L 4 VG 18/97

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 7 Vg 105/90
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 VG 18/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 25. September 1996 und der Bescheid des Beklagten vom 8. Dezember 1989 aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Vorfalles vom 5. Februar 1988 Beschädigtenrente nach einem von ihm noch festzustellenden Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu gewähren.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um Feststellungen und Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der 1964 in Somalia geborene Kläger, der inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, erlitt am Morgen des 5. Februar 1988 bei einer Wirtshausschlägerei in dem F. Lokal "S.-S." schwere Schädelverletzungen. Im letzten Bescheid nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) vom 20. März 1996 werden als Behinderungen ein cerebrales Anfallsleiden nach Schädel-Hirntrauma und eine geistige Erkrankung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt.

Am 17. Februar 1988 stellte der Kläger Antrag nach dem OEG.

In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 5. Mai 1989 gegen den Beschuldigten M. A. heißt es zu dem Vorfall: "Am frühen Morgen des 5. Februar 1988 betraten die Zeugen M., H. und S. A. zusammen mit zwei unbekannten äthiopischen Staatsangehörigen das Lokal "S.-S." und begaben sich dort zur Theke. In dem Lokal befand sich auch der Angeschuldigte. Nach einer Weile kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen diesen Zeugen und anderen Gästen des Lokales. Die beiden äthiopischen Staatsangehörigen verließen daraufhin das Lokal. Es kam sodann zu einer Schlägerei zwischen dem Angeschuldigten und dem unbekannten Marokkaner einerseits sowie den Zeugen H. und S. A. auf der anderen Seite. Die Zeugen A. begaben sich dann vor das Lokal, woraufhin der unbekannte Marokkaner und der Angeschuldigte, letzterer mit einem Barhocker bewaffnet, ihnen nachsetzte. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung fiel der Zeuge H. A. auf den Bürgersteig der dem Lokal gegenüberliegenden Straßenseite. Der Angeschuldigte schlug dann mindestens viermal mit dem Barhocker auf den Kopf des wehrlos am Boden liegenden H. A. ein. Der Geschädigte erlitt dadurch eine offene Schädel-Hirnverletzung, die seinen Tod hätte herbeiführen können."

Hinsichtlich der Vorgeschichte der Verletzung ergibt sich aus den aktenkundigen Aussagen des Klägers und der Zeugen das Folgende: Der Kläger führte bei seiner polizeilichen Vernehmung am 23. Februar 1988 aus, nachdem es zunächst zu verbalen Auseinandersetzungen rassistischen Inhaltes gekommen sei, habe er bemerkt, dass sich sein Bruder vor der Tür geschlagen habe. Er sei hinzugegangen und habe einen Marokkaner davon abgehalten einzugreifen. Sein Bruder sei dann wieder zurückgekommen und er habe zu ihm gesagt: "komm, wir gehen raus". Der Bruder habe dann zugestimmt. Er habe den Bruder am Arm genommen und habe ihn nach draußen gezogen. Draußen sei sein Bruder dann gestolpert, wie er später erfahren habe, weil er von hinten geschlagen worden sei. Sie seien beide hingefallen, dann sei mit einem Barhocker auf ihn eingeschlagen worden. Bei seiner Anhörung vor dem Sozialgericht hat der Kläger ausgeführt, während des Gesprächs im Lokal habe der spätere Täter einen Eritreer angepöbelt. Sein Bruder habe daraufhin Partei für den Eritreer ergriffen. Der Streit sei eskaliert. Sein Bruder sei dann mit einem Mann hinausgegangen, sie hätten sich gegenseitig an den Schultern gepackt, aber nicht geschlagen. Er habe den Eindruck gehabt, dass die Situation sich zuspitze und habe seinem Bruder gesagt, dass sie gehen sollten. Sie hätten dann zusammen das Lokal verlassen, wo es dann zur Tathandlung gekommen sei. Bei seiner Anhörung durch den Berichterstatter des Senats am 24. März 1998 hat der Kläger ausgeführt, nachdem es zur Eskalation im Lokal gekommen sei, sei er mit seinem Bruder und zwei Marokkanern nach draußen gegangen, sie hätten versucht, die Sache zu schlichten. Sein Bruder und ein Marokkaner hätten sich an den Kleidern gepackt, ohne sich allerdings zu schlagen. Nachdem sie in das Lokal zurückgekommen seien, habe immer noch eine aggressive Stimmung geherrscht und es seien rassistische Bemerkungen gefallen, so dass er es mit der Angst bekommen habe und seinem Bruder den Vorschlag gemacht habe, das Lokal zu verlassen. Dies sei dann geschehen und es sei vor der Tür zu der Tathandlung gekommen.

