L 14 P 450/98

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 2 P 439/96
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 14 P 450/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Dezember 1997 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat dem Kläger die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab April 1995.

Der 1964 geborene Kläger ist bei der Beklagten pflegeversichert. Er ist von Geburt an wegen eines sogenannten Down-Syndroms (früher: Mongolismus) behindert. Wegen dieser Behinderung ist er als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt und die Nachteilsausgleiche "B", "G", "H" und "RF" sind zuerkannt. Er bezieht Pflegegeld wegen erheblicher Pflegebedürftigkeit nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von der Beigeladenen seit 1984. Er besucht eine Behindertenwerkstatt. Seit dem Tod der Mutter am 31. August 1996 lebt er mit seiner Schwester, M. A. (Pflegeperson), die zur Betreuerin bestellt worden ist, zusammen.

Am 20. Februar 1995 beantragte er Pflegegeld bei der Beklagten. Der Kläger wurde daraufhin am 25. April 1995 vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), von einem externen Gutachter untersucht. Dieser bestätigte einen Hilfebedarf derart, dass Pflegestufe I nicht erreicht werde. Mit formlosem Bescheid vom 16. Mai 1995 lehnte die Beklagte die Gewährung von Pflegegeld ab.

Hiergegen legte der Kläger am 31. Mai 1995 Widerspruch ein, woraufhin die Beklagte erneut eine Begutachtung durch den MDK - Dr. B. - am 20. Januar 1996 veranlasste. Dr. B. stellte als Diagnose "Down-Syndrom mit hochgradiger Debilität, Adipositas und Armverkürzung links (4 cm)" fest und bejahte pflegerischen Hilfebedarf, jedoch nicht in dem Maße, dass Pflegebedürftigkeit nach Pflegestufe I begründet werden könnte. Im Vordergrund stehe die Betreuung. Auf der Basis dieses Gutachtens wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. April 1996 den Widerspruch des Klägers zurück.

Am 6. Mai 1996 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Wiesbaden erhoben. Mit Beiladungsbeschluss vom 1. August 1996 wurde der Magistrat der Stadt Wiesbaden - Amt für Soziale Arbeit - beigeladen. Das Sozialgericht hat einen Befundbericht des praktischen Arztes Dr. G. vom 29. Juni 1996 und eine Auskunft bei der Werkstatt für Behinderte vom 19. Dezember 1996 eingeholt. Ferner hat das Sozialgericht die Schwester des Klägers als Pflegeperson vernommen und ihr aufgegeben, ein Pflegetagebuch für eine Woche zu erstellen. Dieses Pflegetagebuch ist von Dr. L. (MDK) ausgewertet worden mit dem Ergebnis, dass der Pflegebedarf (Grundpflege) tagesdurchschnittlich 33 Minuten betrage.

Mit Urteil vom 16. Dezember 1998 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 16. Mai 1995 und den Widerspruchsbescheid vom 9. April 1996 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 1. April 1995 zu gewähren. In den Entscheidungsgründen hat das Sozialgericht ausgeführt, dass zur Überzeugung der Kammer der Pflegebedarf für die Grundpflege im Tagesdurchschnitt mindestens 50 Minuten betrage. Nach den Angaben der Schwester des Klägers als Pflegeperson benötige dies 33 Minuten im Bereich der Körperpflege (für Waschen und Duschen morgens 15 Minuten, 2 ½ Minuten morgens und 2 ½ Minuten abends für die Zahnpflege, 5 Minuten für Rasieren und 4 Minuten morgens und 4 Minuten abends für die Säuberung nach Darm- und Blasenentleerung). Hinzu kämen 5 Minuten im Bereich der Ernährung für das Schmieren von Brötchen und Brot, Obst schneiden, Ei pellen, und weitere 12 Minuten im Bereich Mobilität (2 Minuten für Aufstehen, 2 - 4 mal 2 - 3 Minuten für An- und Auskleiden insgesamt 10 Minuten).

Gegen das ihr am 18. März 1998 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 3. April 1998 Berufung eingelegt.

