L 9 AS 429/07 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 12 AS 404/07 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 AS 429/07 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird Nr. 1 des Beschlusses des Sozialgerichts Wiesbaden vom 8. November 2007 aufgehoben.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 1. August 2007 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. Juli 2007 und des Widerspruchs des Antragstellers vom 6. November 2007 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 31. Oktober 2007 wird abgelehnt.

Im Übrigen wird die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückgewiesen.

Von den außergerichtlichen Kosten des Antragstellers hat die Antragsgegnerin für die erste Instanz ein Fünftel zu tragen, für das Beschwerdeverfahren ein Drittel.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragsgegnerin, der seitens des Sozialgerichts nicht abgeholfen wurde, hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Der Beschluss des Sozialgerichts war insoweit abzuändern, als dort in Nr. 1. die aufschiebende Wirkung der Widersprüche des Antragstellers vom 1.08.2007 und vom 6.11.2007 gegen die Bescheide der Antragsgegnerin vom 11.07.2007 und vom 31.10.2007 angeordnet worden ist.

Zwar ist festzustellen, dass das Sozialgericht den vom Antragsteller gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zutreffend in einen Rechtsschutzantrag nach § 86b Abs. 1 SGG umgedeutet hat. Allerdings hat diese Umdeutung entgegen der vom Sozialgericht vertretenen Auffassung nicht deshalb zu erfolgen, weil hier deklaratorisch eine ohnehin bestehende aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage auszusprechen sei. Vielmehr handelt es sich bei den beiden zugrunde liegenden Bescheiden vom 11.07.2007 und vom 31.10.2007 um Leistungsbescheide im originären Sinne, denn durch sie werden zustehende Leistungen festgesetzt. Dabei ist davon auszugehen, dass beide Bescheide in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, denn mit dem ersten Bescheid vom 11.07.2007 wird die Mehraufwandentschädigung für eine Arbeitsgelegenheit unter Anrechnung eines gezahlten Vorschusses tatsächlich festgestellt, in dem allgemeinen Leistungsbescheid vom 31.10.2007 erfolgt sodann die angekündigte Anrechnung von überzahlten Vorschüssen. Es handelt sich hier um Entscheidungen über Leistungen, so dass Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 39 Nr. 1 SGB II in Verbindung mit § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG keine aufschiebende Wirkung zukommt. Betrachtet man das Rechtschutzziel des Antragstellers, so ist festzustellen, dass er sich nicht gegen die Rückforderung der Überzahlungen als solcher wehrt (vgl. insoweit auch das Protokoll des Erörterungstermins bei dem Sozialgericht, Bl. 31 d. A.), sondern gegen die Anrechnung im Rahmen der laufenden Leistungsgewährung. Um dies zu stoppen, stellt der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG das einschlägige einstweilige Rechtsschutzverfahren dar.

Nach welchen Maßstäben für die Fälle des § 86a Abs. 2 bis 4 SGG im Rahmen der Prüfung von § 86b Abs. 1 SGG vorgegangen werden muss, ist umstritten (vgl. dazu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 86b, Rdnr. 12c und 12b m.w.N.). Während teilweise die Auffassung vertreten wird, die Kriterien des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG seien entsprechend heranzuziehen, wird in der zitierten Kommentierung dafür plädiert, auf die Erfolgsaussichten abzustellen, und wenn diese nicht eindeutig abschätzbar sind, eine allgemeine Interessensabwägung vorzunehmen, bei der die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mit berücksichtigt werden können.

Vorliegend kann dahingestellt bleiben, welcher Herangehensweise der Vorzug zu geben ist, denn die angegriffenen Verwaltungsakte sind offensichtlich rechtmäßig, so dass die Erfolgsaussichten in einem Hauptsacheverfahren positiv einzuschätzen sind. Dies führt dazu, dass im vorliegenden Fall das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin das Aussetzungsinteresse des Antragstellers überwiegt.

Maßgeblich für diese Schlussfolgerung ist die Tatsache, dass zugunsten der Antragsgegnerin hier § 42 Abs. 2 SGB I einschlägig ist, wonach Vorschüsse, die die zustehende Leistung übersteigen, vom Leistungsempfänger zu erstatten sind.

