein objektiver Maßstab für die Feststellung des JAV bestimmt worden. Es kann nicht mehrere "billige” Jahresarbeitsverdienste geben, von denen der Versicherungsträger einen bestimmten aussuchen und allein als billig bezeichnen darf. Vielmehr gibt es nur einen "billigen” JAV. Dessen Feststellung ist der gerichtlichen Beurteilung ebensowenig entzogen, wie die Prüfung der "erheblichen Unwilligkeit” im gleichen Satz. Zwischen beiden Begriffen besteht ein untrennbarer Zusammenhang, was sich auch daraus ergibt, daß beide Entscheidungen der Bestimmung in Satz 2 a.a.O. unterliegen. Der Beginn dieses Satzes "Hierbei” bezieht sich sowohl auf die Prüfung, ob der JAV "in erheblichem Maße unbillig” ist, als auch auf dessen Feststellung nach "billigem Ermessen.” Wenn die letztere Entscheidung nur in das pflichtgemäße Verwaltungsermessen der Versicherungsträger gestellt wäre, könnte sich das dahin auswirken, daß die richtige Höhe des JAV unter Umständen erst nach mehreren Sozialgerichtsverfahren feststünde, nämlich dann, wenn ein Versicherungsträger auf Verurteilungen hin den JAV nur jeweils in nicht ausreichendem Umfang höher feststellt. Es bedürfte dann mehrfacher gerichtlicher Verurteilungen, den JAV nach billigem Ermessen festzustellen. Ein solches – auch unpraktikables – Verfahren ist mit Wortlaut und Sinn des § 577 Satz 1 RVO nicht vereinbar.
Im vorliegenden Fall kann der JAV nach Billigkeitsgrundsätzen nur so festgestellt werden, daß er einmal den JAV eines landwirtschaftlichen Unternehmers enthält, der von der Beklagten mit 5.130,– DM bestimmt worden ist, und zum anderen den JAV als Waldarbeiter. Da H. nach der Auskunft der Forstverwaltung von B. im Jahre vor dem Arbeitsunfall 11.407,– DM verdient hätte, ist der für die Hinterbliebenenleistungen maßgebende JAV durch eine Addition dieser Beträge auf 16.537,– DM festzustellen. Maßgebend hierfür ist die von H. im Unfallzeitpunkt erlangte, bereits oben dargetane berufliche Gesamtsituation. Da sie ohne den Arbeitsunfall wahrscheinlich in absehbarer Zeit keine Änderung erfahren hätte, würde es den Klägern zum Nachteil, der Beklagten aber zum Vorteil gereichen, daß H. nicht erst nach Ablauf einer einjährigen Arbeitszeit als Waldarbeiter verunglückte. Das ist aber ungerechtfertigt. In letztem Falle wäre der JAV nämlich – offensichtlich auch nach Auffassung der Beklagen – mindestens, d.h. ohne Lohnerhöhung, mit 16.537,– DM festzustellen gewesen.
Aber auch wenn man sich dieser Auffassung nicht anschließt und die Feststellung des JAV in das pflichtgemäße Ermessen der Beklagten stellt, ist der erkennende Senat befugt, den JAV selbst festzustellen, weil nur eine fehlerfreie Entscheidung in Betracht kommt (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 21.11.1961 – 2 RK 33/57 – Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. SGG, § 54 Anm. 2 f.). Jede andere Feststellung des JAV wäre nämlich ermessensfehlerhaft, weil sie gegen die in § 577 Satz 2 RVO bestimmten Grundsätzen verstieße, wie oben ausgeführt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der 1925 geborene Ehemann und Vater der Kläger (H.) war von Beruf selbständiger Landwirt und bewirtschaftete ein Unternehmen mit einer Betriebsgröße von ca. 12 ha in der Gemeinde E./Krs. W. Nachdem er in den Jahren 1950 bis 1968 während der Wintermonate vorübergehend bei den Waldinteressenten E. im Holzeinschlag tätig war, wurde er am 17. November 1969 als ständiger Waldarbeiter von der Forstverwaltung von B., E., eingestellt. Beim Baumfällen am 17. März 1970 wurde er von einem stürzenden Baum erschlagen.
Durch Bescheid vom 4. Mai 1970 gewährte die Beklagte den Klägern Hinterbliebenenrente, Überbrückungshilfe und Sterbegeld. Der Berechnung legte sie den an 78 Arbeitstagen als Waldarbeiter erzielten Verdienst in Höhe von 3.453,92 DM sowie den vollen durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienst (JAV) eines landwirtschaftlichen Unternehmers in Höhe von 5.130,– DM, insgesamt 8.523,92 DM, zugrunde.
