Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 V 573/72
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der in Nr. 8 VV zu § 40 VerwVG genannte 4-Jahres-Zeitraum ist nicht durch Verlegung auf den Jahresanfang wie bei der Verjährungsfrist verlängerungsfähig. Die Vorschrift ist nicht auslegungsbedürftig.
2. Die vorstehende Auffassung verpflichtet nach § 150 Nr. 1 SGG bei Abweichung zur Berufungszulassung. Der Senat folgt der Entscheidung des BSG, daß auch eine irrtümliche Nichtzulassung der Berufung keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 158 Nr. 2 SGG darstellt.
2. Die vorstehende Auffassung verpflichtet nach § 150 Nr. 1 SGG bei Abweichung zur Berufungszulassung. Der Senat folgt der Entscheidung des BSG, daß auch eine irrtümliche Nichtzulassung der Berufung keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 158 Nr. 2 SGG darstellt.
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 4. Mai 1972 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin bezieht Hinterbliebenen-Witwenrente und Schadensausgleich nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie beantragte im Juni 1971 die Gewährung von höherem Schadensausgleich im Wege einer Zugunstenentscheidung nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG).
Mit Bescheid vom 16. August 1971 gab der Beklagte ihrem Antrag statt und berechnete den Schadensausgleich anstatt nach dem Durchschnittseinkommen eines Arbeiters der Leistungsgruppe 1 nach dem Durchschnittseinkommen eines technischen Angestellten der Leistungsgruppe III in der Verbrauchsgüterindustrie (Weberei). Die Neuberechnung des Schadensausgleiches nahm der Beklagte für die Zeit ab 1. Juni 1967 vor und berief sich für die vorangegangene Zeit auf die Bindung seiner früheren Bescheide.
Mit dem Widerspruch begehrte die Klägerin die Rückwirkung ab 1. Januar 1967, dem Jahresbeginn des 4. Rückrechnungsjahres, vorzunehmen und berief sich hierfür auf Urteile des Bundessozialgerichts vom 26. September 1968 und 23. Mai 1969 und weiteres Schrifttum. Sie war der Auffassung, die Berechnung des Rückrechnungszeitraums von 4 Jahren müsse entsprechend § 201 BGB erfolgen. Mit Bescheid vom 4. November 1971 half der Beklagte dem Widerspruch unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG nicht ab.
Das Sozialgericht Gießen gab mit Urteil vom 4. Mai 1972 der Klage statt und erklärte den Beklagten für verpflichtet, unter Abänderung der Bescheide vom 16. August 1971 und 4. November 1971 hinsichtlich der Rückwirkung der Zugunstenentscheidung der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen. Das Sozialgericht vertrat die Auffassung, der in den Verwaltungsvorschriften Nr. 8 zu § 40 VerwVG erwähnte Zeitraum von 4 Jahren müsse gemäß den §§ 201 und 197 BGB berechnet werden. Der Rückwirkungszeitraum von 4 Jahren sei deshalb vom 1. Januar des Jahres an zu bemessen, in dem der Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheides gestellt worden sei. Dies sei im Lande Baden-Württemberg allgemeine Verwaltungsübung. Schon aus Gründen der Gleichbehandlung müsse sich das Land Hessen dem anschließen.
Die schriftliche Berufung des Beklagten gegen dieses ihm am 8. Juni 1972 zugestellte Urteil ging am 19. Juni 1972 beim Hessischen Landessozialgericht ein. Der Beklagte ist der Auffassung, wegen wesentlicher Verfahrensmängel sei die Berufung zulässig. So sei § 54 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Das Sozialgericht habe zum Ausdruck gebracht, daß jede andere Entscheidung in dieser Sache notwendig einen Ermessensfehlgebrauch bedeuten würde. Da dies jedoch nicht zutreffe, habe das Sozialgericht damit sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Versorgungsbehörde gesetzt. Bei richtiger Würdigung des Sachverhaltes hätte das Sozialgericht einen Ermessensfehlgebrauch nicht feststellen können. Eventuell hätte das Sozialgericht lediglich die angefochtenen Bescheide aufheben und den Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides ohne Verpflichtung zu einer bestimmten Leistung verurteilen dürfen. Ein Ermessensspielraum verbleibe der Versorgungsverwaltung jetzt nicht. Anzunehmen, daß der Beklagte lediglich zu einer Weise sein Ermessen ausüben könne, sei im vorliegenden Falle von der Sache her unbegründet. Ein weiterer Verfahrensmangel liege darin, daß praktisch eine Zurückverweisung des Rechtsstreites an die Verwaltung vorgenommen worden sei. Nach seiner falschen Rechtsmittelbelehrung habe das Sozialgericht nicht erkannt, daß die Berufung nur im Falle ihrer Zulassung im Urteil möglich sei. Das Sozialgericht habe auch in der Sache anders entsprechend der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG entscheiden müssen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 4. Mai 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und ist der Auffassung, daß ein Verfahrensmangel nicht vorliegt.
