L 4 V 300/73

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 300/73
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1) Die Rückforderung zu Unrecht gezahlter Versorgung ist dann wegen unzulässiger Rechtsausübung für einen Zeitraum von weniger als 4 Jahre ausgeschlossen, wenn der Kläger durch das Verhalten des Beklagten den Eindruck gewinnen konnte daß die erhaltene Leistung nicht zurückgefordert werde.
2) Angaben über ein Beschäftigungsverhältnis in der Lebensbescheinigung sind nicht als Anzeige einer Berufstätigkeit anzusehen, die den Beklagten zu einer Neufestsetzung veranlassen. Die Lebensbescheinigung geht an die auszahlende Stelle, die die Angaben über die Tätigkeit des Berechtigten und seine Krankenversicherung weiterleitet. Hierdurch hat der Berechtigte nicht die ihm obliegende Pflicht auf Angabe von veränderten Verhältnissen erfüllt.
3) Aus einem nach Erhalt der Lebensbescheinigung unterbliebenen Tätigwerden des Beklagten durfte der Kläger nicht den Schluß ziehen, auf die Rückforderung der etwa zu Unrecht gezahlten Rentenleistungen werde verzichtet.
4) Das Rundschreiben des Landesversorgungsamtes Hessen hinsichtlich der Rückforderung von zu Unrecht gezahlten Beträgen vom 12. März 1973 kann § 47 Abs. 2 VerwVG nicht abändern, weil damit der Rahmen der Ermächtigung gesprengt und der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verletzt würde.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg/Lahn vom 15. Februar 1973 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhielt wegen Schädigungen während des Krieges eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. durch Bescheid vom 4. April 1952. Als Schädigungsfolgen wurden Verlust des re. Mittelfingers in der Mitte des Grundgliedes mit Teilversteifung des re. Ringfingers, Verwundungsnarben am re. Daumen und Brustkorb anerkannt. Unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins in der Tätigkeit als Müller gewährte der Beklagte ihm Rente nach einer MdE um 25 v.H.

Mit Schreiben vom 22. November 1971 sandte der Kläger die Fragebogen über Einkommensverhältnisse für 1961, 1963, 1965, 1967, 1969 und 1971 zurück, weil sein Durchschnittseinkommen das eines Müllers überschreite, so daß ein besonderes berufliches Betroffensein nicht mehr vorliege.

Mit Bescheid vom 29. März 1972 entzog der Beklagte nach Nachprüfung der Einkommens Verhältnisse dem Kläger die Rente wegen veränderter Verhältnisse und forderte den ab 1. Januar 1964 überzahlten Betrag von 5.368,– DM zurück. Den Widerspruch hiergegen wies der Beklagte mit Bescheid vom 31. Juli 1972 zurück.

Das Sozialgericht Marburg/L, hob mit Urteil vom 15. Februar 1973 die Bescheide vom 29. März 1972 und 31. Juli 1972 insoweit auf, als sie die Rückforderung des für die Zeit vom 1. Januar 1964 bis 31. Dezember 1967 überzahlten Betrages betreffen. Die Frage der Zulässigkeit der Rentenentziehung durch Herabsetzung der MdE sei nicht streitig, sondern lediglich die Frage der Zulässigkeit der Rückforderung. Gemäß § 47 des Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG) könne der überzahlte Betrag deshalb zurückgefordert werden, weil der Kläger bei Empfang der Leistung wußte oder hätte wissen müssen, daß ihm die Leistung nicht in der gewährten Höhe zusteht. Der Beklagte hätte die Rückforderung jedoch nur im Rahmen der Verjährungsvorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches aussprechen dürfen. Die vor dem 1. Januar 1968 zu Unrecht gewährten Leistungen durfte der Beklagte nicht mehr zurückfordern, weil insoweit die Forderung verjährt sei. Für die Zeit ab 1. Januar 1968 bestehe die Rückerstattungspflicht des Klägers.

Gegen dieses dem Kläger am 27. Februar 1973 zugestellte Urteil legte er am 21. März 1973 Berufung ein. Er habe im guten Glauben die Leistungen empfangen. Beim Ausfüllen der Lebensbescheinigung habe er stets mitgeteilt, daß er der Allgemeinen Ortskrankenkasse als freiwilliges Mitglied angehöre und sein Arbeitgeber die Volksfürsorge-Lebensversicherung sei. Daraus hätte man sehen müssen, daß er seinen früheren Beruf als Müller seit April 1960 nicht mehr ausgeübt habe.

