L 8 KR 42/11 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 6 KR 157/10 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 42/11 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 11. Februar 2011 aufgehoben. Der Antrag des Antragstellers und Beschwerdegegners auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Das Verfahren betrifft einen Antrag des Antragstellers, "die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Kosten für drei intravitreale Injektionen mit Avastin in Höhe von insgesamt 1.051,89 EUR zur Behandlung seiner "ovealen Teleangiektasien am linken Auge" zu gewähren."

Das Sozialgericht Marburg hat dem gestellten Antrag mit Beschluss vom 11. Februar 2011 antragsgemäß stattgegeben und einen Anordnungsanspruch sowie einen Anordnungsgrund bejaht. Ein Anordnungsgrund ergebe sich aus der besonderen Eilbedürftigkeit. Die am linken Auge bestehende Erkrankung beschreibe der gerichtliche Sachverständige Dr. VN. als atypische Gefäßerweiterung. Bei diesem Krankheitsbild bestehe die Gefahr des Wachstums einer unter der Netzhaut gelegenen Gefäßmembran, die zu einem irreversiblen Sehverlust bis hin zur Erblindung führen könne. Auch der behandelnde Augenarzt Dr. IN. habe in seinem Befundbericht erklärt, dass die Möglichkeit einer irreversiblen Sehverschlechterung bestehe. Man könne nicht vorhersagen, ob die Erkrankung zu einem schnellen oder schleichenden Visusverlust führe. Dem Antragsteller sei es nicht zuzumuten, den Ausgang eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Der Antragsteller habe auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zu Recht gingen die Beteiligten davon aus, dass es sich um eine schwerwiegende Erkrankung handele. Es bestehe auch keine alternative Therapieoption. Die von der Krankenkasse vorgeschlagene Laserkoagulation der Gefäßveränderungen sei im vorliegenden Fall nicht indiziert. Das Gericht stütze sich hierbei auf die unmissverständlichen Äußerungen des Sachverständigen Dr. VN. Es sei in keiner Weise nachvollziehbar, wie die von der Antragsgegnerin mit einer Stellungnahme zu dem Gerichtsgutachten beauftragte Augenärztin des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung in Hessen (MDK) weiterhin eine Laserkoagulation als alternative Therapie vorschlagen könne, ohne sich mit den überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen medizinisch auseinanderzusetzen. Schließlich sei aus Sicht des Gerichts auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass mit der begehrten intravitralen Injektion von Avastin ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Insoweit habe der Sachverständige überzeugend und nachvollziehbar ausgeführt, dass es für das Krankheitsbild des Antragstellers keine evidenzbasierte Standardtherapie gebe. Die einzige Behandlungsmethode, die in der Medizinwissenschaft hinreichend beschrieben werde, sei die begehrte Behandlung mit Avastin. Obgleich der Hersteller von Avastin keine Neigung zeige, ein entsprechendes Zulassungsverfahren in die Wege zu leiten, gebe es in der weltweiten medizinischen Datenbank Medline bereits über 1.000 Einträge, die sich mit dem Einsatz von Avastin am Auge befassten. Die einschlägigen Literaturstellen zeigten, dass Avastin auch in der bei dem Antragsteller gegebenen Konstellation wirksam sei. Die Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit der intravitrealen Anwendung von Avastin sei bereits vor Jahren belegt worden und werde immer wieder durch neue Studien unterstützt. Aufgrund der bisherigen Datenlage bestehe die begründete Aussicht, dass mit der Injektionstherapie ein Behandlungserfolg erzielt werden könne. Die Einschätzung des gerichtlichen Sachverständigen decke sich auch mit der Therapieempfehlung der behandelnden Ärzte in der Klinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums ZQ. und ZS. sowie mit den sonstigen Recherchen des Gerichts. So hätten sich auch aus der groß angelegten (noch nicht abgeschlossenen) VIBERA-Studie des Instituts für Pharmakologie RN. bislang keine Anhaltspunkte für eine fehlende Wirksamkeit oder ein höheres Risikopotenzial von Avastin ergeben. Nach mehreren 100 erfolgten Injektionen sei kein unerwünschtes Ereignis beobachtet worden, das zu einer Neubewertung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses habe führen müssen. Es sei auch kein vorzeitiger Studienabbruch eines Patienten auf Grund eines mangelhaften Behandlungsergebnisses erfolgt. Die Initiatoren berichteten zum Hintergrund, dass der Wirkstoff von Avastin im Bereich der Altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) weltweit bereits bei 10.000 Patienten eingesetzt worden sei. Dieser medizinwissenschaftliche Befund schlage sich auch in der bisherigen Rechtsprechung nieder (Hinweis auf Sozialgericht Düsseldorf, Urteil vom 2. Juli 2008 – S 2 KA 181/07, in juris.de; auf Sozialgericht Köln, Beschluss vom 2. Juli 2009 – S 26 KN 24/09 KR ER, in juris.de sowie auch auf die abweichende Entscheidung des Sozialgerichts Aachen vom 18. November 2010 – S 2 KR 68/10, in juris.de).