Wegen der näheren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Streitakten in beiden Rechtszügen und die beigezogenen Akten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist an sich nach § 148 Nr. 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) nicht zulässig, da sich lediglich die Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume im Streit befindet. Auch durch die Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichtes, daß Berufung eingelegt werden könne, wird sie nicht statthaft, weil diese falsche Rechtsmittelbelehrung nicht als Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht im Sinne des § 150 Nr. 1 SGG anzusehen ist (vgl. BSG Urteil vom 15. Mai 1956 – 10 RV 730/55 –). Die Zulassung der Berufung braucht zwar nicht, wenn dies auch zweckmäßig ist, ausdrücklich in die Urteilsformel aufgenommen zu werden (vgl. BSG Urteil vom 13. März 1956 – 2 RU 179/55 in Soz. R. Nr. 11), es muß aber mindestens aus den Urteilsgründen ersichtlich sein, daß das Sozialgericht die Berufung zulassen wollte. Dies ist indessen bei dem im Streit befindlichen Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 4. Mai 1972 nicht der Fall.
Die Berufung ist aber deshalb zulässig, weil ein wesentlicher Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG vorliegt und von dem Beklagten auch gerügt ist. Dieser Verfahrensmangel liegt in einer unzulässigen Einengung des Ermessens des Beklagten bzw. darin, daß das Gericht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde gesetzt hat, indem es die Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG nach eigenem Gutdünken ausgelegt hat, während es Sache des Beklagten ist, die zur Einengung seines freien Ermessens gegebenen Verwaltungsvorschriften auszulegen. Das Sozialgericht kann gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG lediglich prüfen, ob der Ermessensgebrauch bei der Auslegung einer Verwaltungsvorschrift rechtswidrig ist und die Verwaltungsbehörde insbesondere die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Da das Sozialgericht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens des Beklagten bei der Auslegung der erwähnten Verwaltungsvorschrift Nr. 8 gesetzt hat, ohne daß etwa die Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs zur Entscheidung stand, liegt insoweit ein wesentlicher Verfahrensmangel vor.
Die "Ansicht der Kammer” über die Berechnung der in Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften zu § 40 VerwVG genannten 4-Jahresfrist findet weder im Gesetz noch in der Rechtssystematik eine Stütze. Insbesondere ist kein Anlaß gegeben, der apodiktischen Behauptung des Sozialgerichts nachzugehen, diese Vorschrift sei auslegungsbedürftig. Vielmehr ist sie nach Auffassung des Senats eindeutig klar und auch rechtspolitisch verständlich. Dem Beklagten ist daher weder ein Ermessensfehler noch eine falsche Rechtsanwendung unterlaufen, wenn er der ihm in Ziff. 8 gegebenen Anweisung entsprach.