Gegen den am 4. Mai 1970 zur Post aufgelieferten Bescheid haben die Kläger am 1. Juni 1970 bei dem Sozialgericht Kassel (SG) Klage erhoben. Sie begründeten diese damit, der Verstorbene habe aus Rentabilitätsgründen als nichtselbständiger Arbeitnehmer tätig werden müssen und deshalb die Landwirtschaft nach Verkleinerung zum Nebenerwerb unstrukturiert. Dem JAV lägen die Verhältnisse des Jahres 1963 zugrunde, was dem Strukturwandel in der Landwirtschaft nicht gerecht werde. Wäre der Verstorbene ganzjährig als Waldarbeiter tätig gewesen, so hätte die Beklagte einen JAV von 13.312, DM (ausgehend von einem durchschnittlichen Stundenlohn von 6,40 DM) zugrunde legen müssen. – Nach der von den Klägern vorgelegten Stellungnahme des Kreisbauernverbandes in W. vom 11. Oktober 1971 war der Betrieb des H. in seiner Organisation eindeutig auf den Berufswechsel abgestellt worden, da er ein Defizit in der Berechnung des Arbeitseinkommens von 15.000,– DM aufgewiesen habe.
Durch Urteil vom 25. Mai 1972 hat das SG die Klage abgewiesen. Die von der Beklagten vorgenommene Rentenberechnung habe der gesetzlichen Vorschrift entsprochen und sei nicht in erheblichem Maß unbillig gewesen, da sie die beiden Einkommen aus der Landwirtschaft und der Waldarbeitertätigkeit berücksichtigt habe.
Gegen das ihnen am 8. Juni 1972 zugestellte Urteil haben die Kläger am 5. Juli 1972 Berufung eingelegt. Gegen die Feststellung des JAV aufgrund des § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO bestünden Bedenken, weil der JAV für die Landwirtschaft keine echte Verdienstermittlung, sondern eine von den satzungsgemäßen Organen festgesetzte pauschalierte Größe darstelle. Im vorliegenden Fall scheine es richtiger, die Feststellung aufgrund des § 571 Abs. 1 S. 3 RVO zu treffen, wonach von der Tätigkeit zur Zeit des Unfalles auszugehen und aus den Einkommen der Rückschluß auf das ganze Jahr – und damit die Berücksichtigung eines JAV von mindestens 12.000,– DM – zu ziehen sei. Folge man der Begründung des SG, und zwar nicht nur hinsichtlich der Berechnung des JAV als Arbeitnehmer, sondern auch bezüglich der Hinzurechnung eines Zusatzeinkommens mit dem halben pauschalierten JAV der Landwirte, so komme man auf einen JAV von rund 15.000,– DM, d.h., etwa dem doppelten des JAV, den die Beklagte der Berechnung zugrunde gelegt habe.
Der monatliche pauschalierte JAV aus landwirtschaftlicher Unternehmertätigkeit betrage 420,– DM, während der aus nichtselbständiger Tätigkeit als Waldarbeiter mindestens das Doppelte, nämlich 900,– DM, betragen würde. So gesehen sei der von der Beklagten festgestellte JAV in erheblichem Maße unbillig i.S. des § 577 RVO, der zu Unrecht hier nicht angewendet sei. Der Unterschied sei auch dadurch begründet, daß sich die Unternehmereinkünfte als Landwirt nicht in der gleichen Art und dem gleichen Umfang wie dem der anderen deutschen Arbeitnehmer entwickelt hätten.
Die Entscheidung der Beklagten müsse als ermessensfehlerhaft angesehen werden, da die außergewöhnliche Situation des einen Jahres, in dem der tödliche Unfall sich ereignet habe, nicht als Grundlage für die Feststellung des JAV dienen dürfe. Auch nach Umstrukturierung der Landwirtschaft hätte der Verstorbene diese neben der Tätigkeit als Waldarbeiter weiter betreiben können, mit der Folge, daß dem JAV aus Landwirtschaft der aus Waldarbeitertätigkeit hinzugerechnet werden müsse. Wegen der wirtschaftlichen Entwicklung in der deutschen Landwirtschaft habe der Verstorbene in einen anderen Beruf hinüber wechseln müssen. Schon aus diesem Grunde sei es ermessensfehlerhaft, wenn in der Hauptsache die frühere Tätigkeit voll und die zuletzt ausgeübte hauptberufliche Tätigkeit nur zum geringeren Anteil berücksichtigt werde.