Die Beklagte folgt den Einschätzungen von Dr. L. (27 bis 41 Minuten pro Tag) bzw. Dr. Px. (39 Minuten pro Tag). Diese Gutachter hätten ausgeführt, dass der Kläger aus medizinischer Sicht in der Lage sei, sich auch selbst "den Po zu säubern"; nur aus Effektivitätsgründen würde dies von der Schwester übernommen. Ferner könne sich der Kläger, wenn ein Klappsitz in der Dusche angebracht wird, selbst reinigen. Der Pflegebedarf bestehe hauptsächlich in Form der Aufforderung sowie der Beaufsichtigung. Der Kläger komme aber den Aufforderungen unverzüglich nach. Er könne sogar mit dem Messer umgehen, wie die Pflegeperson anlässlich ihrer Vernehmung am 15. Juni 1997 vor dem Sozialgericht erklärt habe: " ... beim Brote schmieren muss ich gelegentlich helfen. Die warmen Mahlzeiten stelle ich hin, er schneidet das Fleisch selbst." Die Beklagte hat sozialmedizinische Gutachten von Dr. Lx. (MDK) vom 5. Juli 2000, 16. Oktober 2000 und 27. Februar 2001 vorgelegt. Danach betrage der Grundpflegebedarf höchstens 39 Minuten pro Tag.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 16. Dezember 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger und der Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger trägt vor, dass die Minutenangaben des Gutachters Dr. Px. realitätsfremd seien. Seine Schwester benötige am Morgen für die Reinigung und andere Verrichtungen alleine insgesamt 20 Minuten, so dass morgens 7 Minuten und abends 3 Minuten alleine für Waschen bzw. Duschen anfielen. Der Zeitbedarf für Zahnpflege sei viel zu niedrig angesetzt. Aufgrund der Betreuung habe die Schwester ihre wöchentliche Arbeitszeit bereits auf 37 Stunden reduzieren müssen. Der Kläger hält das Gutachten von Frau A. überzeugend.

Die Beigeladene hält einen Bedarf für Grundpflege von 51 Minuten pro Tag für angemessen, da allein das Haarewaschen fünf Minuten in Anspruch nehme; hinzu kämen zweimal vier bis sechs Minuten für das Zähneputzen sowie das Eincremen des Gesichts und die Hilfe bei den Mahlzeiten. Sie hat ein Gutachten des Arztes für Psychiatrie und Neurologie F. vom 26. Mai 2000 vorgelegt, in dem Pflegebedürftigkeit bejaht wird.

Der Senat hat über die Gesundheitsstörungen des Klägers Beweis erhoben und ein Gutachten bei dem Arzt Dr. Px. eingeholt. Dieser ist in seinem Gutachten vom 10. November 1998 nach einem Hausbesuch (2 Stunden, 55 Minuten) zu dem Ergebnis gekommen, dass der Zeitaufwand für die Grundpflege pro Tag 39 Minuten und für die hauswirtschaftliche Versorgung 45 Minuten pro Tag betrage. Den geschätzten Zeitbedarf an Pflege hat der Sachverständige wie folgt festgestellt: sieben Minuten morgens für Waschen bzw. Duschen, 3 Minuten beim abendlichen Waschen. Da der Kläger sich wechselweise wäscht oder duscht, entfalle ein extra Zeitaufwand hierfür. Da der Kläger regelmäßig dusche, entfalle auch das Baden. Bei der Zahnpflege hat Dr. Px. zweimal eine Minute für die Aufforderung und Beaufsichtigung gerechnet. Das gleiche gelte für das Kämmen, zweimal eine Minute pro Tag. Ferner könne der Pflegebedarf beim Rasieren - teilweise Beaufsichtigung bzw. teilweise die Übernahme der Rasur - mit fünf Minuten pro Tag geschätzt werden. Die Darm- und Blasenentleerung ist mit zweimal vier Minuten pro Tag und zwar für die Übernahme der Säuberung nach Darmentleerung angesetzt worden. Im Bereich der Ernährung, mundgerechten Zubereitung oder Aufnahme der Nahrung hat der Sachverständige ein bis zwei Minuten zweimal pro Tag geschätzt. Die Aufnahme der Nahrung sei ohne Hilfebedarf möglich. Das Gleiche gelte im Bereich der Mobilität. Der Kläger könne selbständig aufstehen und Zu-Bett-Gehen, hier seien lediglich 2 Minuten für ein zeitgerechtes Wecken und Überwachen des Aufstehens pro Tag anzusetzen. Für das An- und Auskleiden, das Zurechtlegen der Kleidung, das Überprüfen, ob der Kläger korrekt gekleidet ist, hat der Sachverständige nochmals sieben Minuten pro Tag in Ansatz gebracht. Beim Gehen, Stehen, Treppensteigen sei kein täglicher regelmäßiger Pflegebedarf zuzuerkennen. Für die hauswirtschaftlichen Verrichtungen wie Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln oder Waschen der Wäsche/Kleidung und Beheizen stehe beim Kläger ebenso Hilfebedarf. Der Sachverständige hat pauschal 45 Minuten pro Tag angenommen.