Unbestritten ist im Verwaltungsrecht für die Bestimmung von Zeitabläufen auszugehen von den Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch §§ 187 ff. (vgl. etwa Wolff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd. I § 37 III). Im § 188 Abs. 2 BGB ist bestimmt, daß eine nach einem Zeitraum von 1 Jahr bestimmte Frist mit Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats endet, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in dem das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt und in § 191 ist für einen nach Jahren bestimmten Zeitraum für den Fall, daß er nicht zusammenhängend zu verlaufen braucht, bestimmt, daß das Jahr zu 365 Tagen gerechnet wird. Damit ist der in der Nr. 8 a.a.O. bezeichnete Zeitraum von 4 Jahren klar abgegrenzt. Er kann nicht durch Heranziehung des in Nr. 9 am gleichen Orte bestimmten Zeitraums ausgelegt werden. Die unterschiedliche Regelung in den Nr. 8 u. 9 der Verwaltungsvorschriften zu § 40 VerwVG zeigt sich bei näherer Betrachtung auch nicht etwa als willkürlich oder zufällig. Vielmehr liegt der Regelung ein wesentlicher rechtssystematischer Unterschied zugrunde. Während es sich bei den nach Nr. 9 zu regelnden Rechtsverhältnissen nach § 40 Abs. 2 VerwVG um einen Rechtsanspruch des Beschädigten handelt (ein Bescheid "ist” zu erteilen), stellt der in Nr. 8 angesprochene Absatz 1 des § 40 VerwVG KOV lediglich eine Kannleistung fest, für die das Ermessen des Beklagten nicht nur bezüglich des Leistungsinhalts, sondern auch seiner Rückwirkung gegeben ist. Wenn die Verwaltungsbehörde sich hierbei an einen Zeitraum von 4 Jahren angelehnt hat, so ist möglich, daß dabei rechtspolitische Erwägungen zur Verjährungsfrage eine Rolle gespielt haben; diese Möglichkeit ist indessen nicht Gegenstand der Regelung in der Verwaltungsvorschrift geworden. Würde die Frage des Zeitraumes von 4 Jahren anders anzusehen sein, wäre eine andere Regelung in Nr. 9 bezüglich der Bescheide nach § 40 Abs. 2 nicht erforderlich gewesen. Dabei ist auch auf die unterschiedliche Wortgebung in Nr. 8 mit "soll” und in Nr. 9 mit "sind in der Regel” zu beachten. Damit gehen die vom Sozialgericht in dieser Richtung für eine analogate Anwendung angeführten Gedankengänge fehl. Soweit das Sozialgericht glaubt, aus der Rechtsprechung eine andere Ansicht herleiten zu können, kann dem nicht gefolgt werden. Das vom Sozialgericht genannte Verfahren im Falle S. ist zwischenzeitlich durch Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. März 1973 – L-5/V-429/72 – im gleichen Sinne, zu dem der erkennende Senat gelangt ist, erledigt worden. Dabei hat der 5. Senat darauf hingewiesen, daß bereits nach dem Inhalt der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 der Vierjahreszeitraum von der Antragstellung ab und keinem früheren Zeitpunkt zu berechnen sei. Auch die weiter vom Sozialgericht zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergibt nichts anderes. Das Urteil vom 23. Mai 1969 hatte ebenso wenig wie das Urteil vom 26. September 1968 die Frage der Berechnung des Vierjahreszeitraums im Sinne von Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften zum Gegenstand; vielmehr wurde dort nur entschieden, von welchem Zeitpunkt an die Versorgungsbezüge rückwirkend zu gewähren sind, wenn noch nicht verjährte Leistungen zugebilligt werden sollten. Demgegenüber hatte aber das Bundessozialgericht im Urteil vom 21. März 1969 – 9 RV – 476/67 – in einem Verfahren, in dem der Beklagte von dem Vierjahreszeitraum rückwirkend auf den 1. des Monats der Antragstellung Gebrauch gemacht hatte, keinen Ermessensfehlgebrauch des Beklagten gesehen, wenn dieser damit der "Empfehlung” der Nr. 8 VV zu § 40 VerwVG gefolgt war. In jenem Rechtsstreit war es auf die vom Beklagten hilfsweise erhobene Einrede der Verjährung nicht angekommen.
Der erkennende Senat befindet sich somit nicht nur im Einklang mit der Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts, sondern auch der des Bundessozialgerichts.
Ob im Lande Baden-Württemberg der Rückwirkungszeitraum nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 entsprechend der Regelung des BGB über Verjährung vorgenommen wird, kann hier dahingestellt bleiben. Es besteht auch im Rahmen des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Grundgesetz kein Anspruch des Staatsbürgers darauf, daß die Verwaltung Fehler zu seinen Gunsten wiederholt.