Durch Bescheid vom 5. Juni 1974 hat die Beklagte die Waisenrente für den Kläger zu 2) wegen der nicht abgeschlossenen Berufsausbildung weitergewährt.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 25. Mai 1972 aufzuheben sowie die Bescheide der Beklagten vom 4. Mai 1970 und vom 5. Juni 1974 abzuändern und für die Gewährung der Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung den Jahreslohn eines Forstarbeiters neben dem eines selbständigen landwirtschaftlichen Unternehmers zugrunde zu legen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im wesentlichen für zutreffend. Ihre Rentenberechnung entspreche den gesetzlichen Bestimmungen und sei nicht in erheblichem Maß unbillig, zumal die beiden Einkommen aus Landwirtschaft und Waldarbeitertätigkeit berücksichtigt seien.
Zur Ergänzung wird auf den Inhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten, insbesondere die Auskunft der Forstverwaltung von B., E., vom 14. Februar 1973, Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt.
Wenn neben laufenden Rentenleistungen einmalige und wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen, nämlich Sterbegeld und Überbrückungshilfe des Bundessozialgerichts (BSG) die Berufung insoweit nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen sein, da es sich um prozessual selbständige Teile eines Entschädigungsanspruchs handele (vgl. zuletzt Urteil des BSG vom 12.3.74, 2 RU 289/73). Im vorliegenden Fall ist zwar keine dieser Leistungen dem Grunde nach streitig, weil die Beklagte den Klägern neben Hinterbliebenenrente auch Sterbegeld und Überbrückungshilfe gewährt, wie sich aus dem angefochtenen Bescheid ergibt. Streit besteht hier lediglich darüber, nach welchen JAV diese Leistungen zu berechnen sind. Da aber über den Umfang des Anspruchs der Kläger auf Sterbegeld und Überbrückungshilfe zu entscheiden ist, muß angenommen werden, daß das BSG seine bisherige Rechtsprechung auch hier für anwendbar hält. Ihr vermag sich der erkennende Senat jedoch nicht anzuschließen. Nach seiner Auffassung ist die Berufung in derartigen Fällen und damit auch in diesem Rechtsstreit in vollem Umfang zulässig, weil es sich um einen einheitlichen prozessualen Anspruch handelt (vgl. z.B. Urteile vom 1.8.1973 – L-3/U – 266/71, vom 22.5.1974 – L-3/U – 1196/72 und vom 30.9.1974 – L-3/U – 831/70).
Der Begriff "Anspruch” i.S. des § 144 Abs. 1 SGG ist ausschließlich in dem allgemeinen prozessualen Sinn als das Begehren einer Prozeßpartei zu verstehen, die Rechtsfolgen eines materiell-rechtlichen Tatbestandes durch Urteil auszusprechen (vgl. u.a. BSG, Urt. vom 20.12.1956 – 3 RK 22/55, BSG 4, 206). Da die verschiedenen Einzelleistungen an Hinterbliebene dem Grunde nach sämtlich davon abhängen, daß der Tod des Versicherten durch einen Arbeitsunfall eingetreten ist (§ 589 Abs. 1 RVO "bei Tod durch Arbeitsunfall ist zu gewähren ”), handelt es sich nach hiesiger Auffassung grundsätzlich um einen einheitlichen prozessualen Anspruch auf alle Hinterbliebenenbezüge. Die Beklagte hat daher auch über die Hinterbliebenenrente, die Überbrückungshilfe und das Sterbegeld nach einem einheitlichen JAV entschieden. Mit der Einlegung der Berufung ist der Anspruch auf alle diese Leistungen infolgedessen in ganzen Umfang beim Berufungsgericht angefallen. Er erfordert seiner Natur nach auch eine einheitliche Entscheidung. Es ist nicht zu vertreten, von dieser Entscheidung einzelne Leistungen auszunehmen und hinsichtlich der Zulässigkeit der Berufung gesondert zu behandeln (vgl. BSG 5, 222). Hierbei ist zu beachten, daß nach § 143 SGG die Berufung gegen sozialgerichtliche Urteile grundsätzlich zulässig ist, soweit nicht die besonderen Ausschlußtatbestände der §§ 144 ff SGG zum Zuge kommen. Es handelt sich dabei um Ausnahmevorschriften, die eng auszulegen sind. Sie sollen nur bezwecken, daß die Berufungsgerichte nicht in Bagatellsachen beansprucht werden, um sie zu entlasten. Dieser Sinn und Zweck wird aber nicht vereitelt, wenn im Berufungsverfahren, das