L 3 U 538/72

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 538/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Pächterin einer Gastwirtschaft, deren Pachtvertrag abläuft, steht auf der Fahrt zu einer Gastwirtschaft, die sie zwecks Pachtung besichtigen will, unter Versicherungsschutz.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. vom 3. Mai 1972 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

Tatbestand:

Die 1919 geborene Klägerin übte den Beruf einer selbständigen Gastwirtin aus. Sie war Pächterin der Gaststätte "H.” in S., ihr Pachtvertrag lief am 13. September 1970 aus. Am 10. Juni 1970 verunglückte sie auf der Rückfahrt von H. nach S. in dem von ihrem Angestellten W. gesteuerten Personenkraftwagen – Pkw –. Sie zog sich hierbei eine Gesichtsverletzung, Kopfprellungen, multiple Körperprellungen und eine Radiusfraktur links zu. Nach H. war die Klägerin mit W. und der Angestellten D. gefahren, um sich mehrere Gaststätten, von denen sie eine übernehmen wollte, anzusehen. Die Besichtigung erfolgte im Beisein des Handelsvertreters R. R., der die Vermittlung der Klägerin auf Hinweis der Verpachtungsabteilung der Krombacher-Brauerei, mit der ein Bierlieferungsvertrag für die Gaststätte "H. in S. bestand, übernommen hatte. Zur Übernahme einer Gastwirtschaft in H. kam es nach dem Unfall nicht mehr; die Klägerin pachtete im Dezember 1970 bzw. im Mai 1971 Gastwirtschaften in N. und E ...

Die Beklagte holte von dem Handelsvertreter R. R. über das Zustandekommen und die Art der Verhandlungen der Klägerin in H. eine Auskunft ein und lehnte mit Bescheid vom 22. Februar 1971 die Entschädigung des Unfalls vom 10. Juni 1970 ab. Zur Begründung gab sie an: Die Klägerin habe sich auf dem Rückweg von einer unverbindlichen, mit ihrem früheren Unternehmen in keinem rechtlich wesentlichen Zusammenhang stehenden Tätigkeit befunden. Es habe sich um den ersten Schritt für die Durchführung einer in Aussicht genommenen vermögensrechtlichen Angelegenheit gehandelt.

Gegen den am 24. Februar 1971 per Einschreiben abgesandten Bescheid hat die Klägerin bei dem Sozialgericht Kassel, das den Rechtsstreit an das Sozialgericht Marburg verwiesen hat, am 16. März 1971 Klage erhoben und geltend gemacht, auf einer im Zusammenhang mit dem Gastwirtschaftsunternehmen stehenden Fahrt verunglückt zu sein.

Das Sozialgericht Marburg hat am 3. Mai 1972 die Beklagte verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 10. Juni 1970 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Es hat ausgeführt, daß es sich bei der Besichtigungsfahrt nach H. um eine der Verlegung des bisher betriebenen gastwirtschaftlichen Unternehmens dienende Vorbereitungshandlung gehandelt habe; solche Vorbereitungshandlungen stünden unter Unfallversicherungsschutz.

Gegen das ihr am 15. Mai 1972 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 7. Juni 1972 Berufung eingelegt. Sie bringt vor: Es sei nicht streitig, daß die Klägerin am Unfalltag unterwegs gewesen sei, um in H. drei angebotene Gaststättenobjekte zwecks evtl. späterer Übernahme zu besichtigen. Dabei habe es sich aber weder um eine unter dem Unfallversicherungsschutz stehende vorbereitende Handlung der Eröffnung eines neuen Unternehmens noch um die Abwicklung der von ihr noch unterhaltenen Gaststätte H. in S. gehandelt. Die Besichtigungsfahrt nach H. sei lediglich als Beginn oder Einleitung von Verhandlungen zur Durchführung vermögensrechtlicher Angelegenheiten, die als eigenwirtschaftliche Handlungen unversichert seien, anzusehen.

Zwar sei die Klägerin durch den Ablauf des Pachtvertrages für ihre Gaststätte in S. gezwungen gewesen, sich nach einer neuen Arbeitsmöglichkeit umzusehen, doch könne dieses Vorhaben nicht anders beurteilt werden wie das eines Arbeitnehmers, der sich infolge Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei anderen Arbeitgebern nach einer neuen Arbeitsstelle umsehe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts –BSG– bestehe in diesen Fällen kein Unfallversicherungsschutz.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Marburg vom 3. Mai 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Unfall- und Streitakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung ist frist- und formgerecht eingelegt und daher zulässig.

Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin den Unfall vom 10. Juni 1970 als Arbeitsunfall zu entschädigen. Sie befand sich am Unfalltag nämlich auf einem versicherungsgeschützten Betriebsweg (§ 548 Reichsversicherungsordnung -RVO).