Der Senat hat sodann ein weiteres Amtsgutachten bei der Pflegefachkraft Frau A. eingeholt. Sie hat in ihrem Gutachten vom 14. Dezember 2000 den durchschnittlichen Tagesbedarf an Grundpflege mit 49 Minuten festgestellt, wobei die "Soll"-Pflege noch zusätzlich 9 Minuten in Anspruch nehmen würde. Für hauswirtschaftliche Verrichtungen kämen täglich 60 Minuten hinzu. Die Zeitangaben hinsichtlich des Grundpflegebedarfs setzen sich wie folgt zusammen: 11 Minuten für einmal täglich waschen oder duschen, zweimal 3 Minuten für Zahnpflege, einmal 5 Minuten für Rasieren, zweimal 1 Minute für Kämmen und zweimal 4 Minuten für Reinigung nach Stuhlgang; hinzu kommt: einmal Aufstehen - 2 Minuten, Kontrolle und Bereitlegen der Kleidung - und zwar mehrmals bei Bedarf - insgesamt 5 Minuten, An- und Auskleiden (Aufforderung) - mehrmals bei Bedarf - insgesamt 5 Minuten, dreimal täglich mundgerechtes Zubereiten der Nahrung - insgesamt 5 Minuten und dreimal täglich Nahrungsaufnahme ohne Minutenangabe - es sei aber eine Blickkontrolle erforderlich. Ein Pflegedefizit von 9 Minuten ergebe sich aus der unzureichenden Zahnpflege. Der Zahnzustand sei schlecht bis bedenklich und erforderlich seien eigentlich dreimal täglich 5 Minuten (15 Minuten). Die Reinigung der Zähne stelle einen komplexen Handlungsablauf von Einzelschritten dar, wobei der Kläger trotz mehrfacher Aufforderung viele Fehler mache, z. B. putze er nur kurz die Außenseite der oberen Schneidezähne und wolle dann bereits den Mund ausspülen. Aufgrund der geistigen Behinderung sei der Kläger nicht in der Lage, die notwendigen grundpflegerischen und hauswirtschaftlichen Maßnahmen selbständig durchzuführen. Mangelnde Geschicklichkeit mache eine Unterstützung bzw. Teilhilfe bei diffizilen Aktivitäten notwendig. Es fehle die Ausdauer, eine begonnene Aktivität mit ausreichender Intensität durchzuführen, so dass die Schwester wiederholt anleiten und ggf. Verrichtungen übernehmen müsse.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte Band I und Band II und die Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie statthaft (§§ 151 Abs. 1, 143, 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung der Beklagten ist sachlich unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht die Beklagte verurteilt, dem Kläger Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 1. April 1995 zu gewähren.

Nach § 37 Elftes Buch des Sozialgesetzbuches - Soziale Pflegeversicherung - (SGB XI) erhalten Pflegegeld Pflegebedürftige. Pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes sind nach § 14 SGB XI Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 15) der Hilfe bedürfen. Nach § 14 Abs. 4 SGB XI sind dabei gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im Sinne des Absatzes 1 der Vorschrift im Bereich der Körperpflege das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren, die Darm- oder Blasenentleerung (Nr. 1), im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung (Nr. 2) sowie im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung (Nr. 3). Neben diesen Bereichen der sogenannten Grundpflege gehören zu den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen (§ 14 Abs. 4 SGB XI). Die Hilfe zu diesen Verrichtungen besteht in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen (§ 14 Abs. 3 SGB XI). Für die Gewährung von Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz sind pflegebedürftige Personen im Sinne des § 14 SGB XI einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Dabei unterscheidet § 15 SGB XI Pflegebedürftige der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI) sowie Pflegebedürftige der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB XI) sowie Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige), die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB XI).