Der Bruder S. A. hat am 9. Februar 1988 bei seiner polizeilichen Vernehmung ausgesagt, es sei im Lokal Streit zwischen Afrikanern verschiedener Herkunft untereinander und Afrikanern und Deutschen entstanden. Es sei zu einer ersten körperlichen Auseinandersetzung gekommen. Wörtlich führt der Zeuge aus: "Der Mann fasste mich dann gleich an den Schultern und schüttelte mich. Ich sagte dann zu ihm, es sei ja schon gut, weil ich merkte, dass er auf Streit aus war. Ich bin dann gleich wieder zu meinem Platz zurück. Mein Bruder sagte mir gestern, dass der Marokkaner, der auf der Fensterbank gesessen hatte, also der A., vom Fenstersims heruntergekommen wäre, um sich da einzumischen. Ich selbst habe dies gar nicht bemerkt. Mein Bruder hat diesen A. dann wohl aufgehalten. Ich merkte dann, dass der andere Marokkaner, der den Äthiopier gepackt hatte, diesen immer noch fest hatte. Ich forderte ihn deshalb auf, "lassen Sie ihn los"! Der Marokkaner ließ dann den Äthiopier los und fasste mich dann gleich am Kragen, also vorne, dann zog er mich durch die geöffnete Lokaltüre nach draußen. Dann schlug er mich mit der Faust ins Gesicht. Ich verspürte einen Schmerz unterhalb meines linken Auges. Außerdem merkte ich, dass dies etwas dicker wurde. Ich habe dann aus Reflex ihm einen in den Magen gehauen. Er fasste sich dann auch an den Magen, hatte mich aber nochmals geschlagen. Außerdem habe ich ihm noch eine geboxt, weshalb der Marokkaner dann hingefallen ist. Er ist auch gleich wieder aufgestanden. Ich bin dann gleich wieder in das Lokal, um zu sehen, was mit meinem Bruder ist. Als ich wieder rein kam, bemerkte ich, dass der andere Marokkaner, der A., neben meinem Bruder war. Sie schlugen sich nicht. Mein Bruder sagte dann richtig in Panik: "Komm lass uns gehen!" Er hat mich auch gezogen. Als mein Bruder dies zu mir sagte und mich zog, kam der andere Marokkaner, mit dem ich geboxt hatte, wieder rein. Als ich mit meinem Bruder raus bin, merkte ich gleich, dass wir von den anderen verfolgt wurden." In seiner Zeugenvernehmung vor dem Sozialgericht Wiesbaden am 4. Dezember 1995 hat der Zeuge die erste Auseinandersetzung vor der Tür anders dargestellt: "Plötzlich kam ein weiterer Nordafrikaner auf mich zu und forderte mich auf, vor die Tür zu kommen, er wolle etwas mit mir bereden. Dort hat er mir gesagt, ich solle mich da raus halten, der Streit ginge nur die beiden Beteiligten etwas an. Der Mann war zu diesem Zeitpunkt nicht aggressiv ... Ich bin dann wieder zurück in das Lokal gegangen und habe mich wieder an die Theke gesetzt. Der Mann, der angegriffen worden war, saß zu diesem Zeitpunkt nicht mehr dort. Mein Bruder sagte dann, es sei besser, jetzt zu gehen, was wir dann auch taten." Auf Vorhalt räumte der Zeuge ein, es könne zwar zunächst eine Schubserei gegeben haben, eine Schlägerei jedoch nicht. Auch bei seiner Vernehmung durch den Berichterstatter des Senats am 24. März 1998 hat der Zeuge bestritten, dass es zu einer Schlägerei gekommen sei, als er das erste Mal das Lokal verlassen habe. Sein Bruder sei auch zu diesem Zeitpunkt, entgegen dessen Aussage, nicht mit nach draußen gekommen. Als er wieder in das Lokal zurückgekommen sei, sei die Stimmung zunehmend aggressiv geworden und es sei zu rassistischen Bemerkungen gekommen. Daran sei auch ein Mann neben ihm beteiligt gewesen, mit dem er eine Auseinandersetzung habe beginnen wollen. Sein Bruder habe ihn aber weggezogen und gesagt, es sei besser, wenn sie gingen. Draußen seien sie dann überfallen worden.