Nach alledem war der Berufung des Beklagten stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es bestand kein Anlaß, die Revision zuzulassen, da der Senat sich in den entscheidenden Fragen mit dem Bundessozialgericht im Einklang befindet.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Die Klägerin bezieht Hinterbliebenen-Witwenrente und Schadensausgleich nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie beantragte im Juni 1971 die Gewährung von höherem Schadensausgleich im Wege einer Zugunstenentscheidung nach § 40 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG).
Mit Bescheid vom 16. August 1971 gab der Beklagte ihrem Antrag statt und berechnete den Schadensausgleich anstatt nach dem Durchschnittseinkommen eines Arbeiters der Leistungsgruppe 1 nach dem Durchschnittseinkommen eines technischen Angestellten der Leistungsgruppe III in der Verbrauchsgüterindustrie (Weberei). Die Neuberechnung des Schadensausgleiches nahm der Beklagte für die Zeit ab 1. Juni 1967 vor und berief sich für die vorangegangene Zeit auf die Bindung seiner früheren Bescheide.
Mit dem Widerspruch begehrte die Klägerin die Rückwirkung ab 1. Januar 1967, dem Jahresbeginn des 4. Rückrechnungsjahres, vorzunehmen und berief sich hierfür auf Urteile des Bundessozialgerichts vom 26. September 1968 und 23. Mai 1969 und weiteres Schrifttum. Sie war der Auffassung, die Berechnung des Rückrechnungszeitraums von 4 Jahren müsse entsprechend § 201 BGB erfolgen. Mit Bescheid vom 4. November 1971 half der Beklagte dem Widerspruch unter Hinweis auf die Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG nicht ab.
Das Sozialgericht Gießen gab mit Urteil vom 4. Mai 1972 der Klage statt und erklärte den Beklagten für verpflichtet, unter Abänderung der Bescheide vom 16. August 1971 und 4. November 1971 hinsichtlich der Rückwirkung der Zugunstenentscheidung der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erteilen. Das Sozialgericht vertrat die Auffassung, der in den Verwaltungsvorschriften Nr. 8 zu § 40 VerwVG erwähnte Zeitraum von 4 Jahren müsse gemäß den §§ 201 und 197 BGB berechnet werden. Der Rückwirkungszeitraum von 4 Jahren sei deshalb vom 1. Januar des Jahres an zu bemessen, in dem der Antrag auf Erlaß eines Zugunstenbescheides gestellt worden sei. Dies sei im Lande Baden-Württemberg allgemeine Verwaltungsübung. Schon aus Gründen der Gleichbehandlung müsse sich das Land Hessen dem anschließen.
Die schriftliche Berufung des Beklagten gegen dieses ihm am 8. Juni 1972 zugestellte Urteil ging am 19. Juni 1972 beim Hessischen Landessozialgericht ein. Der Beklagte ist der Auffassung, wegen wesentlicher Verfahrensmängel sei die Berufung zulässig. So sei § 54 Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Das Sozialgericht habe zum Ausdruck gebracht, daß jede andere Entscheidung in dieser Sache notwendig einen Ermessensfehlgebrauch bedeuten würde. Da dies jedoch nicht zutreffe, habe das Sozialgericht damit sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Versorgungsbehörde gesetzt. Bei richtiger Würdigung des Sachverhaltes hätte das Sozialgericht einen Ermessensfehlgebrauch nicht feststellen können. Eventuell hätte das Sozialgericht lediglich die angefochtenen Bescheide aufheben und den Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides ohne Verpflichtung zu einer bestimmten Leistung verurteilen dürfen. Ein Ermessensspielraum verbleibe der Versorgungsverwaltung jetzt nicht. Anzunehmen, daß der Beklagte lediglich zu einer Weise sein Ermessen ausüben könne, sei im vorliegenden Falle von der Sache her unbegründet. Ein weiterer Verfahrensmangel liege darin, daß praktisch eine Zurückverweisung des Rechtsstreites an die Verwaltung vorgenommen worden sei. Nach seiner falschen Rechtsmittelbelehrung habe das Sozialgericht nicht erkannt, daß die Berufung nur im Falle ihrer Zulassung im Urteil möglich sei. Das Sozialgericht habe auch in der Sache anders entsprechend der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG entscheiden müssen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Gießen vom 4. Mai 1972 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und ist der Auffassung, daß ein Verfahrensmangel nicht vorliegt.