Durch das Erste Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (1. SGB XI-Änderungsgesetz) vom 14. Juni 1996 (BGBl. I S. 830) mit Wirkung ab dem 25. Juni 1996 sind nunmehr auch Zeitparameter für die Zuordnung zu den unterschiedlichen Stufen der Pflegebedürftigkeit aufgestellt worden. Nach § 15 Abs. 3 SGB XI neuer Fassung (n. F.) muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesschnitt (gemeint: täglich im Wochenschnitt) in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen (§ 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI), in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden mit einem Anteil der Grundpflege von mindestens zwei Stunden (§ 15 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI) und in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden mit einem Anteil der Grundpflege von mindestens vier Stunden (§ 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI). Dabei sind die Zeitvorgaben in § 15 Abs. 3 SGB XI n. F. den Pflegebedürftigkeits-Richtlinien vom 7. November 1994 (siehe dort Ziffer 4.1) entnommen worden. Auch für Versicherungsfälle, die vor Inkrafttreten der Neuregelung des § 15 Abs. 3 SGB XI eingetreten sind, ist eine Orientierung an dieser gesetzlichen Konkretisierung damit zutreffend, weil sie die Vorstellung des Gesetzgebers wiedergibt (vgl. Wilde, in Hauck/Wilde, Sozialgesetzbuch, SGB XI, Soziale Pflegeversicherung, Stand: 1. August 1997, § 15 Rdnr. 16; BT-Drucksache 12/5262 zu § 12 Abs. 4, S. 97; BSG, Urteile vom 19. Februar 1998 - B 3 P 6/97 R - und vom 6. August 1998 - B 3 P 9/97R -).

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in drei Urteilen vom 26. November 1998 (- B 3 P 2/98 R -, - B 3 P 13/97 R - und - B 3 P 12/97 R -) insbesondere zur Pflegestufe I bei frühkindlichen Hirnschädigungen (cerebrales Anfallsleiden, Morbus down und frühkindlichem Hirnschaden) Stellung genommen. Eine allgemeine Aufsicht, die darin bestehe, zu überwachen, ob die erforderliche Verrichtung des täglichen Lebens von einer geistig behinderten Person überhaupt ausgeführt werde und die lediglich dazu führe, dass gelegentlich zu bestimmten Handlungen aufgefordert werden müsse, reiche nicht aus, weil allein dadurch eine nennenswerte Beanspruchung der Pflegeperson nicht eintrete. Aber konkrete Anleitungen, Überwachungen und Erledigungskontrollen seien zu berücksichtigen, wenn sie die Pflegeperson in zeitlicher und örtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden, wie bei unmittelbarer körperlicher Hilfe, und daher dazu führen, dass die Pflegeperson durch die Hilfe an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert werde. Die allgemeine Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft der Pflegeperson und deren Aufforderungen an den Behinderten zur Durchführung bestimmter Verrichtungen, mögen sie auch im Laufe des Tages immer wieder notwendig und in ihrer Summe auch eine nervliche Belastung für die Pflegeperson sein, würden keine nach § 14 Abs. 3 SGB XI zu berücksichtigende Hilfeleistung darstellen, weil sie mit keiner derartigen Bindung der Pflegeperson einher gehen. Die im Gesetz gemeinte "Anleitung" und "Beaufsichtigung" gehe über das reine "Anhalten" zur Durchführung einer Verrichtung hinaus (vgl. BSG, Urteile vom 19. Februar 1998 - B 3 P 7/97 R - und vom 24. Juni 1998 - B 3 P 4/97 R - ebenso bereits Urteil vom 9. März 1994 - 3/1 RK 12/93 -). Das BSG hat ferner entschieden, dass bei der erforderlichen Anleitung und Beaufsichtigung i.S.d. § 14 Abs. 3 SGB XI, wozu auch die tatsächliche Kontrolle der ordnungsgemäßen Durchführung einer Verrichtung gehört, nur der jeweils erforderliche konkrete Zeitaufwand der Pflegeperson für die einzelne Anleitung und Beaufsichtigung anzurechnen ist, grundsätzlich aber nicht die Zeitspanne zwischen Hilfeleistung für verschiedene Verrichtungen und der Zeitaufwand für ständige Anwesenheit einer Pflegeperson (BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 - B 3 P 6/97 R - und - 7/97 R -).