zur maßgebenden Höhe des JAV ohnehin durchgeführt werden muß, die Entscheidung auch die übrigen in § 589 Abs. 1 RVO angeführten Leistungen mitumfaßt. Im übrigen enthalten die Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes über die Berufungsausschließungsgründe keine Bestimmung darüber, daß beim Zusammentreffen einer zulässigen Berufung mit einer an sich unzulässigen Berufung diese nicht mit nachgeprüft werden darf (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. I S. 250 d I bis III). Eine andere Rechtsanwendung würde zu Ergebnissen führen, die im Interesse der materiellen Gerechtigkeit nicht hingenommen werden können. So müßte den Hinterbliebenen eines Versicherten z.B. das Sterbegeld und die Überbrückungshilfe nach der Klageabweisung durch das Sozialgericht vom Berufungsgericht selbst dann versagt werden, wenn dieses den Tod als Arbeitsunfallfolge feststellt und zur Gewährung von Hinterbliebenenrente verurteilt. Umgekehrt verblieben den Hinterbliebenen diese Leistungen, wenn das Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil aufhebt und die Klage bezüglich der Hinterbliebenenrente abweist. Der Weg zur uneingeschränkten Nachprüfung des erstinstanzlichen Urteils ist nach der Auffassung des BSG nur dann frei, wenn das Sozialgericht im Urteil die Berufung hinsichtlich der von § 144 Abs. 1 SGG erfaßten Leistungen zugelassen hat, was aber nur möglich ist, wenn der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 150 Nr. 1 SGG). Nach der Rechtsprechung des BSG, die in Literatur und Rechtsprechung nicht ohne Widerspruch geblieben ist (vgl. LSG Berlin, Breithaupt 1954, 1197; Bayr. LSG, Breithaupt 1955, 661; LSG Schleswig-Holstein, Breithaupt 1955, Seite 100; BSG GVBl. 1966, 117; BGHZ 2, 16, Peters-Sautter-Wolff, Anm. 2 zu § 150 SGG; Miesbach-Ankenbrank, Anm. 1 zu § 150 SGG), tritt aber bei der Zulassung des Rechtsmittels für das Rechtsmittelgericht keine Bindungswirkung ein, wenn die Zulassung gesetzwidrig ist, d.h., wenn sie offensichtlich unbegründet ist (so: BSG E 2, 540; 6, 70, 10, 240; SozR Nr. 194 zu § 162 SGG; Urteil vom 17. Februar 1972 – 7 RU 27/69; SozR Nr. 44 zu § 150 SGG). Nach dieser Rechtsprechung dürften Berufungszulassungen, die lediglich im Hinblick auf die obengenannte Rechtsprechung des BSG erfolgt sind, um eine einheitliche Entscheidung über alle Entschädigungsansprüche zu ermöglichen, vom Berufungsgericht nicht berücksichtigt werden, weil sie keine Streitigkeiten von grundsätzlicher Bedeutung zum Gegenstand haben, der Senat ist nach alledem der Auffassung, daß die Rechtsprechung des BSG zur Frage des Berufungsausschusses von einzelnen Hinterbliebenenleistungen dem Sinn und Zweck des § 144 Abs. 1 SGG nicht gerecht wird. Das Verfahrensrecht soll den gestörten Rechtsfrieden wiederherstellen und sichern sowie der Durchsetzung der materiellen Gerechtigkeit dienen, sich aber nicht zum Selbstzweck erheben. Zwar können Sterbegeld und Überbrückungshilfe auch unabhängig von der Hinterbliebenenrente Gegenstand eines Verwaltungsaktes und eines gerichtlichen Verfahrens sein und stellen dann prozessual selbständige Ansprüche dar (Urteil des BSG vom 12.3.1974, 2 RU 289/73). Werden sie jedoch vom Versicherungsträger gemeinsam mit der Hinterbliebenenrente in einem Verwaltungsakt dem Grunde nach abgelehnt, weil kein Arbeitsunfall vorgelegen habe, oder aber – wie im vorliegenden Fall – anerkannt und besteht nur darüber Streit, nach welchem JAV sie zu berechnen sind, so liegt ein einheitlicher Verwaltungsvorgang vor, der in materiell-rechtlicher Hinsicht im Rechtsmittelverfahren auch einheitlich nachzuprüfen ist (vgl. Brackmann a.a.O., S. 250 d III unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts). Über die Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe bzw. deren Höhe besteht kein isolierter Streit und es wird insoweit auch kein selbständiger Anspruch geltend gemacht.
Die mithin uneingeschränkt statthafte Berufung ist daher zulässig. Sie ist auch begründet.