Der beschuldigte A. sagte bei seiner polizeilichen Vernehmung am 5. Februar 1988 aus, es sei zwischen dem Kläger und seinem Bruder auf der einen Seite und ihm, einem Tunesier namens T. und einem Deutschen auf der anderen Seite zu einer Schlägerei gekommen. Dieser habe zunächst im Lokal stattgefunden "die zwei Neger haben dann auf den T. eingeschlagen. Dabei konnte ich sehen, dass der T. aus der Nase geblutet hat. Der T. war dann bereits draußen auf der Straße vor dem S.-S. gewesen. Der T. hat dann geweint. Der eine Neger hat mich dann angegriffen. Er hat mich dabei an meiner Lederjacke festgehalten." Es habe sich dann eine im Einzelnen geschilderte Schlägerei entwickelt, die sich nach draußen verlagert habe.

Der Zeuge M. sagte bei seiner polizeilichen Vernehmung am 10. Februar 1988 aus, er sei mit dem Kläger und dessen Bruder, die er kurz zuvor zufällig kennengelernt habe, in das Lokal S.-S. gegangen. Es hätten dort zwei Auseinandersetzungen so im Abstand von ca. 5 Minuten stattgefunden. Es sei zunächst zwischen einem - wie er meine - Türken, dem Kläger und dessen Bruder im Anschluss an einen verbalen Streit zu einer Schubserei und Rangelei gekommen. Der Türke sei dann mit den beiden, also dem S. und seinem Bruder raus aus dem Lokal. Danach hätten sie sich draußen gebalgt, wobei der Türke ein bis zwei Schläge abbekommen habe. Er meine, dass der S. ihm diese Schläge versetzt habe. Zuvor habe der Türke sich an dem Bruder des S. vergriffen. Er meine damit, dass er diesen festgehalten und auch geschubst habe. Nachdem der S. dem Türken die Schläge verpasst habe, habe dieser leicht aus der Nase geblutet. Danach sei eine sehr laute Stimmung im Lokal gewesen, von hinten seien auch irgend welche Bemerkungen gefallen, es sei ein regelrechter Tumult gewesen. Aus diesem Grund habe er dann bezahlt, weil er raus gewollt habe. Er meinte, der S. und sein Bruder hätten auch bezahlt. Wörtlich hat er weiter ausgeführt: "Ich habe dann zu dem S. gesagt, dass es mir hier nicht gefallen würde, wir sollten lieber raus gehen und wo anders hingehen ... Aus dem Bereich, der vom Eingang hergesehen gerade ausgelegen ist, standen mehrere Personen, ich meine, es seien auch Türken dabei gewesen. Von dort her kamen dann so provozierende Bemerkungen. Auf diese Bemerkungen haben die beiden, also der S. und sein Bruder, reagiert, anstatt rauszugehen. Plötzlich kam es dann zu einer regelrechten Prügelei, wobei die Hocker umfielen. Auch Personen sind auf den Boden gefallen. Die Frau hinter der Theke, eine von den zweien, hat dann gesagt, dass sie die Polizei rufe. Gleich darauf hat sich ein ganzer Pulk zur Tür hinaus gedrängt. Dann kamen meine Erinnerungen nach drei Türken wieder rein, die sich Barhocker geschnappt haben. Die sind dann gleich wieder raus mit den Barhockern". Er sei dann etwa 30 Sekunden später herausgegangen und habe die Tathandlung beobachtet. Auf Anfrage des Senats hat der Zeuge M. mit Schreiben vom 28. Mai 1999 erklärt: "Soweit ich mich zum Sachverhalt erinnern kann, haben irgendwelche Araber bzw. Südländer auf eine andere Person mit einem Barhocker auf den Kopf geschlagen, nach einer kurzen verbalen Streitigkeit. Das Opfer hat keinerlei Gewalt vorher angewandt. Dies geschah in einer Gaststätte in der Nähe des F. Bahnhofs. Diese verließen dann umgehend das Lokal. Wer der Täter war, kann ich auf jeden Fall nicht mehr nach dieser langen Zeit sagen, auch das Opfer würde ich jetzt nicht mehr erkennen. Im Einzelnen kann ich mich nicht mehr an die Vorgänge erinnern. Daher halten sie sich bitte an die damals von mir gemachte Zeugenaussage bei der Polizei, denn heutzutage weiß ich kaum noch etwas über die damaligen Vorgänge und Details. Mehr könnte ich ihnen nicht persönlich aussagen." Die Beteiligten haben daraufhin auf eine persönliche Vernehmung des Zeugen verzichtet.