Gegen diesen der Antragsgegnerin am 11. Februar 2011 zugestellten Beschluss hat diese am 16. Februar 2011 Beschwerde eingelegt. Arzneimittel seien mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn ihnen die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehle. Dies sei bei Avastin der Fall. Dieses Arzneitmittel sei lediglich zugelassen zur Behandlung von Patienten mit metastasierenden Kolon-, Rektum-, Mamma- oder Bronchialkarzinomen. Es bestehe keine Zulassung für eine Applikation in Form einer Einspritzung in den Glaskörper eines Auges sowie für die Behandlung von Makulaerkrankungen. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung komme nur unter den Bedingungen eines sogenannten "Off-Label-Use" in Betracht. Ob eine Laserkoagulation, wie vorgeschlagen, als zumutbare Behandlung in Betracht komme, sei bisher immer noch nicht geklärt. Die von dem Sozialgericht zitierten Studien genügten den strengen Anforderungen zum "Off-Label-Use" nicht.

Die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 11. Februar 2011 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Er verteidigt den angefochtenen Beschluss des Sozialgerichts und macht geltend, dass aus gutachterlicher Sicht bei ihm eine schwerwiegende Erkrankung vorliege, die bei Nichtbehandlung nicht nur zur Erblindung des derzeit betroffenen, sondern auch des anderen Auges führen könne. Die von der Universitätsaugenklinik ZS. vorgeschlagene intravitreale Injektion werde im Grunde als erste Wahl angesehen, da auch die medikamentösen Alternativen "Off-Label" wären. Es bestehe auch die Aussicht, dass mit der vorgeschlagenen Therapie ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden könne.

Zu den weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Verwaltungsverfahrensakte der Antragsgegnerin, die Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.

II.

Die gegen den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 11. Februar 2011 eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin ist zulässig, denn sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie an sich statthaft (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Beschwerde ist auch begründet. Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts konnte nicht bestätigt werden. Der Antragsteller hat keinen Anspruch, die Antragsgegnerin und Beschwerdeführerin als Krankenkasse im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für drei intravitreale Injektionen mit Avastin in Höhe von insgesamt 1.051,89 EUR vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu übernehmen.

Nach § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers (Anordnungsanspruch) vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Anordnungsgrund; Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Von dem Antragsteller ist weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden (§ 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

Nach § 12 Abs. 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) müssen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen. Arzneimittel sind hiernach mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§§ 2 Abs. 1 Satz 1, 12 Abs. 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung nach §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3, 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn die nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung dafür fehlt, sie für die vorgesehene Anwendung in den Verkehr zu bringen (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 26. Sept. 2006 – B 1 KR 1/06 R, BSGE 97, 112). Ohne arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt es an der Feststellung ihrer Wirksamkeit und Unbedenklichkeit. Dies gilt ungeachtet der arzneimittelrechtlichen Zulässigkeit der Off-Label-Anwendung im Rahmen der ärztlichen Therapiefreiheit. Ein Arzneimittel kann auch dann, wenn es zum Verkehr zugelassen ist, zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht in einem Anwendungsbereich verordnet werden, auf den sich die Zulassung nicht erstreckt.

Von einem zulässigen "Off-label-use" ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (Bundessozialgericht, Urteil vom 19.03.2002, B 1 KR 37/00 R = BSGE 89, 184 - restless legs).

