S 6 AY 29/09 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
6
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AY 29/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1) bis 5) für die Zeit vom 28.07.09 an bis zum 30.09.09 vorläufig - unter dem Vorbehalt einer abweichenden Entscheidung in der Hauptsache - Leistungen gemäß § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) in Verbindung mit dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) unter Berücksichtigung bereits gewährter Leistungen nach § 3 AsylblG zu gewähren.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Gründe:
I.

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung so genannter privilegierter Leistungen gemäß § 2 AsylblG in Verbindung mit SGB XII anstelle von Leistungen gemäß § 3 AsylblG im Streit.

Die Antragsteller zu 1) bis 3) reisten im Jahre 1992 aus dem Kosovo in die Bundesrepublik Deutschland ein. Im Asylverfahren gaben sie an, dem Volksstamm der Roma anzugehören. Der gestellte Asylantrag wurde mit Bescheid vom 23.04.1993 abgelehnt und erlangte durch ein Urteil des Verwaltungsgerichtes Minden vom 12.04.1994 am 18.05.1994 Rechtskraft.

In der Folgezeit tauchten die Antragsteller unter und stellten unter einem falschen Namen einen weiteren Asylantrag. Im Rahmen dieses Antrages gaben sie an, zur Gruppe der Ashkali zu gehören. In der Folgezeit wurden die Antragsteller zu 4) und 5) geboren. Die Ablehnung weiterer Asylanträge ist seit dem 25.02.2003 rechtskräftig. Bis Februar 2003 lebten die Antragsteller unter dem falschen Namen in T und bezogen dort Leistungen nach dem AsylbLG, bis die wahre Identität aufdeckt wurde.

In zwei vorangegangenen Verfahren bei dem Sozialgericht Detmold zu den Az.: S 6 AY 17/05 und S 6 (6,22) AY 12/06 wurden die Klagen der hiesigen Antragsteller mit dem Begehren auf Erhalt von Leistungen gemäß § 2 AsylblG jeweils abgewiesen. Seinerzeit waren die Antragsteller zu 1) bis 5) noch im Besitz einer Duldung. Das Gericht ist in den zuvor genannten Entscheidungen vom Vorliegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylblG ausgegangen. In den Entscheidungen wurde darauf hingewiesen, die Antragsteller hätten die Dauer ihres Aufenthaltes durch die Angabe der falschen Identität u.a. während des Leistungsbezuges in T rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Zudem hätten sie auch ab der Aufeckung der Indentität im Jahre 2003 die Dauer des Aufenthalts dadurch weiter rechtsmissbräuchlich beeinflusst, dass sie ihre Volkszugehörigkeit verschleiert hätten. Das erkennende Gericht ist insbesondere in der Entscheidung vom 14.02.2008 zum Az.: S 6 (6,22) AY 12/06 davon ausgegangen, dass die Antragsteller zunächst angegeben haben, Roma zu sein. Darauf wurde die Volkszugehörigkeit Ashkali angegeben. Im Rahmen einer geplanten Rückführung im Jahre 2007 wurde sodann die Volkszugehörigkeit der Ägypter bei den Antragstellern festgestellt. In der zuvor genannten Entscheidung wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass einer Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Kreises M vom 05.01.2006 und 16.01.2007 eine Reisefähigkeit der damaligen Kläger, somit der hiesigen Antragsteller, vorgelegen habe. Ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz sei am 04.04.2006 abgelehnt worden.

Zwischenzeitlich wurde eine weitere Stellungnahme vom Fachgebiet Gesundheit des Kreises M eingeholt. Mit Datum vom 14.02.2008 teilte der dortige Amtsarzt, Dr. H mit, bei dem Antragsteller zu 1) bestünde eine personenbezogene Flugreiseunfähigkeit. Wie der Antragsgegner in seinem Schriftsatz vom 25.09.2009 mitgeteilt hat, werden Rückführungen auf dem Landweg seitens des Ausländeramtes M bzw. der beteiligten Behörden nicht praktiziert.

Zwischenzeitlich wurden den Antragstellern zu 1) bis 5) von dem zuständigen Ausländeramt Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ausgestellt.

Mit hier streitgegenständlichem Bescheid vom 26.06.2009 wurden den Antragstellern zu 1) bis 5) Leistungen gemäß § 3 AsylblG gewährt.