Entgegen der Auffassung des Antragstellers liegen die allgemeinen Voraussetzungen nach § 42 Abs. 1 SGB I vor. Dies gilt mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in der Vergangenheit, die zwar im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. BSGE 55, 2287 ff.) und im Bereich des Rentenrechts (vgl. BSGE 57, 38 ff. und Urteil vom 29.04.1997 – 4 RA 46/96 -) herausgebildet wurde, deren grundsätzliche Aussagen aber auf den Bereich des SGB II übertragbar sind.

Zunächst ist festgestellt worden, dass § 42 SGB I eine einheitliche Regelung der Vorschusszahlung für alle Sozialleistungsbereiche darstellt (vgl. BSGE 55, 287; 57, 38). Dabei ist es nach der Gesetzesbegründung das Ziel der Vorschussregelung, bei längeren Bearbeitungszeiten Nachteile und Härten zu vermeiden bzw. durch Zahlung eines Vorschusses zu überbrücken und so Geldleistungen schnell und unbürokratisch erbringen zu können (vgl. Begründung SGB I, BT-Drucks. 7/868, S. 29 zu § 42; BSGE 55, 287). Daraus folgt, dass die Wendung in § 42 Abs. 1 SGB II, dass zur Feststellung der Höhe der Leistung "voraussichtlich längere Zeit" erforderlich ist, unter Berücksichtigung der Funktion der jeweiligen Geldleistung sowie ihrer materiellen Bedeutung für den Leistungsberechtigten individuell auszulegen und anzuwenden ist. Es kommt auf die Dringlichkeit der Vorschussleistung im Einzelfall an (siehe dazu Krahmer in LPK-SGB I, 2. Auflage, § 42, Rdnr. 8 und 9). Nach diesen Kriterien ist § 42 Abs. 1 SGB I auf den vorliegenden Fall anwendbar, denn dem Empfänger der Grundsicherung für Arbeitsuchende wäre es zum Teil gar nicht möglich, eine Arbeitsgelegenheit, die zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben erfolgen soll, wegen der damit häufig verbundenen Mehrkosten wahrzunehmen. Aus diesem Grunde sieht § 16 Abs. 3 SGB II eine angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen vor, die die Antragsgegnerin vorliegend in Form einer Mehraufwandsentschädigung zuzüglich Fahrtkosten gewährt hat. Die endgültige Höhe der Gesamtleistung kann naturgemäß erst nach Beendigung der Maßnahme berechnet werden, was längere Zeit in Anspruch nimmt, während ein Leistungsempfänger auf die Zurverfügungstellung einer Geldleistung zur Wahrnehmung der Arbeitsgelegenheit unmittelbar angewiesen ist. Solche Vorschüsse hat die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall gewährt und sie auch im Einklang mit den vom Bundessozialgericht aufgestellten Forderungen (vgl. Urteil vom 29.04.1997 – 4 RA 46/96 –) ausdrücklich als Vorschuss gekennzeichnet und mit dem Hinweis versehen, dass bei einer durch die vorschussweise Gewährung der Mehraufwandentschädigung eintretenden Überzahlung eine Anrechnung des Vorschusses auf zukünftig zustehende Leistungen erfolge (vgl. beispielhaft Bescheid über die Gewährung von Leistungen nach § 16 SGB II vom 6.6.2006, Bl. 248 BA). Nachdem nun tatsächlich – wie mit Bescheid vom 11.07.2007 festgestellt – aufgrund von Fehlzeiten in der Zeit vom 7.05.2007 bis zum 6.6.2007 eine Überzahlung in Höhe von 71,47 Euro eingetreten ist, durfte und musste die Antragsgegnerin sogar die Vorschüsse auf die zustehende Leistung anrechnen (vgl. dazu BSGE 55, 287), weil dies der für solche Fälle vorgesehene gesetzliche Weg ist.

Die Anwendung des § 42 Abs. 2 SGB I scheitert auch nicht daran, dass es hier an einer "zustehenden Leistung" fehlt (anders als in dem dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 29.04.1997 – 4 RA 46/96 – zugrunde liegenden Fall, wo es keine materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage auf einen Sozialzuschlag gab). Die zustehende Leistung ist nämlich im vorliegenden Fall der Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Im Verhältnis dazu ist die Mehraufwandentschädigung nach § 16 SGB II keine andersartige Leistung, sondern das Arbeitslosengeld II wird um eine angemessene Entschädigung für Mehraufwendungen ergänzt (vgl. Niewald in LPK–SGB II, 2. Auflage, § 16, Rdnr. 56, s.a. Conradis in LPK-SGB II, § 39 Rdnr. 6: zu den Leistungen der Grundsicherung gehören alle Leistungen des Kapitels 3). Die Anrechnung eines Vorschusses auf die zustehende Leistung war daher seitens der Antragsgegnerin der richtig gewählte Weg.