Das Versorgungsamt XY. – Außenstelle Marburg – fragte während des Verfahrens beim Beklagten an, ob nach dem Rundschreiben vom 12. März 1973 von der Rückforderung des zuviel gezahlten Betrages abgesehen werden solle. Nach dem Rundschreiben sei die Verwaltung zu Rückforderungen dann nicht berechtigt, wenn die verspätete Nachprüfung dem Kläger nicht angelastet werden könne. Für die Zeit ab 1. November 1971 sei eine Rückforderung begründet, weil der Kläger mit Schreiben vom 23. November 1971 zu erkennen gegeben habe, daß sein Einkommen das Durchschnittseinkommen eines Müllers übersteige und deshalb ein besonderes berufliches Betroffensein nicht vorliege.

Der Kläger beantragte,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 15. Februar 1973 und die angefochtenen Bescheide aufzuheben, soweit sie die Rückforderung einer Überzahlung betreffen.

Der Beklagte beantragte,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Auffassung, daß trotz des Rundschreibens vom 12. März 1973 die Beträge zurückgefordert werden könnten.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Behörden- und die Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden. Sie ist auch statthaft. Der Rechtsstreit geht um die Rückerstattung zuviel gezahlter Beträge. Da der zurückgeforderte Betrag 500,– DM übersteigt, ist die Berufung zulässig. Die vom Beklagten angeführte Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 21. September 1971 (8 RV – 607/70) steht der Berufung deshalb nicht entgegen, weil sie einen anderen Fall betrifft.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Da lediglich der Kläger Berufung einlegte und das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide dahin abänderte, daß die Rückforderung für die Zeit vor dem 1. Januar 1968 unterbleiben muß, steht im Streit, ob der Kläger die für die Zeit vom 1. Januar 1968 bis 31. Mai 1972 erhaltenen Rentenbeträge zurückgewähren muß. Zwischen den Parteien besteht darüber kein Streit, daß durch die Aufnahme einer Angestelltentätigkeit bei der Volksfürsorge – Lebensversicherung – im Jahre 1961 eine wesentliche Änderung in den Einkommensverhältnissen des Klägers eingetreten ist. Mit Bescheid vom 4. April 1952 hatte der Beklagte nur deshalb Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. gewährt, weil er den Kläger im Beruf eines Müllers durch die Schädigungsfolgen als besonders betroffen ansah. Mit der Aufnahme einer Angestelltentätigkeit bei der Lebensversicherung und der Aufgabe des Müllerberufes entfiel besonderes berufliches Betroffensein, so daß die MdE unter 25 v.H. absank und damit dem Kläger keine Rente mehr zustand.

Die nach diesem Zeitpunkt gezahlten Rentenbeträge erhielt der Kläger somit zu Unrecht.

Beruht aber die Überzahlung auf einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, dann muß der Empfänger die erhaltenen Leistungen dann zurückerstatten, wenn er beim Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht zustand (§ 47 Abs. 2 a VerwVG). Aus dem Bescheid vom 4. April 1951 ergibt sich eindeutig, daß die Rentenleistung nur unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins erfolgte. Der Kläger mußte daher wissen, daß bei Aufnahme einer anderen Tätigkeit und der Aufgabe seiner früheren Beschäftigung als Müller die Rente fortfiel. Für seine Bösgläubigkeit bei Empfang der Leistungen spricht auch, daß er die ihm seit 1961 zugesandten Formulare über die Einkommensverhältnisse im November 1971 mit der Bemerkung zurücksandte, daß sein Einkommen seit seiner Tätigkeit als Bediensteter einer Versicherung höher als das Einkommen eines Müllers sei.

Der Kläger ist aber auch gemäß § 47 Abs. 2 b VerwVG zur Rückzahlung verpflichtet. Nach dieser Regelung ist die Rückforderung dann zulässig, wenn sie wegen der wirtschaftliche Verhältnisse dem Kläger zumutbar erscheint. Der Kläger erzielte 1971 ein Einkommen von monatlich durchschnittlich 3.158,– DM. Für die folgende Zeit hat der Kläger sein Einkommen nicht niedriger angegeben, so daß es auch in der Folgezeit nicht als geringer erwiesen ist. Eine Rückzahlung der ab 1. Januar 1968 überzahlten Beträge in monatlichen Raten ist daher ohne weiteres vertretbar.