Der Senat sieht – ebenso wie auch die Beklagte – als erwiesen an, daß die Klägerin am 10. Juni 1970 von S. nach H. fuhr, um dort wenigstens zwei Gastwirtschaften zwecks späterer pachtweiser Übernahme zu besichtigen, weil ihr Pachtvertrag in S. ablief. Das haben ihre Angestellten W. und D. aber auch der Handelsvertreter R. im Verwaltungsverfahren bestätigt. Nach der Auskunft des R. vom 16. November 1970 trat die Klägerin wegen eines Verpachtungswunsches Anfang Juni 1970 an ihn heran. Ihr Name wurde ihm durch die Verpachtungsabteilung der Krombacher-Brauerei, mit der die Klägerin einen Bierlieferungsvertrag für die S. Gaststätte abgeschlossen hatte, bekannt gegeben. Nach seiner Auskunft wurden zwei Objekte in H. besichtigt, wobei die Klägerin für eine Gaststätte ein besonderes Interesse zeigte. Sie verhandelte dort auch rund 2 1/2 Stunden, ohne daß es aber zu einem konkreten Abschluß kam, da sie noch eine andere Gaststätte besichtigen wollte. Die Klägerin konnte auch die Bedingungen für die Pachtung der in Aussicht genommenen Gastwirtschaft erfüllen. Auf der Rückfahrt von dieser Besichtigung nach Siegen verunglückte die Klägerin. Zur Übernahme einer Gastwirtschaft in Hagen kam es nach dem glaubhaften Vorbringen der Klägerin wegen der Unfallfolgen nicht mehr.

Bei dieser Besichtigungsfahrt von S. nach H. und zurück hat es sich – entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nur um den ersten Schritt zur Durchführung einer vermögensrechtlichen Angelegenheit gehandelt. Es ist in Literatur und Rechtsprechung anerkannt, daß sich der Unfallversicherungsschutz für den – auch zukünftigen – Unternehmer auf alle mit dem Unternehmen in Zusammenhang stehenden Tätigkeiten erstreckt (vgl. HLSG, 11. v. 228.6.1973, L-3/U-11-538, in Breith. 1974, 576; BSG SozR Nr. 65 zu § 542 RVO a.F. und Nr. 20 und 25 zu § 548 RVO n.F.; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II, Stand 51. Nachtrag 19 S. (480 y und 585 b S. 548/586) unter Stichwort Vermögensangelegenheiten – Unternehmer –; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 29 zu § 548 RVO; Podzun in WzS 1958 S. 45 unter Hinweis auf OVA München vom 7. Dezember 1951 = Breithaupt 1951 S. 810 und Bayerisches LSG vom 13. April 1952; Spieker in BB 1955 S. 642). Hierzu gehört auch die Regelung von Vermögensangelegenheiten, sofern diese wesentlich dem Unternehmen zuzurechnen sind. Die Auffassung, daß die Regelung von Vermögensangelegenheiten schlechthin vom Versicherungsschutz ausgenommen sei (vgl. RVA EuM 26 S. 43), ist in dieser Allgemeinheit nicht berechtigt. Jedenfalls gilt dies nicht mehr, seitdem nicht nur der sogenannte fachliche, sondern auch der kaufmännische oder verwaltende Teil des Betriebes mit in den Versicherungsschutz einbezogen ist. Daher ist es für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Regelung von Vermögensangelegenheiten und dem Unternehmen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung auch nicht erforderlich, daß die Vermögensangelegenheit ihrer Art nach den "fachlichen Verrichtungen” gleichzusetzen ist (BSG a.a.O.; Brackmann a.a.O.). Es ist nicht entscheidend, daß die Verrichtung der Vermögensangelegenheit im Einzelfall auch im Rahmen eines privaten Vermögens anfallen kann. Tätigkeiten eines versicherten Unternehmens sind jedenfalls dann dem Unternehmen zuzurechnen, wenn das Vorhandensein des – auch erst zukünftigen – Unternehmens im wesentlichen der Anlaß für diese Tätigkeiten ist und sie auch für das Unternehmen Bedeutung haben (BSG a.a.O.; Brackmann a.a.O., Spieker a.a.O.). Es ist nicht erforderlich, daß die Eröffnung des neuen Unternehmens notwendigerweise mit der Verlegung oder Abwicklung des alten Unternehmens verbunden ist. Es braucht überhaupt kein Unternehmen bestanden zu haben, so daß auch ein bisher abhängig tätiger Arbeitnehmer bei vorbereitenden Tätigkeiten für ein von ihm zu eröffnendes Unternehmen den Versicherungsschutz genießt. Zu fordern ist vielmehr nur der Nachweis, daß die Vorbereitungshandlungen im Hinblick auf ein zukünftiges, in Aussicht genommenes Unternehmen in konkreter Weise geleistet werden. Die Beklagte, die selbst davon ausgeht, daß die Klägerin nach H. fuhr, um zu versuchen, dort eine Gastwirtschaft zu pachten, beruft sich zu Unrecht auf die Entscheidung des BSG vom 29. Februar 1972 – 2 RU 160/71 –, wonach eine arbeitsuchende Person auf dem Wege zur und von der Vorstellung bei einem Arbeitgeber nicht unter Versicherungsschutz steht. Der Unterschied zum vorliegenden Fall liegt darin, daß der Unternehmer bei der Vorbereitung der Eröffnung eines Unternehmens bereits für dieses zukünftige Unternehmen tätig ist, also schon eine dem Unternehmen förderliche Tätigkeit verrichtet, während ein Arbeitsuchender noch nicht für ein Unternehmen tätig ist und keine diesem förderliche Tätigkeiten ausübt, mag auch ein Arbeitsvertrag zustande kommen.

Das Sozialgericht hat daher im Ergebnis zutreffend den Versicherungsschutz für die Fahrt der Klägerin am 10. Juni 1970 bejaht.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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