Wegen der näheren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Streitakten in beiden Rechtszügen und die beigezogenen Akten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist an sich nach § 148 Nr. 2 SGG (Sozialgerichtsgesetz) nicht zulässig, da sich lediglich die Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume im Streit befindet. Auch durch die Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichtes, daß Berufung eingelegt werden könne, wird sie nicht statthaft, weil diese falsche Rechtsmittelbelehrung nicht als Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht im Sinne des § 150 Nr. 1 SGG anzusehen ist (vgl. BSG Urteil vom 15. Mai 1956 – 10 RV 730/55 –). Die Zulassung der Berufung braucht zwar nicht, wenn dies auch zweckmäßig ist, ausdrücklich in die Urteilsformel aufgenommen zu werden (vgl. BSG Urteil vom 13. März 1956 – 2 RU 179/55 in Soz. R. Nr. 11), es muß aber mindestens aus den Urteilsgründen ersichtlich sein, daß das Sozialgericht die Berufung zulassen wollte. Dies ist indessen bei dem im Streit befindlichen Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 4. Mai 1972 nicht der Fall.
Die Berufung ist aber deshalb zulässig, weil ein wesentlicher Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG vorliegt und von dem Beklagten auch gerügt ist. Dieser Verfahrensmangel liegt in einer unzulässigen Einengung des Ermessens des Beklagten bzw. darin, daß das Gericht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde gesetzt hat, indem es die Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 40 VerwVG nach eigenem Gutdünken ausgelegt hat, während es Sache des Beklagten ist, die zur Einengung seines freien Ermessens gegebenen Verwaltungsvorschriften auszulegen. Das Sozialgericht kann gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG lediglich prüfen, ob der Ermessensgebrauch bei der Auslegung einer Verwaltungsvorschrift rechtswidrig ist und die Verwaltungsbehörde insbesondere die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Da das Sozialgericht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Ermessens des Beklagten bei der Auslegung der erwähnten Verwaltungsvorschrift Nr. 8 gesetzt hat, ohne daß etwa die Ausfüllung eines unbestimmten Rechtsbegriffs zur Entscheidung stand, liegt insoweit ein wesentlicher Verfahrensmangel vor.
Die "Ansicht der Kammer” über die Berechnung der in Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften zu § 40 VerwVG genannten 4-Jahresfrist findet weder im Gesetz noch in der Rechtssystematik eine Stütze. Insbesondere ist kein Anlaß gegeben, der apodiktischen Behauptung des Sozialgerichts nachzugehen, diese Vorschrift sei auslegungsbedürftig. Vielmehr ist sie nach Auffassung des Senats eindeutig klar und auch rechtspolitisch verständlich. Dem Beklagten ist daher weder ein Ermessensfehler noch eine falsche Rechtsanwendung unterlaufen, wenn er der ihm in Ziff. 8 gegebenen Anweisung entsprach.