Der Gaststättenbetreiber Mx. hat am 5. Februar 1988 gegenüber der Polizei geäußert, es sei zwischen vier Schwarzen und anderen Gästen zu verbalen Auseinandersetzungen gekommen und es habe ziemlich schnell ein Gerangel begonnen. Nach einer rassistischen Äußerung habe ein Schwarzer einen gerade hereingekommen Gast angefasst und auf die Straße gedrückt. Nach ca. ein bis zwei Minuten sei der Schwarze wieder reingekommen und habe ein Bier bestellt, das ihm verweigert worden sei. Nach einem Disput habe dann ziemlich schnell ein Gerangel begonnen. Zwei der vier Schwarzen seien sofort abgehauen. Die beiden anderen Farbigen hätten sich dann mit den zuvor in das Lokal gekommenen Deutschen rumgeschubst. Es sei dann zu einer Schlägerei gekommen, wobei er den Eindruck gehabt habe, dass sich auf einmal alles gegen die zwei Farbigen gerichtet habe. Die Schubserei/Schlägerei habe sich ziemlich schnell nach draußen verlagert. Bei seiner Vernehmung vor dem Sozialgericht am 5. September 1994 hat der Zeuge erklärt, er könne sich noch ein bisschen an den Vorgang erinnern. Nach verbalen Auseinandersetzungen habe er das Gefühl gehabt, dass es zum Streit kommen würde. Dies sei dann auch so gewesen, es sei zu einer Rangelei zwischen den drei Afrikanern und anderen Gästen aus dem Lokal gekommen. Da sich dieses im Bereich der Eingangstür abgespielt habe, sei die Gruppe sehr schnell auf der Straße gewesen.

Die Kellnerin St. hat bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 5. Februar 1988 ausgesagt, einige hell- und dunkelhäutige Männer hätten in der Nähe der Tür einen verbalen Streit begonnen. Der ihr bekannte M. A. habe versucht, die Leute zu beruhigen. Es habe eine Rangelei begonnen, aber geschlagen habe bis dahin im Lokal noch keiner der Männer. Plötzlich seien alle Personen raus auf die Straße gegangen.

Die Kellnerin Sch. sagte bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 5. Februar 1988 aus, vier Gäste seien ziemlich betrunken gewesen und hätten sich laut in einer fremden Sprache unterhalten. Sie habe ihnen nichts mehr zu trinken gegeben. Sie seien nach einem Wortwechsel mit ihr in Richtung Eingangstür gegangen. Dort hätten sie untereinander Streit bekommen. Der M. A. habe sich dann eingemischt. Er habe geholfen, die Personen aus dem Lokal zu bringen. Dann seien die Leute plötzlich draußen gewesen, einer sei zurückgekommen und habe einen Barhocker geholt. Bei ihrer Vernehmung vor dem Sozialgericht am 5. September 1994 hat die Zeugin erklärt, dass sie sich an die Vorgänge nicht mehr erinnern könne. In dem Lokal S.-S. sei es sehr häufig zu Schlägereien gekommen.

Der Zeuge Hy. hat bei seiner polizeilichen Vernehmung am 6. Februar 1988 ausgesagt, die Bedienung habe einen Ausländer sehr lautstark aufgefordert, das Lokal zu verlassen. Es sei dann zu einem Disput und anschließend zu einer Rangelei gekommen, an der plötzlich vier bis sechs Personen beteiligt gewesen seien. Nachdem der Inhaber des Lokales sich eingeschaltet habe, habe sich die ganze Sache recht schnell nach draußen verlagert.

Nach Auswertung der Akte der Staatsanwaltschaft lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 8. Dezember 1989 den Antrag des Klägers ab. Ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff sei nicht nachgewiesen, da auf Grund sich widersprechender Zeugenaussagen nicht ermittelbar sei, wer mit den jeweiligen Tätlichkeiten begonnen habe. Der Kläger sei mitursächlich für die tätlichen Auseinandersetzungen geworden, so dass aus diesem Grund ein Anspruch nach § 2 Abs. 1 OEG zu versagen sei.