Der angefochtene Bescheid ist bereits unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung der Beklagten, wonach der JAV nur gem. § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO festzustellen ist, rechtswidrig. Die Beklagte hat nämlich die Zeit, in der H. im Jahre vor dem Arbeitsunfall kein Arbeitseinkommen bezog, nicht berücksichtigt, wozu sie nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO verpflichtet ist. Da er vom 5. Januar bis 3. Februar 1970 wegen hoher Schneelage als Waldarbeiter arbeitslos war, ist für diese Zeit das Arbeitseinkommen zugrunde zu legen, das seiner letzten Tätigkeit vor der Arbeitslosigkeit entspricht. Sinn dieser Vorschrift ist es, individuell begrenzte Umstände der Vermögensminderung wie z.B. Krankheit oder Arbeitslosigkeit auszugleichen (vgl. Lauterbach, Komm. zur Unfallversicherung, Anm. 4 a zu § 571). Es handelt sich hier nur um die Feststellung des JAV für die Tätigkeit des H. als Waldarbeiter, soweit er von der Beklagten in dem angefochtenen Bescheid errechnet worden ist, so daß dem Umstand, daß er während seiner nicht mit Arbeitslosengeldbezug verbundenen Arbeitslosigkeit noch selbständiger Landwirt war, keine Bedeutung zukommt. Da sein Entgelt als Waldarbeiter an 78 Arbeitstagen 3.453,92 DM, täglich also 44,28 DM, betrug, hat sich der JAV für die 22 ausgefallenen Arbeitstage um 974,16 DM zu erhöhen.
Darüber hinaus ist der von der Beklagten berechnete JAV "in erheblichem Maße unbillig” (§ 577 Satz 1 RVO). Nach dieser Bestimmung ist der JAV im Rahmen des § 575 nach billigem Ermessen festzustellen, wenn der nach den § 3, 571 bis 576 berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit z. Zt. des Arbeitsunfalls oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen (vgl. Satz 2 a.a.O.).
Bereits zu § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F. hatte das BSG die Auffassung vertreten, der grundlegende, vom Gerechtigkeitsprinzip getragene Grundgedanke dieser Bestimmung sei darauf gerichtet, den Verletzten einen sozialen oder wirtschaftlichen Aufstieg, den sie vor dem Versicherungsfall erreicht haben, in vollem Umfang zugute kommen zu lassen (vgl. Urteil vom 27. April 1960, 2 RU 191/56). Durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UNVG) sind die bisherigen Bestimmungen über den JAV wesentlich erweitert worden. Nach § 577 RVO ist nunmehr die Festsetzung des JAV nach billigem Ermessen in allen Fällen der Berechnung des JAV nach den §§ 571 bis 576 a.a.O. möglich, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß der JAV "in erheblichem Maße” unbillig ist, was jeweils unter Berücksichtigung aller Umstände entschieden werden muß (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, § 577 RVO Anm. 1 bis 3).
Hierzu hat der 8. Senat des BSG (vgl. Urteil vom 11.10.1973 – 8/2 RU 42/69) in Bezug auf Gastarbeiter die Auffassung vertreten, ob die JAV-Berechnung bei extrem niedrigen ausländischen Verdiensten in erheblichem Maße unbillig sei, hänge im allgemeinen davon ab, welchen Zeitraum die ausländischen Verdienste innerhalb der für die JAV-Berechnung maßgeblichen Jahres einnehmen. Daß dieser Grundsatz nur für ausländische Versicherte gelten soll, wie die Beklagte meint, hat das BSG nicht ausgesprochen. Diese Ansicht ist auch abzulehnen, weil eine unterschiedliche Behandlung deutscher und ausländischer Verletzter bei der Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zulässig ist.
Ferner hat das BSG in dem genannten Urteil nicht zum Ausdruck gebracht, ob der oben angegebene Grundsatz nur bei "extrem niedrigen” Verdiensten – auch in Deutschland – während eines Teils des dem Unfall vorausgegangenen Jahres gelten soll, oder ob es darauf ankommt, daß der Verdienst im Unfallzeitpunkt wesentlich höher oder niedriger ist, als der übrige Verdienst im Jahr vor dem Unfall. Nur letzteres kann richtig sein. Denn auch wenn im Jahre vor dem Unfall für eine bestimmte Zeit ein normales, im Unfallzeitpunkt aber ein wesentlich höheres oder wesentlich niedrigeres Arbeitsentgelt erzielt wird, kann der nach § 571 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig sein. Bei der Prüfung der Frage, ob der JAV in erheblichem Maße unbillig ist, kann es also nur auf die Relation zwischen dem Verdienst im Unfallzeitpunkt und demjenigen im letzten Jahre vor dem Unfall ankommen.