Der Kläger erfüllt vorliegend die Voraussetzungen für eine Zuordnung der Pflegestufe I. Er bedarf im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XI im Bereich der Grundpflege für wenigstens zwei Verrichtungen mindestens 1 mal täglich der Hilfe. Der Zeitaufwand, den seine Schwester als Pflegeperson benötigt, beträgt dabei täglich insgesamt im Sinne von § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI 90 Minuten, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.

Die weiteren Ermittlungen bzw. medizinischen Feststellungen, die im Berufungsverfahren getroffen wurden, haben einen durchschnittlichen Tagesbedarf an Grundpflege von 47 Minuten ergeben. Hierzu kommen 60 Minuten für hauswirtschaftliche Verrichtungen. Damit liegen die Voraussetzungen der Pflegestufe I vor. Der Senat ist von dem Gutachten der Pflegefachkraft Frau A. überzeugt. Sie hat nach einer zweistündigen häuslichen Untersuchung des Klägers in ihrem Gutachten vom 14. Dezember 2000 überzeugend ausgeführt, dass für die Grundpflege pro Tag durchschnittlich 47 Minuten benötigt werden. Das Gutachten ist nachvollziehbar und steht insbesondere im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Die Sachverständige hat nur die konkreten Anleitungen bzw. Überwachungen oder Erledigungen durch die Schwester als Pflegekraft berechnet.

Nach diesem Gutachten steht für den Senat fest, dass der erforderliche Mindestaufwand für die Grundpflege bei dem Kläger über 45 Minuten und zwar 47 Minuten im Tagesdurchschnitt gegeben ist. Der Kläger benötigt auch regelmäßig Hilfe bei täglich mehr als zwei Verrichtungen aus dem Bereich der Grundpflege. Die Hilfe im Bereich der Körperpflege ist mit täglich 11 Minuten plausibel von der Sachverständigen Frau A. angegeben und im Rahmen des Zeitplans der Begutachtungs-Richtlinien - BRi - vom 21.03.1997 (Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach XI. Buch des Sozialgesetzbuches), die für Waschen des ganzen Körpers 20 bis 25 Minuten oder Duschen 15 bis 20 Minuten annehmen. Auch der Sachverständige Dr. Px. hat insgesamt bereits 10 Minuten für notwendig erachtet. Die Stellungnahme der Beratungsärztin der Beklagten Dr. Lx. vermag nicht zu überzeugen, denn die Sachverständige Frau A. hat eine durchschnittliche Zeitangabe gemacht, die mit dem Pflegetagebuch für den Kläger im Einklang steht, in dem die Hilfe von der Schwester dort mit 5, 10, 10, 12, 15, 12 und 20 Minuten pro Tag angegeben wird. Es gibt keine Gründe an diesen Angaben zu zweifeln. Denn infolge der Behinderung bedarf der Kläger der Hilfe beim Waschen und zwar beim Einstellen des Temperaturreglers, beim Waschen des Rückens und der Genitalien; ferner muss die Schwester Shampoo in die Hand des Klägers geben, sie hilft ihm beim Haarewaschen und muss Hilfestellung leisten beim Ein- und Aussteigen in die Dusche, da der Kläger wegen der Rutschgefahr sonst evtl. hinfallen würde. Ferner muss sie das Abtrocknen überwachen bzw. evtl. nachhelfen. Hinzu kommen zweimal täglich 3 Minuten für Zahnpflege, wie die Sachverständige Frau A. überzeugend für den Senat ausgeführt hat. Das Gutachten von Dr. Px., der 2 Minuten pro Tag für Aufforderung und Beaufsichtigung angegeben hat, kann bei der Sachlage den Senat nicht überzeugen, da Dr. Px. völlig unbeachtlich gelassen hat, dass die Reinigung der Zähne einen komplexen Handlungsablauf von mehreren Einzelschritten darstellt. Dies hat die Sachverständige Frau A. überzeugend ausgeführt. Für die weiteren von Frau A. für erforderlich gehaltenen 9 Minuten täglich für die "Soll-Pflege" der Zähne kommt es letztlich bei dieser Sachlage nicht an. Für Rasieren täglich 5 Minuten und für Kämmen täglich 2 Minuten haben die Sachverständige Frau A. und der Sachverständige Dr. Px. übereinstimmend und auch für den Senat überzeugend veranschlagt. Die Reinigung nach dem Stuhlgang ist mit 2 x täglich 4 Minuten (insgesamt im Tagesdurchschnitt 8 Minuten) ebenso überzeugend von beiden Sachverständigen angegeben worden, denn die Schwester muss die Intimpflege voll übernehmen. Hinsichtlich des mundgerechten Zubereitens der Nahrung sieht der Senat 3 Minuten als Hilfebedarf an und nicht, wie die Sachverständige Frau A., 5 Minuten. Denn die Verrichtung "Brote schmieren" gehört nicht zur Grundpflege, sondern zu den hauswirtschaftlichen Verrichtungen (vgl. BSG Urteil vom 17. Juni 1999 - B 3 P 10/98 R -). Aber das Zerkleinern der Mahlzeiten gehört zur Grundpflege. Hierzu hat die Sachverständige überzeugend ausgeführt, dass der Kläger nur leicht zu schneidendes Fleisch selbst schneiden kann, Knochen müssen für ihn herausgelöst werden. Auf Grund mangelnder Geschicklichkeit muss auch Schalenobst für ihn vorbereitet werden. Es fallen Hilfestellungen zwar nicht täglich, aber doch mehrmals wöchentlich an und zwar deshalb, weil die Schwester als Pflegekraft dem Kläger Zwischenmahlzeiten mitgibt, wenn er zur Behindertenwerkstatt täglich fährt. Damit liegt eine Regelmäßigkeit vor, die mit 3 Minuten tagesdurchschnittlich als angemessener Hilfebedarf angesehen werden kann.