Dagegen hat der Kläger am 30. Januar 1990 Klage vor dem Sozialgericht in Wiesbaden erhoben. Mit Urteil vom 25. September 1996 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe in alkoholisiertem und damit enthemmten Zustand leichtfertig an einer Schlägerei mitgemischt. Sein Verhalten, nicht das Lokal sofort zu verlassen, als die Schubserei begonnen habe, sei leichtfertig gewesen. Er habe es in grob fahrlässiger Weise unterlassen, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwenden. Gemäß § 2 Abs. 1 OEG seien ihm deshalb Leistungen zu versagen.

Gegen das ihm am 24. Dezember 1996 zugestellte Urteil hat der Kläger am 7. Januar 1997 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Er ist der Ansicht, Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 OEG lägen nicht vor. Er habe sich nicht rechtsfeindlich benommen und habe an den Auseinandersetzungen nicht mitgewirkt. Er habe auch kein Verhalten gezeigt, das im Verhältnis zur Schwere des Angriffs gestanden habe. Er habe im Gegenteil eine Schlägerei gerade vermeiden wollen anstatt sich auf sie einzulassen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 25. September 1996 und den Bescheid des Beklagten vom 8. Dezember 1989 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihm wegen des Vorfalles vom 5. Februar 1988 Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einem von dem Beklagten festzustellenden Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu gewähren.

Der Beklagte, der das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend hält, beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Wegen Einzelheiten der Beweiserhebung in beiden Rechtszügen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den übrigen Akteninhalt, insbesondere den Inhalt der beigezogenen Akten des Beklagten und der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankfurt am Main (XXXXX), die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig (§§ 143, 151 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) und im Wesentlichen begründet. Der Kläger hat Anspruch dem Grunde nach auf Opferentschädigung. Nach § 1 OEG erhält auf Antrag Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffes gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Diese Voraussetzungen liegen vor, wie das Sozialgericht schon zutreffend festgestellt hat. Nicht zu folgen ist jedoch dessen Ansicht, dass der Anspruch zu versagen sei, da es aus in dem eigenen Verhalten des Klägers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.

Der Kläger hätte dann seine Schädigung im Sinne von § 2 Abs. 1 1. Alt. OEG wesentlich (mit-) verursacht, wenn sein Tatbeitrag eine annähernd gleichwertige Bedingung neben der des rechtswidrig handelnden Angreifers gewesen wäre. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn sich das Opfer bei seinem Ursachenbeitrag in ähnlich schwerer Weise gegen die Rechtsordnung vergangen hat wie der vorsätzlich handelnde Gewalttäter, zum Beispiel eine Straftat begangen hat, die ähnlich schwer wie die des Klägers mit Strafe bedroht ist (Urteil des BSG vom 20. Oktober 1999 - B 9 VG 2/98 R m.w.N.). Bei der Frage, ob und inwieweit der Geschädigte ursächlich gehandelt hat, sind alle Umstände heranzuziehen, die objektiv tatfördernd gewirkt haben oder subjektiv tatfördernd gewirkt haben können. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Geschädigte den Angriff schuldhaft herausgefordert hat oder wenn er das Opfer einer Schlägerei geworden ist, in die er nicht ohne eigenes Verschulden hineingezogen worden ist. Eine Verursachung des Angriffs liegt jedoch nur dann vor, wenn der Beitrag des Geschädigten eine mehr als lediglich untergeordnete Bedeutung hat (Urteil des BSG vom 6. Dezember 1989 - 9 RVg 2/89). Der Tatbeitrag eines Opfers kann jedoch auch dann wesentlich mitursächlich sein, wenn sich das Opfer in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d. h. grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch die schuldhafte Herausforderung des Angriffs. Bei der Beurteilung dieser Frage ist ein subjektiver Maßstab anzulegen und dabei zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten sowie den Umständen des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte, und ob das Opfer mit einer Gewalttat rechnen musste.

Nach der Rechtsprechung hat ein Opfer seine Schädigung dann mitverursacht, wenn es sich, ohne sozial nützlich oder sogar von deren Rechtsordnung erwünscht zu handeln, bewusst oder leichtfertig der Gefahr einer Schädigung ausgesetzt hat. Leichtfertiges Handeln ist durch einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit gekennzeichnet, der etwa der groben Fahrlässigkeit des bürgerlichen Rechts entspricht. Im Gegensatz zu Letzterem gilt aber nicht der auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtete objektive Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch, sondern ein individueller, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (Urteile des BSG vom 9. Dezember 1998 - B 9 VG 8/97 R und vom 20. Oktober 1999 B 9 VG 2/98 R; ebenso Urteil des BSG vom 21. Oktober 1998 - B 9 VG 6/97 R; Urteil vom 1. September 1999 - B 9 VG 3/97 R).