Gegen die Auffassung des BSG, die Frage der erheblichen Unbilligkeit im Sinne von § 577 RVO hänge davon ab, welchen Zeitraum die niedrigen Verdienste innerhalb des für die JAV-Berechnung maßgeblichen Jahres einnähmen, bestehen Bedenken. In Anlehnung an die – andere Rechtsgebiete betreffenden – §§ 168 Abs. 2 a, 1228 Abs. 2 a RVO soll ein niedriger Verdienst während eines Zeitraums von bis zu 5 Monaten hierfür nicht ausreichen. Dem in § 577 Satz 1 RVO gebrauchten Ausdruck "in erheblichem Maße unbillig” wohnt jedoch begrifflich kein Zeitmoment inne. Das BSG hat seine entgegengesetzte Auffassung nicht näher begründet. Die Heranziehung der genannten Bestimmungen ist daher von der Sache her nicht gerechtfertigt und mit der Regelung in den §§ 570 ff. RVO nicht vereinbar. Nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO ist für den JAV nur die Tätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls maßgebend, wenn der Versicherte früher nicht tätig war. Bei einem Versicherten, der bisher ohne Arbeit war und der erst kurze Zeit (bis zu 3 Monaten) vor dem Arbeitsunfall eine mit einem hohen Einkommen versicherte Tätigkeit aufnahm, ist daher der JAV-Berechnung nur dieses Einkommen zugrunde zu legen (erste Fallgruppe). Hatte der gleiche Versicherte aber im Jahre vor dem Unfall im übrigen ein niedrigeres Arbeitseinkommen, etwa bei einem anderen Unternehmer, so läge der JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO bei einem nur sehr kurzfristig bezogenen höheren Einkommen im Unfallzeitpunkt nur unwesentlich über diesem Verdienst und eine Korrektur mit Hilfe des § 577 RVO könnte nach der Rechtsprechung des BSG nicht erfolgen, weil das wesentlich höhere Einkommen nicht mehr als 3 Monate lang bezogen wurde (zweite Fallgruppe). Die Schlechterstellung der Versicherten, die zu der zweiten Fallgruppe gehören, gegenüber denjenigen, die unter die erste Fallgruppe fallen, ist ungerecht. Ungerechtigkeiten dieser Art bei der JAV-Berechnung sollen aber nach dem Willen des Gesetzgebers durch § 577 RVO verhindert werden. Entspricht in Fällen der zweiten Gruppe das nur sehr kurze Zeit bezogene hohe Arbeitseinkommen den "Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten”, so sind diese Umstände nach § 577 Satz 2 RVO bei der JAV-Berechnung ebenso zu berücksichtigen, wie seine "Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalls”. Das bedeutet nicht, daß bei den Versicherten dieser Gruppe stets der gleiche JAV festzustellen ist, wie bei der ersten Fallgruppe. Jedenfalls ist aber eine andere Feststellung des JAV nach § 577 RVO zu treffen, wenn der Versicherte im Laufe des letzten Jahres vor dem Unfall seien berufliche Stellung außergewöhnlich verbessern konnte, das höhere Entgelt aber wegen des Arbeitsunfalls nur kurze Zeit bezog, so daß es sich bei der Berechnung nach § 571 Abs. 1 RVO nicht oder nur unwesentlich auswirkt, damit ihm oder seinen Hinterbliebenen die neue berufliche Position bei der Rentenberechnung zugute kommt (so auch Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, Anm. 1 zu § 577; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Teil 2, Seite 130 zu § 563 Abs. 2 Satz 1 RVO a.F.; Urteil des HLSG vom 9.9.1970, L-3/U – 900/69).