Hiergegen wandten sich die Antragsteller mit dem vom 28.07.2009 datierenden Widerspruch, zu dessen Begründung sie ausführen, ihnen sei ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nicht vorzuwerfen. Die zuständige Ausländerbehörde hätte mit der Erteilung der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG infolge der Reiseunfähigkeit des Antragstellers zu 1) und den Vorgaben des Art. 6 Grundgesetz (GG) immerhin eine Entscheidung dahingehend getroffen, dass eine Ausreise aus rechtlichen Gründen unmöglich sei.

Ein Widerspruchsbescheid ist, soweit ersichtlich, bislang nicht ergangen. Die Antragsteller wandten sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes am 28.07.2009 an das SG Detmold.

Die Antragsteller beantragen,

ihnen im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen gemäß § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylblG) in Verbindung mit dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) unter Anrechnung bereits gewährter Leistungen gemäß § 3 AsylblG zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung verweist er darauf, dass für die Beurteilung eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens der gesamte Zeitraum des Leistungsberechtigten in Deutschland zu betrachten sei. Zur Bejahung eines Rechtsmissbrauchs werde eine unredliches von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten vorausgesetzt. Beispielhaft hierfür sei die Angabe einer falschen Identität. Da die Antragsteller ihre Identität durch die Angabe falscher Volkszugehörigkeiten immer wieder verschleiert hätten, sei hierin schon ein vorsätzlicher Rechtsmissbrauch zu sehen. Auch das Untertauchen über einen Zeitraum von acht Jahren unter falschem Namen und das Stellen eines verdeckten Asylantrages seien ein nicht zu billigendes Verhalten und folglich rechtsmissbräuchlich. Auch die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG führe nicht zu einer leistungsrechtlichen Privilegierung der Antragsteller. Durch die Einbeziehung von Personen mit einem Aufenthaltstitel gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG in den Kreis der Leistungsberechtigten des AsylblG habe der Gesetzgeber unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass dieser Personenkreis grundsätzlich genauso zu behandeln ist wie die sonstigen Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 AsylblG. Aufgrunddessen bestünde schließlich auch kein automatischer Anspruch auf Leistungen gemäß dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Antragsgegners sowie der Gerichtsakte und der beigezogenen Ausländerakten Bezug genommen, der vorgelegen hat und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

II.

Der Antrag ist zulässig und begründet.

Dabei wurde das Passivrubrum - von Amts wegen - unter Bezug auf die Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom 17.06.2008, Az.: B 8/9 b AY 1/07 R, dort Rdnr. 15 korrigiert. Gemäß § 70 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 3 des Ausführungsgesetzes zum SGG vom 08.12.1953 (GVBl. NRW 541, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 24.12.1989, GVBl. 678) findet in Nordrhein-Westfalen im Bereich des Asylbewerberleistungsrechts anstelle des Rechtsträgerprinzips das Behördenprinzip Anwendung. Richtiger Antragsgegner ist demzufolge der Bürgermeister der Gemeinde F.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile notwendig ist. Das ist immer dann der Fall, wenn ohne den vorläufigen Rechtsschutz eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005, Az.: 1 BvR 569/05 m. w. N.). Steht dem Antragsteller ein vom ihm geltend gemachter Anspruch voraussichtlich zu und ist es ihm nicht zuzumuten, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, ist der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes begründet. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Anordnungsverfahren ist jedoch nur zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.09.2004, Az.: L 7 AL 103/04 ER).

Ausgehend von diesen Grundsätzen haben die Antragsteller zu 1) bis 5) Anordnungsanspruch und -grund glaubhaft gemacht. Ein Anordnungsgrund, d. h. die Eilbedürftigkeit ist anzunehmen, da erst die so genannten Analogleistungen nach § 2 AsylbLG die Höhe von Sozialhilfeleistungen erreichen und erst damit das nach der gesetzgeberischen Wertung im SGB XII in Deutschland bestehende so genannte soziokulturelle Existenzminimum sichergestellt wird. Entsprechend der Judikatur des Landessozialgerichtes Nordrhein-Westfalen (vgl. beispielsweise Beschluss vom 26.06.2008, Az.: L 20 B 77/07 AY ER) ist daher ein Anordnungsgrund in Fällen, in denen - wie hier - Leistungen nach § 2 AsylbLG dem Grunde oder der Höhe nach im Streit stehen, stets dann zu bejahen, wenn ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht ist.

Vom Vorliegen eines derartigen Anordnungsanspruches ist das Gericht ausgegangen. Dieser folgt aus § 2 Abs. 1 AsylblG i.V.m. dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII). Das Gericht ist dabei unbeschadet der übrigen Voraussetzungen des § 2 AsylblG nach der im Antragsverfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung davon ausgegangen, dass ein rechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylblG derzeit nicht mehr anzunehmen ist.