Hiervon kann derzeit noch nicht ausgegangen werden. Das Arzneimittel Avastin (Bevacizumab) ist ein künstlich hergestellter sogenannter monoklonaler Antikörper, der den "vasculator endothelial growth factor" (VEGF) hemmt. Es handelt sich um eine Substanz, die sich an bestimmte Zellen bindet und damit die Neubildung von Blutgefäßen anregt. Wenn Avastin an VEGF "andockt", kann dieses VEGF die Neubildung und das Wachstum von Blutgefässen nicht mehr stimulieren womit Schädigungsprozess gehemmt werden sollen (sogenannte Angiogenese; vgl. www.online-praxis.com). Für die intraokulare die Anwendung dieses Mittels, das als nicht zugelassenes Medikament damit eine "Off-Label-Behandlung" darstellt, liegen nach den zur Verfügung stehenden Daten (vgl. u.a. "Moderne Behandlung der "feuchten" Makuladegeneration", VersMed 2009, S. 185) zwar über 10.000 dokumentierte Beobachtungen an Patienten vor, aber Studien, die den im Arzneimittelgesetz (AMG) vorgeschriebenen Zulassungsstudien (Phase-III-Studien) entsprechen, fehlen. Die Wirksamkeit des Mittels Avastin für die bei dem Antragsteller durchzuführende Behandlung seiner Augenerkrankung ist bisher in keiner Studie belegt worden, abgesehen davon, dass die Herstellerfirma nicht einmal ein Antragsverfahren auf arzneimittelrechtliche Zulassung gestellt hat, weil Avastin (zunächst nur) für die Behandlung von Krebserkrankungen des Dick- und Enddarms verabreicht worden ist (vgl. VersMed 2009, S. 185).

Ein Anspruch ergibt sich auch nicht aus einer grundrechtsorientierten Auslegung des Antragsbegehrens in Anlehnung an den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 - 1 BvR 347/98 - (BVerfGE 115, 25 ff. = SozR 4-2500 § 27 Nr. 5). Danach ist es mit den Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip und aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende medizinische Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer von ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Diese Rechtssprechung gilt auch für die Versorgung mit Arzneimitteln. Die verfassungs-konforme Auslegung setzt jedoch u.a. voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R = BSGE 96, 170 - Tomudex) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil 04.04.2006, B 1 KR - D-Ribose). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind nämlich insoweit an das Krankheitskriterium strengere Voraussetzungen gestellt, als sie mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung des "Off-label-use" formuliert sind (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 14.12.2006, B 1 KR 12/06 R - Idebenone).

Daran fehlt es im Falle des Antragstellers, wie sich für den Senat aus dem erstinstanzlich eingeholten augenärztlichen Gutachten des Dr. med. VN., OR. Klinikum NG., vom 31. Januar 2011 ergibt. Als Befund wird in diesem Gutachten eine "Sehschärfenminderung" auf dem linken Auge attestiert. Der Senat verweist dazu ergänzend auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. etwa BSG, SozR 4-2500 § 27 Nr. 7; BSG, Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 1 KR 12/06 R –; Beschluss vom 14. Mai 2007 – B 1 KR 16/07 B – Systembehandlung der Makuladegeneration -), wonach mit dem Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung in der Bewertung vergleichbar ist, strengere Voraussetzungen umschrieben werden, als sie etwa mit dem Erfordernis einer "schwerwiegenden" Erkrankung für die Eröffnung der zulassungsüberschreitenden Arzneimittelanwendung ("Off-Label-Use") formuliert worden sind. Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung haben danach Anspruch auf eine verfassungskonforme Leistungserweiterung nur wegen solcher Krankheiten, die in absehbarer Zeit zum Verlust des Lebens oder eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion führen. Ohne eine solche einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zöge. Das kann nach dieser Rechtsprechung aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu bestehenden untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl. auch BSG, Urteil vom 26. September 2006 – B 1 KR 3/06 R – für neuropsychologische Therapie).

Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen daher nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Diese qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit hat das BSG bei einer erst in 20 bis 30 Jahren drohenden Erblindung verneint (vgl. Beschluss vom 26. September 2006 B 1 KR 16/06 B). Für die bei dem Antragsteller am linken Auge bestehenden Beeinträchtigungen, die sich nach den im Sozialrecht anerkannten Beweisführungskriterien bei dem Antragsteller nur im Bereich der "Möglichkeit", nicht einmal aber im Bereich der "Wahrscheinlichkeit" befinden, kann deshalb nichts anderes gelten. Alle medizinischen Dokumentationen beschreiben für den Antragsteller keinen Befund, der einer akuten lebensbedrohlichen oder tödlich verlaufenden Erkrankung wertungsmäßig gleichgestellt werden könnte. Mit Blick hierauf sieht sich der Senat außerstande, auf der Grundlage des derzeitigen augenärztlichen Erkenntnisstandes einen Anspruch zu Gunsten des Antragstellers zu bejahen. Es ergibt sich keine Notwendigkeit, die Hauptsache im Wege einer einstweiligen Anordnung vorweg zu nehmen.

Der Senat verneint derzeit aus den zuvor dargelegten Gründen auch einen Anordnungsgrund wegen "besonderer Eilbedürftigkeit". Durchgreifende Fakten und Gesichtspunkte liegen dafür nicht vor. Auch ein Notfall ist nach dem bisherigen Ermittlungsstand nicht anzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden, weil das Beschwerdegericht die Entscheidung getroffen hat (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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