Für das Aufstehen und Zu-Bett-Gehen sind 2 Minuten täglich, wie die Sachverständige Frau A. und der Sachverständige Dr. Px. übereinstimmend angegeben haben, zu veranschlagen. Denn der Kläger reagiert weder auf den Wecker noch kann er die Zeit einschätzen, so dass er mehrmals zum Aufstehen ermahnt werden muss. Eine dauernde Kontrolle ist während dieser Zeit notwendig. Letztlich sind auch die 10 Minuten für "An- und Auskleiden" sowie "Kontrolle und Bereitlegen" der Kleidung, wie die Sachverständige Frau A. angegeben hat, überzeugend. Dr. Px. hat hier nur 7 Minuten veranschlagt. Denn auf Grund seiner Behinderung ist der Kläger nicht in der Lage, sich die Kleidung selbst auszuwählen, d. h. sie muss bereit gelegt werden und das Anziehen muss überwacht werden. Ferner muss er zum An- und Auskleiden ständig aufgefordert werden und auf Grund mangelnder Ausdauer dann weiterhin kontrolliert werden, damit er sich nicht wieder anderen Dingen zuwendet. Die Strümpfe und Kragen z. B. müssen für ihn gerichtet werden. Ferner muss er zum Anziehen des Anoraks aufgefordert werden; hier ist ebenso eine Kontrolle evtl. eine Nachbesserung notwendig. Bei Verschmutzung muss er auch im Laufe des Tages ein weiteres Mal die Kleidung wechseln, die dann herausgelegt wird, wobei die Schwester dann das Ankleiden überwachen muss. Die Begutachtungs-Richtlinien sehen allein für "Ankleiden" 8 bis 10 Minuten und für "Entkleiden" nochmals 4 bis 6 Minuten vor. Damit sind bei einer Übernahme des An- und Auskleidens insgesamt 10 bis 16 Minuten angemessen und es trifft nicht zu, wie die Beratungsärztin der Beklagten Dr. Lx. ausgeführt hat, dass eine vollständige Übernahme mit 10 Minuten bemessen werden könnte.

Damit sind insgesamt täglich 47 Minuten an Grundpflege für den Kläger notwendig. Hinzu kommen für die hauswirtschaftliche Versorgung 60 Minuten, da der Kläger nur kleine unkomplizierte Verrichtungen und Handreichungen, wie z. B. Mülleimer tragen, erledigen kann.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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