Das Bundessozialgericht hat sich mit Urteil vom 17.06.2008 (B 8/9 b AY 1/07 R), teilweise unter ausdrücklicher Aufgabe der Rechtsprechung des zuvor zuständigen 9 b. Senates (vgl. hierzu insbesondere die Entscheidung des BSG vom 08.02.2007 - B 9 b AY 1/06 R), mit der Definition des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens auseinandergesetzt. Es hat dabei insbesondere festgestellt, dass eine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, die höhere Leistungen in entsprechender Anwendung des SGB XII (Analogleistungen) für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG nach einem 36- bzw. 48-monatigen Vorbezug von Leistungen nach § 3 AsylbLG (Grundleistungen) ausschließt, ein auf die Aufenthaltsverlängerung fehlendes vorsätzliches, sozialwidriges Verhaltens unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalles voraussetzt. Hierfür genüge nicht schon die Inanspruchnahme einer ausländerrechtlichen Duldung, wenn es dem Ausländer möglich und zumutbar sei, freiwillig auszureisen. Eine Beeinflussung der Aufenthaltsdauer läge schon dann vor, wenn bei generell - abstrakter Betrachtungsweise das rechtsmissbräuchliche Verhalten typischerweise die Aufenthaltsdauer verlängern könne (vgl. hierzu Urteil des BSG 8. Senat vom 17.06.2008 - B 8/9b AY 1/07 R).

In der Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 17.06.2008 - B 8/9 b AY 1/07 R, dort insbesondere Rd.-Nr.n. 43 und 44) wurde ausgeführt, eine Ausnahme von der typisierenden Betrachtungsweise im Sinne der zwischenzeitlich erfolgten höchstrichterlichen Rechtsprechung müsse dann gemacht werden, wenn eine etwaige Ausreisepflicht des betroffenen Ausländers unabhängig von seinem Verhalten ohnehin in dem gesamten Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Rechtsmissbrauchs nicht hätte vollzogen werden können, etwa weil die Erlasslage des zuständigen Innenministeriums eine Abschiebung ohnehin nicht zugelassen hätte. In diesen Fällen sei eine typisierende Betrachtungsweise nicht mehr zulässig. Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob und ggf. seit wann diese Voraussetzung vorgelegen hat. Denn zwischenzeitlich ist gegenüber den Entscheidungen des SG Detmold vom 14.02.2008 zu den Az.: S 6 AY 17/05 und S 6 (6,22) AY 12/06 eine Änderung im Sachverhalt dahingehend eingetreten, dass sämtlichen Antragstellern Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurden. Die obergerichtliche Judikatur geht nach hiesigem Kenntnisstand weitestgehend davon aus, dass für den Fall, dass den Leistungsberechtigten Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt wurden, von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylblG jedenfalls bei der im Antragsverfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung nicht ausgegangen werden kann (vgl. hierzu Beschluss des LSG NRW vom 06.08.2007, Az.: L 20 B 50/07 AY ER, darüber hinaus Urteil des LSG Baden-Württemberg 7. Senat vom 22.11.2007, Az.: L 7 AY 4504/06 sowie Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg v. 06.09.2007, L 15 B 12/07 AY ER).

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die Antragsteller in der Vergangenheit durch die Angabe unterschiedlicher Identitäten und Volkszugehörigkeiten sowie wiederholte Asylantragstellungen verbunden mit Untertauchen ihre Aufenthaltsdauer in der Bundesrepublik Deutschland, sowie es auch in den zuvor genannten Entscheidungen des SG Detmold ausgeurteilt wurde, verlängert haben dürften. Mit der vom Gesundheitsdienst des Kreises M bescheinigen Flugreiseunfähigkeit des Antragstellers zu 1) und der Äußerung des Antragsgegners, Rückführungen auf dem Landweg würden nicht erfolgen, ist jedoch deutlich geworden, dass derzeit zumindest für eine zwangsweise Durchsetzung der Ausreise kein Raum besteht. Insoweit ist gegenüber den zuvor getroffenen Entscheidungen eine Zäsur eingetreten, die zwischenzeitlich eine abweichende Entscheidung rechtfertigt.

Hinsichtlich der Antragsteller zu 1) bis 5) waren die Leistungen vom Zeitpunkt der Anhängigkeit des Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes bei dem SG Detmold an zuzusprechen und auf das Monatsende der Entscheidung zu befristen, da der Erlass einer einstweiligen Anordnung nur der Beseitigung einer gegenwärtigen Notlage dient.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 183 SGG.
Rechtskraft
Aus
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