Im vorliegenden Fall kann es allerdings dahingestellt bleiben, ob der Auffassung des BSG zur Frage der Dauer des höheren Arbeitsverdienstes zu folgen ist. H. war nämlich im letzten Jahr vor dem Arbeitsunfall in der Hauptsache selbständiger Landwirt und außerdem an 78 Arbeitstagen als Waldarbeiter tätig, wie die Forstverwaltung von B., E., der Beklagten in dem unter dem 25. März 1970 ausgefüllten Erhebungsbogen über dessen Einkommen in der Zeit vom 17. November 1969 bis 4. Januar 1970 und vom 4. Februar bis 16. März 1970 mitgeteilt hat. Damit hatte er aber mehr als "3 Monate oder insgesamt 75 Arbeitstage” (vgl. BSG a.a.O., S. 21) eine nicht selbständige Tätigkeit als Waldarbeiter ausgeübt. Er war am 17. November 1969 nicht nur vorübergehend, sondern für dauernd in den Dienst der Forstverwaltung von B. eingetreten, weil er in seiner Landwirtschaft kein ausreichendes Einkommen mehr fand. Seine Landwirtschaft hatte er reduziert und wollte sie in dieser Form nur noch als Nebenerwerbstätigkeit beibehalten. Die neue berufliche Tätigkeit, die nach über 3 Monaten durch seinen Tod beendet wurde, bewirkt, daß der von der Beklagten nach § 571 Abs. 1 S. 1 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist. Sein Arbeitseinkommen als Waldarbeiter hätte nämlich im Jahre vor dem Arbeitsunfall (vom 17. März 1969 bis 16. März 1970) 11.407,– DM betragen, wie die Forstverwaltung von B. am 14. Februar 1973 mitgeteilt hat, das als selbständiger Landwirt war von der Beklagten gem. § 780 RVO aber nur auf 5.130,– DM festgesetzt worden. Dabei ist gem. 577 Satz 2 RVO zu berücksichtigen, daß H. z.Zt. des Arbeitsunfalls nach seinen Fähigkeiten und seiner Ausbildung nicht nur land- sondern auch forstwirtschaftliche Arbeiten verrichten konnte und auch verrichtete. Während er den Beruf des Landwirts bereits seit langer Zeit ausgeübt hatte, war er bei der Forstverwaltung von B. zwar nur einige Monate tätig gewesen. Wie diese auf Antrage aber im Berufungsverfahren am 14. Februar 1973 mitgeteilt hat, war er bereits seit etwa 1950 "während der Wintermonate unterschiedlich bei den Waldinteressenten E. im Holzeinschlag” tätig gewesen und damit auf den Beruf eines Waldarbeiters vorbereitet. Er war daher seiner Lebensstellung und Erwerbstätigkeit nach im Unfallzeitpunkt in eine berufliche Position aufgestiegen, die sich von der bisher ausgeübten landwirtschaftlichen Tätigkeit erheblich unterschied. Da sich sein weiteres Erwerbsleben auf Dauer geprägt hätte, ist festzustellen, daß die von der Beklagten vorgenommene JAV-Berechnung in erheblichem Maße unbillig ist, da nur die kurze, tatsächliche Beschäftigungsdauer des H. als Waldarbeiter neben seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit berücksichtigt wurde.
Aber auch aus einem weiteren Grunde ist die Feststellung des JAV durch die Beklagte in erheblichem Maße unbillig. Das BSG hat in seinem oben zitierten Urteil (8/2 RU 42/69, S. 22) ferner ausgeführt, daß "in den übrigen fällen”, also dann, wenn keine 3-monatige Beschäftigung mit höherem Arbeitseinkommen vorliegt, die JAV-Berechnung in erheblichem Maße unbillig sein könne, wenn die "tatsächlichen deutschen Verdienste mehr als doppelt so hoch wie die nach den unter V dargelegten Grundsätzen umgerechneten ausländischen Verdienste (im Durchschnitt)” sind. Da bei Verdiensten, die nur in Deutschland erzielt werden, entsprechend das gleiche zu gelten hat, kann also nach dieser Rechtsprechung § 577 RVO angewandt werden, wenn im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls das Arbeitseinkommen mehr als doppelt so hoch ist wie im übrigen Teil des letzten Jahres vor dem Unfall. Das war hier der Fall. Der von der Beklagten nach § 780 RVO festgesetzte JAV in der Landwirtschaft des H. betrug nämlich 5.130,– DM, dessen Arbeitsverdienst als Waldarbeiter aber bereits an 78 Arbeitstagen DM 3.453,92.
Da der JAV nach alledem im vorliegenden Fall in erheblichem Maße unbillig ist, war er von der Beklagten im Rahmen des § 578 RVO "nach billigem Ermessen” festzustellen. Hierbei soll es sich nach allgemeiner Auffassung, auch des BSG, um eine Ermessensentscheidung handeln. Aus dem Urteil des BSG vom 16.12.1970 – 2 RU 239/68 – geht das zwar nicht hervor. Dort ist nur davon die Rede, daß die Beurteilung der Frage, ob ein nach den §§ 571 – 576 RVO errechneter JAV in erheblichem Maße unbillig ist, nicht im Ermessen des Versicherungsträgers liegt. In seinem Urteil vom 11.10.1973 – S/2 RU 42/69 – hat das BSG den Versicherungsträger aber verurteilt, den JAV "nach billigem Ermessen festzustellen”, weil es offenbar der Auffassung war, daß es sich hierbei um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers handelt, die der vollen Nachprüfung durch die Gerichte entzogen ist. Hiergegen bestehen jedoch Bedenken.