Eine Verwirkung des Rückforderungsanspruches ist nicht eingetreten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes darf die Rückforderung von zu Unrecht erhaltenen Leistungen nicht unbeschränkt lange hinausgezögert, sondern muß umgehend ausgesprochen werden (Urteil des Bundessozialgerichtes vom 7. August 1969 8 RV – 311/68). So ist davon auszugehen, daß Rückforderungen für eine Zeit von mehr als 4 Jahren seit Beginn des Jahres des Rückforderungsbescheides als verwirkt angesehen werden müssen (Bundessozialgericht Urteil vom 9. April 1963 abgedruckt in Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichtes Bd. 19 S. 88). Die Rückforderung von erhaltenen Leistungen kann auch für einen Zeitraum vor Ablauf von 4 Jahren dann gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn besondere Handlungen des Beklagten den Berechtigten in der Auffassung bestärkten, es würden von ihm die zu Unrecht erhaltenen Leistungen nicht zurückgefordert. Ein solches Verhalten des Beklagten ist aber nicht festzustellen. Erst durch das Schreiben 1971 und die nicht ausgefüllten Verdienstbescheinigungen erfuhr der Beklagte, daß der Kläger schon seit längerer Zeit als Angestellter einer Lebensversicherung tätig war und ein höheres Einkommen als das eines Müllers erzielte. Der Beklagte hat daraufhin auch sogleich bei der Lebensversicherung Nachforschungen über die Einkommensverhältnisse des Klägers angestellt, die dann umgehend zu dem Rückforderungsbescheid vom 29. März 1972 führte. Ein schuldhaftes Zögern kann dem Beklagten nicht vorgeworfen werden, zumal der Kläger nicht den Eindruck gewinnen konnte, daß der Beklagte auf Zurückforderung verzichten würde.

Durch die vom Beklagten übersandten Lebensbescheinigungen, die der Kläger ausfüllte, konnte der Beklagte keine Kenntnis von der geänderten Berufstätigkeit erhalten. Auf Seite 2 der Lebensbescheinigung ist von den Berechtigten auszufüllen, denen auch der Zweck dieser Erklärung bekanntgegeben war, bei welchem Arbeitgeber sie beschäftigt sind und bei welcher Krankenkasse ihre Krankenversicherung läuft. Dieser Teil der Lebensbescheinigung wird von den Versorgungsämtern nicht geprüft, sondern sogleich den Krankenkassen zur weiteren Veranlassung übersandt. Aus diesen Angaben konnte der Beklagte daher nicht die geänderte Berufsausübung entnehmen. Darüber hinaus ist auf der 1. Seite der Lebensbescheinigung unter B ausdrücklich ausgeführt, daß trotz Ausfüllung der bei der auszahlenden Stelle verbleibenden Lebensbescheinigung sämtliche, für die Feststellung des Versorgungsanspruches maßgebenden Verhältnisse dem Versorgungsamt unverzüglich anzuzeigen sind. Dieser Verpflichtung ist der Kläger aber nicht nachgekommen. Da die Lebensbescheinigung keine Anzeige der veränderten Berufsverhältnisse darstellt, konnte der Kläger nicht aus dem Schweigen des Beklagten den Schluß ziehen, etwa zuviel gezahlte Leistungen würden nicht zurückgefordert.

Die Rückforderung ist auch nicht durch das Rundschreiben des Landesversorgungsamtes Hessen vom 12. März 1973 ausgeschlossen. In diesem Rundschreiben werden die Versorgungsbehörden angewiesen, von Zeit zu Zeit nachzuprüfen, ob die Voraussetzungen eines besonderen beruflichen Betroffenseins noch vorliegen. Die Rückforderung von dann möglicherweise in der Vergangenheit zuviel gezahlter Grundrente sei nicht berechtigt, weil eine verspätete Nachprüfung zu Lasten der Verwaltung gehe. Dieses Rundschreiben kann nach Auffassung des Senates hier nicht herangezogen werden, weil auch nach der Auslegung eines Rundschreiben eine Rückforderung nur dann unterbleiben kann, wenn die Verwaltung ein Verschulden an der verspäteten Berichtigung der Rentenfestsetzung trifft. Wenn der Beschädigte es schuldhaft unterlässt, ihm auferlegte Angaben zu machen und dadurch eine frühere Berichtigung verhindert, kann er daraus nicht den Vorteil ziehen, daß ihm die überzahlten Beträge erlassen werden. Ein weitergehender Inhalt des o.a. Rundschreibens könnte nicht die gesetzliche Regelung des § 47 Abs. 2 VerwVG außer Kraft setzen, weil es den Rahmen der Ermächtigung gesprengt und den dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht sprechen würde. Es ist nur im Einklang mit dieser Bestimmung anzuwenden. Da der Kläger schuldhaft die Angabe der veränderten Verhältnisse verschwiegen hat, wurde durch ihn die Nachprüfung der Verwaltung verhindert und eine Rückforderung ist in einem solchen Falle nicht ausgeschlossen.

Da das Urteil des Sozialgerichts Marburg/L. im Ergebnis richtig war, konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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