Unbestritten ist im Verwaltungsrecht für die Bestimmung von Zeitabläufen auszugehen von den Bestimmungen im Bürgerlichen Gesetzbuch §§ 187 ff. (vgl. etwa Wolff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts Bd. I § 37 III). Im § 188 Abs. 2 BGB ist bestimmt, daß eine nach einem Zeitraum von 1 Jahr bestimmte Frist mit Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats endet, der durch seine Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in dem das Ereignis oder der Zeitpunkt fällt und in § 191 ist für einen nach Jahren bestimmten Zeitraum für den Fall, daß er nicht zusammenhängend zu verlaufen braucht, bestimmt, daß das Jahr zu 365 Tagen gerechnet wird. Damit ist der in der Nr. 8 a.a.O. bezeichnete Zeitraum von 4 Jahren klar abgegrenzt. Er kann nicht durch Heranziehung des in Nr. 9 am gleichen Orte bestimmten Zeitraums ausgelegt werden. Die unterschiedliche Regelung in den Nr. 8 u. 9 der Verwaltungsvorschriften zu § 40 VerwVG zeigt sich bei näherer Betrachtung auch nicht etwa als willkürlich oder zufällig. Vielmehr liegt der Regelung ein wesentlicher rechtssystematischer Unterschied zugrunde. Während es sich bei den nach Nr. 9 zu regelnden Rechtsverhältnissen nach § 40 Abs. 2 VerwVG um einen Rechtsanspruch des Beschädigten handelt (ein Bescheid "ist” zu erteilen), stellt der in Nr. 8 angesprochene Absatz 1 des § 40 VerwVG KOV lediglich eine Kannleistung fest, für die das Ermessen des Beklagten nicht nur bezüglich des Leistungsinhalts, sondern auch seiner Rückwirkung gegeben ist. Wenn die Verwaltungsbehörde sich hierbei an einen Zeitraum von 4 Jahren angelehnt hat, so ist möglich, daß dabei rechtspolitische Erwägungen zur Verjährungsfrage eine Rolle gespielt haben; diese Möglichkeit ist indessen nicht Gegenstand der Regelung in der Verwaltungsvorschrift geworden. Würde die Frage des Zeitraumes von 4 Jahren anders anzusehen sein, wäre eine andere Regelung in Nr. 9 bezüglich der Bescheide nach § 40 Abs. 2 nicht erforderlich gewesen. Dabei ist auch auf die unterschiedliche Wortgebung in Nr. 8 mit "soll” und in Nr. 9 mit "sind in der Regel” zu beachten. Damit gehen die vom Sozialgericht in dieser Richtung für eine analogate Anwendung angeführten Gedankengänge fehl. Soweit das Sozialgericht glaubt, aus der Rechtsprechung eine andere Ansicht herleiten zu können, kann dem nicht gefolgt werden. Das vom Sozialgericht genannte Verfahren im Falle S. ist zwischenzeitlich durch Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. März 1973 – L-5/V-429/72 – im gleichen Sinne, zu dem der erkennende Senat gelangt ist, erledigt worden. Dabei hat der 5. Senat darauf hingewiesen, daß bereits nach dem Inhalt der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 der Vierjahreszeitraum von der Antragstellung ab und keinem früheren Zeitpunkt zu berechnen sei. Auch die weiter vom Sozialgericht zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergibt nichts anderes. Das Urteil vom 23. Mai 1969 hatte ebenso wenig wie das Urteil vom 26. September 1968 die Frage der Berechnung des Vierjahreszeitraums im Sinne von Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften zum Gegenstand; vielmehr wurde dort nur entschieden, von welchem Zeitpunkt an die Versorgungsbezüge rückwirkend zu gewähren sind, wenn noch nicht verjährte Leistungen zugebilligt werden sollten. Demgegenüber hatte aber das Bundessozialgericht im Urteil vom 21. März 1969 – 9 RV – 476/67 – in einem Verfahren, in dem der Beklagte von dem Vierjahreszeitraum rückwirkend auf den 1. des Monats der Antragstellung Gebrauch gemacht hatte, keinen Ermessensfehlgebrauch des Beklagten gesehen, wenn dieser damit der "Empfehlung” der Nr. 8 VV zu § 40 VerwVG gefolgt war. In jenem Rechtsstreit war es auf die vom Beklagten hilfsweise erhobene Einrede der Verjährung nicht angekommen.
Der erkennende Senat befindet sich somit nicht nur im Einklang mit der Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts, sondern auch der des Bundessozialgerichts.
Ob im Lande Baden-Württemberg der Rückwirkungszeitraum nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 entsprechend der Regelung des BGB über Verjährung vorgenommen wird, kann hier dahingestellt bleiben. Es besteht auch im Rahmen des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Grundgesetz kein Anspruch des Staatsbürgers darauf, daß die Verwaltung Fehler zu seinen Gunsten wiederholt.
Nach alledem war der Berufung des Beklagten stattzugeben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es bestand kein Anlaß, die Revision zuzulassen, da der Senat sich in den entscheidenden Fragen mit dem Bundessozialgericht im Einklang befindet.
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