Die Selbstgefährdung ist nur dann unbeachtlich, wenn das Opfer sie in der Absicht auf sich genommen hat, einen rechtlich gebilligten Zweck zu verfolgen (z. B. gütliche Vermittlung zwischen Streitenden) oder aus Notwehrverhalten (Urteil des BSG vom 18. Juni 1996 - 9 RVg 7/94).

Eine aktive körperliche Beteiligung des Klägers an der Schlägerei ist nicht nachgewiesen. Nach seinen eigenen, später wiederholten Erstangaben, hat er den Beginn der Auseinandersetzung nicht wahr genommen. Als er bemerkt hatte, dass sein Bruder in eine körperliche Auseinandersetzung verwickelt war, hat er nicht eingegriffen, sondern nur verbal verhindert, dass sich ein Anderer beteiligte. Sobald sein Bruder von dieser ersten Auseinandersetzung zurückgekehrt war, hat der Kläger darauf hingewirkt, das Lokal zu verlassen. Die Angaben des Bruders entsprechen im Wesentlichen der Darstellung des Klägers. Insbesondere auch bei seinen Erstangaben stellt der Bruder sich selbst als ein aktiv Beteiligter dar, der zunächst vor der Tür des Lokals in eine Schlägerei verwickelt war. Er führt schon zu einem Zeitpunkt, als noch kein Verwaltungsverfahren nach dem Opferentschädigungsgesetz anhängig war, aus, dass der Kläger nach dem vorläufigen Ende der ersten Schlägerei darauf gedrungen habe, das Lokal zu verlassen. Für die Glaubwürdigkeit seiner Erstangabe spricht nicht nur die Zeitnähe, sondern auch die offenherzige Darstellung seines Tatbeitrages zum Gesamtgeschehen, das er später allerdings in den gerichtlichen Aussagen herunterspielt. Der Widerspruch zwischen der Erinnerung des Bruders, er sei allein vor die Tür gegangen und des Klägers, er habe den Bruder begleitet, hat für die rechtliche Bewertung keine Auswirkungen, denn sowohl nach der einen als auch nach der anderen Darstellung hat der Kläger an der körperlichen Auseinandersetzung nicht teilgenommen, sondern nur verbal verhindert, dass sich ein Dritter in die Auseinandersetzung einschaltete. Die Angaben des Zeugen Mx. bestätigen eher die Erinnerung des Bruders, denn er hat ausgesagt, nur einer der Afrikaner sei nach draußen gegangen. Die polizeiliche Aussage des Zeugen M. hingegen bestätigt die Erinnerung des Klägers. Allerdings hat dieser Zeuge dann weiter ausgesagt, dass der Kläger draußen auch körperlich bedrängt worden sei. Selbst geschlagen habe allerdings nur der Bruder. Auch den weiteren Verlauf stellt er in anderer Weise dar. Der Vorschlag, das Lokal zu verlassen, sei von ihm ausgegangen. Die beiden Brüder hätten jedoch auf provozierende Bemerkungen reagiert, anstatt rauszugehen, so dass es plötzlich zu einer regelrechten Prügelei gekommen sei. Auch aus dieser Darstellung lässt sich jedoch nicht mit Sicherheit entnehmen, dass der Kläger zur Entstehung der dann folgenden Auseinandersetzungen beigetragen hat. Der Zeuge M. spricht zwar pauschal von beiden Brüdern, die auf provozierende Bemerkungen reagiert hätten, der Bruder S. hat bei seiner Aussage vor dem Landessozialgericht jedoch ausgeführt, dass nur er den Streit habe fortsetzen wollen, der Kläger ihn aber weggezogen und gesagt habe, es sei besser, wenn sie gingen. Der Senat hält dies für glaubhaft, denn es entspricht den übrigen Ausführungen des Bruders und der anderen Zeugen, nach denen nur der Zeuge am Streit aktiv Beteiligter war. Der Senat erachtet es für durchaus denkbar, dass unabhängig voneinander sowohl der Zeuge M. als auch der Kläger den Vorschlag machten, das Lokal zu verlassen und dass die fortdauernde Streitfreudigkeit des Bruders auf den Zeugen M. so wirkte, als hätte auch der Kläger das Lokal nicht verlassen wollen. Die Beobachtungen der übrigen Zeugen sind vage und ungenau, sie vermögen die Tathergänge nicht weiter aufzuklären. Die Aussagen des beschuldigten A., gegen den das Strafverfahren nach § 154 Abs. 2 StPO vorläufig eingestellt worden ist, stimmen mit allen anderen Zeugenaussagen nicht überein. Sie können keinen Beweis dafür liefern, dass der Kläger aktiv an der Schlägerei beteiligt war.

