L 5 V 96/71

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
5
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 V 96/71
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Gibt ein heimatvertriebener Beschädigter im Verwaltungsverfahren als schädigungsbedingt vereiteltes Berufsziel Arbeitnehmertätigkeiten an und wechselt er im Klageverfahren zu der Behauptung über, er wäre selbständiger Landwirt geworden, dann sind an die konkreten Anhaltspunkte dafür besonders strenge Maßstäbe anzulegen.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 18. Januar 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der am 10. März 1923 geborene Kläger erhält wegen

1) "Versteifung des re. Ellenbogengelenkes und des Drehgelenkes,
2) Versteifung des unteren Sprunggelenkes, Teilversteifung des oberen Sprunggelenkes und Platt-Knickfuß li.,
3) Stecksplitter in der Gegend des li. Fuß-Innenknöchels und des re. Ellenbogens”,

als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Rente nach einem Grade der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v.H. (Zugunstenbescheid vom 4. März 1969).

Am 6. August 1965 beantragte er beim Versorgungsamt Darmstadt Berufsschadensausgleich. Zu seinem beruflichen Werdegang gab er an, im S. bis 1934 die Volks- und bis 1938 die Mittelschule besucht zu haben, wobei deren 4. Klasse freiwillig gewesen und wegen der Wirren infolge der Sudetenlandkrise nicht beendet worden sei. Von 1939 bis zu seiner Einberufung im April 1942 habe er ein Praktikum in der Landwirtschaft abgeleistet und zugleich ein Jahr lang eine Musikschule sowie 2 Jahre die Landwirtschaftsschule in E. besuchte Nach seiner Verwundung habe er von 1944 bis zum Zusammenbruch als Angestellter bei der Kreisbauernschaft in E., nach der Vertreibung ab 1941 bis Ende 1964 als Kraftfahrer und Fahrlehrer bei den Stationierungskräften in D. gearbeitet. Seit Januar 1965 sei er hier Verwaltungsangestellter und werde derzeitig nach B T VII besoldet. Sein durch die Schädigung vereiteltes Berufsziel sei das des Gutsverwalters und späteren Dipl. Landwirts gewesen.

Nach Beiziehung von Verdienstbescheinigungen und verwaltungsmäßiger Prüfung lehnte das Versorgungsamt den Antrag mit Bescheid vom 11. März 1968 ab. Der Kläger habe einen seiner Schul- und Berufsausbildung entsprechenden gleichwertigen Beruf als Angestellter im öffentlichen Dienst erreicht. Ein Einkommensverlust liege nicht vor.

Durch Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 1969 wurde der angefochtene Bescheid mit der zusätzlichen Begründung bestätigt, am Erreichen des Berufsziels Dipl. Landwirt hätte den Kläger die mangelnde Schulbildung gehindert. Seine Schädigungsfolgen hätten der Erlernung und Ausübung eines akademischen Berufes nicht im Wege gestanden. Mit der Tätigkeit als Angestellter bei der Kreisbauernschaft in E. sei nach der Schädigung eine der Ausbildung entsprechende Stellung erreicht gewesen, die wegen der Vertreibung habe aufgegeben werden müssen.

Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Darmstadt hat der Kläger vorgetragen, er wäre ohne die Schädigungsfolgen nach dem Kriege selbständiger Landwirt geworden und sich für diese neue Einlassung auf schriftliche Erklärungen seines Vaters A. B. und des L. H. vom 10. Januar 1970 berufen, wonach ersterem als ehemaligem selbständigen Landwirt mit 41 Morgen nach der Vertreibung von dem Bauern H. in C. die Gelegenheit geboten worden sei, dessen Hof von 10 Morgen Land zu pachten und später zu kaufen. Sein Vater habe das Angebot wegen seiner, des Klägers, Schädigungsfolgen ablehnen müssen.

Demgegenüber hat der Beklagte ausgeführt, dieser Sachverhalt betreffe die Erwerbsmöglichkeiten des Vaters. Der Nachweis, daß der Kläger als Ungeschädigter eine berufliche Entwicklung als Selbständiger genommen haben würde, sei damit nicht erbracht.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Landwirte L. H. und A. B. als Zeugen. Wegen der Aussagen im einzelnen wird auf die Sitzungsniederschrift vom 13. Januar 1971 Bezug genommen.

Mit Urteil vom selben Tage hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, das Gericht habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen können, daß der Vater des Klägers eine Landwirtschaft erworben und diese später an ihn übertragen hätte. Der Kläger sei vielmehr in der gleichen Lage wie eine Großzahl von Landwirten aus dem Sudetenland gewesen, die nach dem Krieg in die Industrie abgewandert seien. Da er als städtischer Angestellter nach BAT VII besoldet werde, habe der Beklagte zutreffend keinen Einkommensverlust festgestellt.