In § 577 RVO ist – anders als z.B. in den §§ 184 Abs. 1, 559 Abs. 4 RVO a.F. " kann gewähren ” – die Feststellung des JAV nicht dem pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers überlassen. Die Hinterbliebenenrente ist in keiner Beziehung eine Kannleistung. Ihre Höhe ist daher auch nicht in gewissem Umfang in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt. Keine der Bestimmungen über die Feststellung des JAV (§§ 570 ff. RVO) weist darauf hin. Das Wort "Ermessen” in § 577 Satz 1 RVO allein ist nicht geeignet, die JAV-Feststellung der vollen gerichtlichen Nachprüfbarkeit zu entziehen. Andernfalls hätte der Gesetzgeber bestimmen müssen, daß der Versicherungsträger in diesem bestimmten Fall den JAV nach seinem Ermessen feststellen "kann.” Da es aber in § 577 Satz 1 RVO heißt: "Ist der JAV in erheblichem Maße unbillig, so ist der JAV nach billigem Ermessen festzustellen,” darf diese Bestimmung nur dahin ausgelegt werden, daß der Versicherungsträger bei erheblicher Unbilligkeit des JAV verpflichtet ist, den JAV nach Billigkeitsgrundsätzen festzustellen, also die Billigkeit herzustellen. Durch den Zusatz nach "billigem” Ermessen ist ein objektiver Maßstab für die Feststellung des JAV bestimmt worden. Es kann nicht mehrere "billige” Jahresarbeitsverdienste geben, von denen der Versicherungsträger einen bestimmten aussuchen und allein als billig bezeichnen darf. Vielmehr gibt es nur einen "billigen” JAV. Dessen Feststellung ist der gerichtlichen Beurteilung ebensowenig entzogen, wie die Prüfung der "erheblichen Unwilligkeit” im gleichen Satz. Zwischen beiden Begriffen besteht ein untrennbarer Zusammenhang, was sich auch daraus ergibt, daß beide Entscheidungen der Bestimmung in Satz 2 a.a.O. unterliegen. Der Beginn dieses Satzes "Hierbei” bezieht sich sowohl auf die Prüfung, ob der JAV "in erheblichem Maße unbillig” ist, als auch auf dessen Feststellung nach "billigem Ermessen.” Wenn die letztere Entscheidung nur in das pflichtgemäße Verwaltungsermessen der Versicherungsträger gestellt wäre, könnte sich das dahin auswirken, daß die richtige Höhe des JAV unter Umständen erst nach mehreren Sozialgerichtsverfahren feststünde, nämlich dann, wenn ein Versicherungsträger auf Verurteilungen hin den JAV nur jeweils in nicht ausreichendem Umfang höher feststellt. Es bedürfte dann mehrfacher gerichtlicher Verurteilungen, den JAV nach billigem Ermessen festzustellen. Ein solches – auch unpraktikables – Verfahren ist mit Wortlaut und Sinn des § 577 Satz 1 RVO nicht vereinbar.
Im vorliegenden Fall kann der JAV nach Billigkeitsgrundsätzen nur so festgestellt werden, daß er einmal den JAV eines landwirtschaftlichen Unternehmers enthält, der von der Beklagten mit 5.130,– DM bestimmt worden ist, und zum anderen den JAV als Waldarbeiter. Da H. nach der Auskunft der Forstverwaltung von B. im Jahre vor dem Arbeitsunfall 11.407,– DM verdient hätte, ist der für die Hinterbliebenenleistungen maßgebende JAV durch eine Addition dieser Beträge auf 16.537,– DM festzustellen. Maßgebend hierfür ist die von H. im Unfallzeitpunkt erlangte, bereits oben dargetane berufliche Gesamtsituation. Da sie ohne den Arbeitsunfall wahrscheinlich in absehbarer Zeit keine Änderung erfahren hätte, würde es den Klägern zum Nachteil, der Beklagten aber zum Vorteil gereichen, daß H. nicht erst nach Ablauf einer einjährigen Arbeitszeit als Waldarbeiter verunglückte. Das ist aber ungerechtfertigt. In letztem Falle wäre der JAV nämlich – offensichtlich auch nach Auffassung der Beklagen – mindestens, d.h. ohne Lohnerhöhung, mit 16.537,– DM festzustellen gewesen.
Aber auch wenn man sich dieser Auffassung nicht anschließt und die Feststellung des JAV in das pflichtgemäße Ermessen der Beklagten stellt, ist der erkennende Senat befugt, den JAV selbst festzustellen, weil nur eine fehlerfreie Entscheidung in Betracht kommt (vgl. z.B. Urteil des BSG vom 21.11.1961 – 2 RK 33/57 – Peters-Sautter-Wolff, Komm. z. SGG, § 54 Anm. 2 f.). Jede andere Feststellung des JAV wäre nämlich ermessensfehlerhaft, weil sie gegen die in § 577 Satz 2 RVO bestimmten Grundsätzen verstieße, wie oben ausgeführt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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