In diesem Zusammenhang spielt es auch keine Rolle, ob die Anrechnungsbeträge über 30 % des Gesamtleistungsumfangs eines Monats ausmachen. Dabei ist zu beachten, dass der Antragsteller theoretisch sogar verpflichtet wäre, die Gesamtüberschüsse in einer Summe zurückzuzahlen, denn es handelt sich hier um Geld, das er zu einem bestimmten Zweck erhalten hat und theoretisch wegen Abbruchs der Arbeitsgelegenheit nicht aufgebraucht hat, so dass der Gesamtbetrag eigentlich zur Erstattung zur Verfügung stehen müsste. Nur wenn ein Leistungsempfänger – was der Antragsteller hier nicht getan hat – vortragen würde, das Geld sei verbraucht, könnte der fehlende Betrag als Darlehen gemäß § 23 Abs. 1 SGB II gewährt werden, wobei dann bei der Darlehensrückzahlung die 10 %-Grenze gelten würde. Da die Antragsgegnerin vorliegend offenbar aus sozialen Gründen die eigentlich insgesamt zur Erstattung stehende Summe auf mehrere Leistungsabschnitte aufgesplittet hat, bestehen jedenfalls gegen den konkreten Abzug eines Betrages von 30 Euro im Leistungsbescheid vom 31.10.2007 keine Bedenken. Einer anderen Beurteilung unterliegt allerdings der Bescheid vom 7.08.2007, insoweit war die Beschwerde der Antragsgegnerin zurückzuweisen, weil jedenfalls nach dem gegenwärtigen Aktenstand die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 10.09.2007 gegen den genannten Bescheid durch das Sozialgericht gerechtfertigt ist. Bezüglich dieses Bescheids bestehen nämlich so viele Unklarheiten, dass letztlich nicht beurteilt werden kann, ob dieser Bescheid überwiegend wahrscheinlich rechtmäßig ist, so dass insofern das Anordnungsinteresse des Antragstellers überwiegt.

Es erschließt sich schon nicht, warum mit diesem Bescheid nicht – wie zuvor in dem Bescheid vom 11.07.2007 – die Leistungsgewährung nach § 16 SGB II konkretisiert wird, sondern vielmehr der Bescheid vom 26.04.2007, zurückgenommen wird. Darüber hinaus ist auch die Berechnung undurchsichtig, denn sie bezieht sich auf den Monat Juni 2007, für den aber unter anderem bereits in dem genannten Bescheid vom 11.07.2007 eine Einbehaltung ab Oktober 2007 angekündigt worden ist. Beide Bescheide weisen auch unterschiedliche Zahlen bzw. Berechnungen auf, die nicht miteinander kompatibel sind. Insofern wird die Antragsgegnerin gehalten sein, eine nachvollziehbare Berechnung vorzulegen und darzulegen, inwiefern die Leistungsgewährung (ganz) aufzuheben war.

Nur am Rande sei bemerkt, dass es allerdings zweifelhaft erscheint, ob dieses Obsiegen dem Antragsteller etwas nützt, denn gegen einen Leistungsbescheid, mit dem ab August 2007 50 Euro abgezogen werden sollten, ist ein Widerspruch nicht ersichtlich. Da eine Überzahlung in Höhe von insgesamt 111,70 Euro bestand, die monatlich mit je 50 Euro zurückgezahlt werden sollte, zuzüglich der Restschuld, ist der Gesamtbetrag vermutlich längst getilgt. Dies enthebt die Antragsgegnerin aber nicht davon, eine ordnungsgemäße Aufstellung aller Überzahlungen und der dafür bereits getätigten Abzüge anzufertigen, damit für den Antragsteller deutlich wird, welche Gesamtrestschuld überhaupt noch besteht.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog und berücksichtigt überschlägig die Anteile des Obsiegens und Unterliegens in beiden Instanzen.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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