Gegen dieses Urteil, das dem Kläger am 25. Januar 1971 zugestellt worden ist, richtet sich seine am 29. Januar 1971 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Berufung. Zur Begründung verweist er auf sein Vorbringen erster Instanz, das Ergebnis der Beweisaufnahme und auf eine schriftliche Erklärung seines Vaters vom 11. Juli 1971

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 18. Januar 1971 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 11. März 1960 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 1969 zu verurteilen, Berufsschadensausgleich unter Eingruppierung in die Besoldungsgruppe A 7 BBesG ab 1. Januar 1964 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Akten des Versorgungsamtes Darmstadt mit der Grundlisten-Nr. xxxx/xx haben vorgelegen. Auf ihren Inhalt und den der Gerichtsakten beider Instanzen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, sie ist insbesondere frist- und formgerecht eingelegt worden (§§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –). Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 11. März 1963 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Mai 1969 ist nicht rechtswidrig.

Rechtsgrundlage ist § 30 Abs. 3 und 4 BVG in der Fassung 2. und 3. Neuordnungsgesetzes (NOG), wonach Schwerbeschädigte, deren Erwerbseinkommen durch die Schädigungsfolgen um monatlich mindestens 75,– DM oder überhaupt gemindert ist (Einkommensverlust), nach Anwendung des § 30 Abs. 2 BVG einen Berufsschadensausgleich in monatlicher Höhe von vier Zehntel des Verlustes oder nach einer bezifferten Höchstgrenze erhalten (§ 30 Abs. 3 BVG). Einkommensverlust ist dabei der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente und dem höheren Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, welcher der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte.

Von diesen Vorschriften ausgehend vermochte auch der Senat sich nicht zu überzeugen, daß die Voraussetzungen für die Gewährung von Berufsschadensausgleich erfüllt sind. Denn es fehlt vorliegend am Nachweis des schädigungsbedingten Einkommensverlustes, da nicht wahrscheinlich ist im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausaltheorie, daß der Kläger als ungeschädigter nach dem Kriege selbständiger Landwirt geworden wäre. Von seinem ursprünglichen Begehren, als Gutsverwalter oder sogar als akademisch ausgebildeter Landwirt eingestuft zu werden, war wegen seiner davon abweichenden Einlassung im Klageverfahren ohnehin nicht mehr auszugehen.

Abzustellen ist vorliegend nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urt. v. 17. März 1970, Az.: 9 RV 514/68) darauf, daß die Tatbestände des § 30 Abs. 3 und 4 BVG im Zeitpunkt der Antragstellung gegeben sein müssen. Auf den Umstand, daß der Kläger schon vor der Vertreibung geschädigt war und in der Heimat wahrscheinlich nur in beschränkten Bereichen als selbständiger Landwirt hätte arbeiten können, kommt es hiernach nicht entscheidend an. Ferner ist vorliegend aber auch nicht dargetan, daß er beim Verbleiben im Sudetenland den Hof des Vaters übernommen hätte. Denn er hatte, was in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, zur Begründung seines Antrages vorgetragen, sein Berufsziel sei das des Gutsverwalters und späteren Dipl. Landwirts gewesen. Als mithelfendes Familienmitglied ist er wegen des Praktikums und Schulbesuchs offenbar nicht in wesentlichem Umfang tätig gewesen und die Größe des väterlichen Besitzes verlangte keine Leitung desselben durch einen akademisch gebildeten Landwirt.

Im Jahre 1964, d.h. bei Inkrafttreten des 2. NOG und später noch bei Stellung des Antrages war der Kläger nun aber Vertriebener. Er hätte bei gesunder Heimkehr aus dem Kriege ebenso wie die weit überwiegende Mehrzahl dieses Personenkreises vor der Frage gestanden, sich eine neue Existenz aufzubauen. Daß es gerade die eines selbständigen Landwirts gewesen wäre, ist nicht wahrscheinlich, weil sogar die vertriebenen Bauern, die jahrelange berufliche Erfahrungen auf eigenen Höfen vorzuweisen hatten, bis auf wenige nicht in ihrem Beruf untergebracht werden konnten. Bei dem Kläger, der weder ein eigenes Anwesen besessen oder bewirtschaftet noch die Absicht gehabt hatte, im Sudetenland selbständiger Landwirt zu werden, schrumpft jede Wahrscheinlichkeit nach objektiven Maßstäben zu einer bloßen Möglichkeit zusammen.

Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme des Gegenteils finden sich auch in Wertung seiner Behauptung nicht, daß sein Vater die Gelegenheit gehabt habe, einen Bauernhof mit 10 Morgen Land zu übernehmen, den er ihm übergeben haben würde. Das hat die von dem Sozialgericht durchgeführte Beweisaufnahme nicht erwiesen. Denn der Zeuge H. hat im Gegensatz zu seiner schriftlichen Erklärung vom 10. Januar 1970 nur gesagt, er habe die Absicht der späteren Hofübernahme daraus entnommen, daß B. bei dem Bauern H. untergebracht gewesen sei und mit diesem ein gutes Verhältnis gehabt habe. Diese Bekundung ist zu unbestimmt, um daraus auf ernsthafte Verhandlungen mit dem Zwecke des Ankaufs des H.’schen Anwesens durch den Vater des Klägers schließen zu können. Dieser selbst hat als Zeuge zwar angegeben, H. habe ihm seine Landwirtschaft zur Übernahme angeboten. Jedoch auch das beweist nicht, daß Vertragsverhandlungen stattgefunden haben, sondern belegt nur ein unverbindlich gebliebenes Gespräch. Da das Gesetzeswerk über den Lastenausgleich in den Jahren 1946/47 die nach der Aussage des A. B. in Rede standen, noch nicht geschaffen war und andere Kredithilfen für Landwirte ebenfalls erst später anliefen, hätten dem Zeugen auch die finanziellen Mittel zum Ankauf, wahrscheinlich sogar zur Pachtung gefehlt. Vor allem deshalb ist nicht davon auszugehen, daß dieser eine konkrete Chance hatte, sich als Landwirt wieder selbständig zu machen. Von dieser unbewiesen gebliebenen Möglichkeit auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit zu schließen, daß später der Kläger als Sohn diesen Hof von 18 Morgen geerbt oder in einer anderen Weise übernommen und ihn zu einer vollen Erwerbsstelle ausgebaut hätte, wenn er ungeschädigt geblieben wäre, geht nicht an. Eine andere Betrachtungsweise läßt auch die Erklärung des A. B. vom 11. Juli 1972 nicht zu. Denn sie steht im Widerspruch zu dessen Zeugenaussage insoweit, als sie den Zeitpunkt der Gespräche in spätere Jahre verlegt. Sollte das Verkaufsangebot aber tatsächlich erst nach Inkrafttreten des Lastenausgleichsgesetzes gemacht worden sein, dann rückt die Ablehnung desselben durch A. B. in ein ganz anderes Licht. Denn nach seiner Zeugenaussage hatte der Kläger sich 1949/50 bereits ein Haus gebaut. Daß er nunmehr überhaupt noch Interesse daran hätte zeigen können, mit seiner Familie in das H.’sche Anwesen zu ziehen, ist auch bei Unterstellung einer ungeschädigten Heimkehr nicht anzunehmen. Seine häusliche und berufliche Existenz war zu dieser Zeit bereits gesichert.

Bedeutend wahrscheinlicher ist deshalb nach den vorhandenen konkreten Anhaltspunkten, daß er wie die vergleichbaren Vertriebenen darangegangen wäre, als Angestellter in einem Beruf zu arbeiten, der ihm die Verwertung seiner erworbenen Kenntnisse erlaubt hätte. Ist das die zutreffendste Prämisse, dann zeigt sich aber, daß die anerkannten Schädigungsfolgen ihn daran auch vor 1965 nicht gehindert hätten, zumal er von 1944 bis zur Vertreibung bereits eine einschlägige Angestelltentätigkeit verrichtet hatte. Wenn er nach dem Kriege seine Kenntnisse zunächst nicht nutzte, sondern als Fahrer und Fahrlehrer bei der Besatzungsmacht arbeitete, um erst ab 1965 als Verwaltungsangestellter zum Magistrat der Stadt Darmstadt zu gehen, so ist das kein das Versorgungsrecht berührender Tatbestand. Überdies steht er in Wertung dieser beruflichen Tätigkeit einem Angestellten einer landwirtschaftlichen Behörde, Körperschaft oder eines entsprechenden Institutes privat-rechtlicher Art gleich. Ein schädigungsbedingter Einkommensverlust ist in diesem Zusammenhang weder dargetan noch ersichtlich. Hiernach bestand keine rechtliche Handhabe, seinem Begehren Rechnung zu tragen. Der Berufung war der Erfolg mit der Kostenfolge aus § 193 SGG vielmehr zu versagen.
Rechtskraft
Aus
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