Die objektive Beweislast für das Vorliegen der Versagungsgründe des § 2 Abs. 1 OEG liegt bei dem Beklagten, es sei denn, dass alle Umstände des Falles lediglich auf eine Selbstgefährdung hindeuten (BSG, Urteil vom 25. März 1999 - B 9 VG 5/97 R). Diese Ausnahme liegt jedoch nicht vor. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger gemäß der glaubhaften eigenen Angaben und der Zeugenaussage seines Bruders versucht hat, den Gefahrenbereich zu verlassen. Es wäre sicherlich klüger, aber rechtlich nicht geboten gewesen, wenn er das Lokal schon bei den ersten Anzeichen für das Aufkommen eines Streites verlassen hätte, so wie dies das Sozialgericht gefordert hat. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt aus Sicht des Klägers weder damit zu rechnen, dass es überhaupt zu ernsthaften körperlichen Auseinandersetzungen kommen würde, noch gar mit solch schwerwiegenden, wie diese schließlich dann eintraten. Allein verbale Auseinandersetzungen in einem Lokal müssen noch nicht zu körperlichen Auseinandersetzungen führen. Die Selbstgefährdung bei einer Wirtshausschlägerei beginnt erst dann, wenn es zu ersten Handgreiflichkeiten kommt und ein Übergreifen auf die anderen Gäste zu befürchten ist oder wenn sich eine solche Entwicklung mit Wahrscheinlichkeit abzeichnet. Dies war im vorliegenden Fall der Zeitpunkt, zu dem sich der Bruder des Klägers vor der Tür mit einem Dritten schlug. Der Kläger hat unmittelbar danach, als der Streit zunächst abgeflaut war - somit im rechtlichen Sinne noch rechtzeitig - versucht, das Lokal zu verlassen. Nicht zuzumuten war ihm, sofort wegzulaufen, ohne auf den Bruder zu warten. Den Bruder bei einem Streit nicht allein zu lassen, ist insbesondere dann rechtlich nicht zu missbilligen, wenn man nicht eingreift oder die Auseinandersetzung auf andere Weise fördert. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass alle Umstände des Falles auf eine Selbstgefährdung hindeuten, vielmehr ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass der Kläger sich durch sein Verhalten gerade der Gefährdung entziehen wollte. Fehlende Beweise dafür, dass der Kläger den Streit verursacht oder unterhalten hat, gehen somit also zu Lasten des Beklagten. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der körperlichen Beteiligung, sondern auch der verbalen. Es gibt aber keine Beweise dafür, dass der Kläger die Situation durch Beleidigungen oder andere Bemerkungen verschärft hätte. Es ist ihm nicht zu widerlegen, dass er im Gegenteil versucht habe, die Beteiligung Dritter zu verhindern und sich und seinen Bruder aus dem Gefahrenbereich zu entfernen.

Bei dem Kläger liegen schwere gesundheitliche Schäden vor, die der Beklagte im Rahmen eines Verfahrens nach dem Schwerbehindertengesetz mit einem GdB von 70 bewertet hat, so dass jedenfalls von einer MdE in rentenberechtigender Höhe ausgegangen werden kann. Der Senat konnte sich daher, da feststeht, dass Mindestleistungen zu gewähren sind, auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Satz 1 SGG; vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl., Anm. 2a zu § 130 SGG m.w.N.) beschränken. Da eine medizinische Begutachtung durch den Beklagten unter dem Gesichtspunkt des Opferentschädigungsgesetzes noch nicht stattgefunden hat, ergeht die Entscheidung nur dem Grunde nach, die Höhe der MdE ist durch den Beklagten noch endgültig festzustellen.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved