S 19 SB 7/09

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
19
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 19 SB 7/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2008 verurteilt, bei der Klägerin einen GdB von 50 festzustellen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin als Schwerbehinderte mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 anzuerkennen ist.

Bei der am 00.00.1950 geborenen Klägerin wurde mit zuletzt bindend gewordenen Bescheid vom 11.07.2003 ein GdB von 40 festgestellt. Zugrunde lagen folgende Funktions-störungen.

1. Sehminderung rechts GdB 30 2. Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizungen, Schulter-Arm-Syndrom GdB 20.

Am 31.10.2007 beantragte die Klägerin, bei ihr einen höheren GdB festzustellen. Sie leide unter ständigen Schmerzen in beiden Händen. Diese äußerten sich als Spannungsschmerzen, Kribbeln, Taubheitsgefühl und Bewegungseinschränkungen, die auch nachts anhielten, wodurch es zu Schlafstörungen komme. Weiterhin leide sie unter Kopfschmer-zen sowie Schmerzen im Schulter- und Nackenbereich. Der Beklagte holte Befundberichte bei der behandelnden Fachärztin für Neurologie, Frau Dr. T, sowie beim Internisten Dr. T2 und beim Orthopäden Dr. L ein. Darüber hinaus zog er den Rehabilitationsentlassungsbericht der E Klinik vom 25.09.2007 bei. Nach versorgungsärztlicher Auswertung dieser Unterlagen lehnte es der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 30.01.2008 ab, einen höheren Grad der Behinderung festzustellen. Es sei hier zu keiner wesentlichen Verschlechterung des Behinderungsgrades gekommen, obwohl eine operierte Hohlhandnerveneinengung beidseits, eine Funktionsstörung der Hände und ein Reizsyndrom hinzugekommen seien.

Die Klägerin legte hiergegen Widerspruch ein und wies darauf hin, dass sie sich aktuell noch in Behandlung der medizinischen Hochschule I, Abteilung Neurochirurgie, wegen ihrer schwerwiegenden Wirbelsäulenerkrankung befinde. Der Beklagte holte daraufhin einen weiteren Befundbericht von Dr. T2 ein und zog den Behandlungsbericht der Neurochirurgischen Abteilung der medinizischen Hochschule I sowie einen Behandlungsbericht des Klinikums N bei; dort war die Klägerin von Ende September bis Anfang Oktober 2008 wegen einer rheumatischen Erkrankung behandelt worden. Nach Auswertung sämtlicher medizinischer Unterlagen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19.12.2008 den Widerspruch zurück. Auch nach Auswertung sämtlicher medizinischer Befunde könne keine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin im Verhältnis zu dem Zustand festgestellt werden, der im Augenblick des letzten bindend gewordenen Bescheides im Juli 2003 vorgelegen habe.

Mit der hiergegen gerichteten Klage verfolgt die Klägerin ihr Ziel fort, als Schwerbehinderte anerkannt zu werden. Ihr sei am 12.03.2008 ein sogenannter Cages in Höhe des Halswirbelkörpers (HWK) 5/6 implantiert worden. Es komme dennoch weiterhin zu Schmerzausstrahlungen in beide Hände und zu Nackenschmerzen. Hinzu träten das Schulter-Arm-Syndrom sowie eine konzentrische Gelenkverschmälerung sämtlicher Fingermittel- und -endgelenke. Die Funktionsfähigkeit der Hände sei hierdurch erheblich eingeschränkt.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 30.01.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2008 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

Die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt er im Wesentlichen Bezug auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid und Widerspruchsbescheid. Im Übrigen betont der Beklagte, dass bei einer Konstellation, bei der – wie vorliegend – eine Funktionsstörung mit 30 zu bewerten sei und zwei weitere mit jeweils 20, es in der Regel nicht gerechtfertigt sei, einen Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Das zeige sich auch im vorliegenden Fall; insbesondere seien die aus den Gesundheitsstörungen der Klägerin resultierenden Funktionseinschränkungen nicht derart gravierend, dass sie vergleichbar wären mit einer einzelnen Funktionsstörung, die bereits allein für sich genommen und einen Gesamt-GdB von 50 bedinge, beispielsweise der Verlust des Armes im Unterarmbereich.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch ein orthopädisches Gutachten von Dr. X vom 12.05.2009 sowie eine ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen vom 18.08.2009. Neben der – zwischen den Beteiligten unstreitig – mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden Einschränkung der Sehfähigkeit bei faktischer Blindheit des rechten Auges liegt danach weiter eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule bei undifferen-zierter Spondylarthropathie und Zustand nach Spondylodese HWK 5/6 ohne Nervenwurzelreizung mit einem Einzel-GdB von 20 soie eine Funktionsstörung der Hände bei Spondylarthopathie und Zustand nach Carpaltunneloperation vor, die ebenfalls einen Einzel-GdB von 20 bedingt. Der Sachverständige schlägt einen Gesamt-GdB von 50 vor.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichts-akte sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten betreffend die Klägerin verwiesen; sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

1. Die Klägerin wird durch den angefochtenen Bescheid vom 30.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2008 beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie hat Anspruch darauf, dass der Beklagte bei ihr einen GdB von 50 feststellt.

1.1 Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen auf Antrag eines behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Der Bundesgesetzgeber hat insoweit die Errichtung der Verwaltungsbehörden im Gesetz über die Errichtung der Verwaltungsbehörden der Kriegsopferversorgung (ErrG) geregelt. Den darin enthaltenen Vorgaben und den mit dem Gesetz verfolgten, die Qualität der Versorgungsverwaltung sichernden Zielen genügt der Behördenaufbau in NRW nicht mehr (ausführlich hierzu: Urteil des LSG NRW vom 05.03.2008 – L 10 SB 40/06-). Durch das Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (EingliederungsG) des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen (StraffungsG) vom 30.10.2007 ist nämlich im Bereich der Feststellungsverfahren nach den §§ 69 und 145 SGB IX zum 01.01.2008 ein Wechsel in der Behördenzuständigkeit eingetreten. Waren bislang die Versorgungsämter als besondere, den Vorgaben des ErrG entsprechende Verwaltungsbehörden für die Durchführung des Schwerbehindertengesetzes zuständig, so wurden diese mit Ablauf des 31.12.2007 aufgelöst und ihnen nach den §§ 69 und 145 SGB IX obliegenden Aufgaben mit Wirkung ab dem 01.01.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte übertragen. Auch die Abteilung 0 – Landesversorgungsamt – der Bezirksregierung Münster ist aufgelöst worden (Art. 2 StraffungsG). Ein neues "Landesversorgungsamt" wurde nicht errichtet. Allerdings ermächtigt § 69 Abs. 1 S. 7 SGB IX die Länder, von den Vorgaben des ErrG abzuweichen. Der Bundesgesetzgeber hat den Ländern durch diese Vorschrift die Kompetenz eingeräumt, die Zuständigkeit für die Durchführung der §§ 69 und 145 SGB IX abweichend von der Grundregel des § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX zu bestimmen. Räumt der Bundesgesetzgeber somit den Ländern die Möglichkeit ein, abweichende Zuständigkeiten festzulegen, so gibt er insoweit mitttelbar die im ErrG enthaltenen qualitätssichernden Vorgaben auf. Dieses Ergebnis lässt sich auch mit dem Zweck des ErrG rechtfertigen; das in der Gesetzesbegründung formulierte Anliegen des ErrG betrifft nämlich den Personenkreis der Antragsteller nach dem Schwerbehindertengesetz ersichtlich nicht. Im Gesetzgebungsverfahren wird dieser Gedanke hinlänglich deutlich dergestalt formuliert, dass die (herkömmliche) Verbindung der Aufgaben nach dem SGB IX und dem BVG nicht zwingend ist (BR-Drucks. 746/03 S. 19).

Da die Klägerin im Gebiet des beklagten Kreises N2 wohnt, war dieser somit örtlich, sachlich und instanziell zuständig für die Bescheidung des Antrages auf Feststellung eines höheren GdB § 69 Abs. 1 S. 7 SGB IX; § 1, 2 Abs. 2 EingliederungsG NRW).

1.2 Allerdings hat den Widerspruch die sachlich unzuständige Widerspruchsbehörde erlassen, nämlich die Bezirksregierung Münster statt der zuständigen Bezirksregierung Detmold. Bereits deshalb war der angefochtene Widerspruchsbescheid aufzuheben. Dazu im Einzelnen:

1.2.1 Der Landesgesetzgeber hat in § 2 Abs. 2 S. 1 EingliederungsG NRW die Aufgaben nach den §§ 69 und 145 SGB IX den Kreisen und kreisfreien Städten als "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" übertragen. Von der rechtlichen Qualität der "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" hängt danach die Beantwortung der Frage ab, welche Behörde im Schwerbehindertenrecht die Widerspruchsbescheide zu erteilen hat. Denn nach § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG, der durch Art. 1 Nr. 14 des 7. SGGÄndG vom 09.12.2004 eingefügt wurde, ist in Angelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung, soweit durch das Gesetz nichts anderes bestimmt ist, die Selbstverwaltungsbehörde für die Erteilung des Widerspruchsbescheides zuständig. Bei den vom Landesgesetzgeber für die Feststellungsverfahren nach den §§ 69 und 145 SGB IX für zuständig erklärten Kreisen und kreisfreien Städten handelt es sich um solche kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften, die daher grundsätzlich auch zur Erteilung der Widerspruchsbescheide berufen sein können. Der Landesgesetzgeber hat nämlich nichts anderes i. S. v. § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG bestimmt, d.h. keine (ausdrückliche) Regelung getroffen, welche Behörde in den Feststellungsverfahren nach den §§ 69 und 145 SGB IX die Widersprüche bescheiden soll. Die Anwendung des § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG würde allerdings dann ausscheiden, wenn man der Auffassung folgt, dass es sich bei "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" generell nicht um "Selbstverwaltungsangelegenheiten" (Gern, Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl. 2003, S. 167) bzw. nicht um Selbstverwaltungsangelegenheiten im Sinne der Bundesgesetze (Burgi, Kommunalrecht, 2005, S. 91 f) handelt. In diesem Fall wäre gem. § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG die nächst höhere Behörde zur Entscheidung über den Widerspruchsbescheid berufen, wobei sich dann die Folgefrage stellt, wer dies im Verhältnis zu den kreisfreien Städten und Kreisen ist. Um entscheiden zu können, ob die Verfahren gem. §§ 69 und 145 SGB IX nach dem 01.01.2008 unter Nr. 1 oder Nr. 4 des § 85 Abs. 2 SGG fallen, bedarf es eines Blickes auf die Gründe und näheren Umstände für die Einführung des Aufgabentyps der "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" in NRW sowie die Gründe und näheren Umstände für die Übertragung der Schwerbehindertenangelegenheiten als eben solche Aufgaben auf die Kreise und kreisfreien Städte: Die bis zum 31.12.2007 von den Versorgungsämtern wahrgenommenen Aufgaben auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts sich nach § 3 EingliederungsG NRW ab dem 01.01.2008 auf die Kreise und kreisfreien Städte "als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" übertragen worden. Nach der Gesetzesbegründung soll bis zum 31. Oktober 2010 überprüft werden, ob eine "Aufgabenübertragung als Selbstverwaltungsaufgaben" in Betracht kommt. Der Landesgesetzgeber wollte also zunächst und auch noch derzeit ausdrücklich keine Übertragung der Schwerbehindertenverfahren als Selbstverwaltungs-angelegenheiten, sondern eine solche Übertragung der Aufgaben, die zumindest in einer Übergangszeit eine möglichst weitgehende Kontrolle durch das Land ermöglicht. Die historische Auslegung der Zuständigkeitsneuregelung spricht daher gegen die Zuordnung der Verfahren zu § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG und für eine Zuständigkeit der nächsthöheren Behörde für die Widerspruchserteilung (§ 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG). Weiter bestimmt der Landesgesetzgeber in § 2 Abs. 2 S. 2 EingliederungsG NRW, dass die Aufgaben der Aufsichtsbehörde die Bezirksregierung Münster wahrnehmen soll. Als Aufsichtsmaßnahmen sieht § 2 Abs. 3 EingliederungsG NRW "allgemeine und besondere Weisungen" vor, um "die gleichmässige Durchführung der Aufgaben zu sichern". Außerdem räumt § 2 Abs. 3 S. 2 EingliederungsG NRW der Bezirksregierung Münster als Aufsichtsbehörde sogar die Befugnis ein, zur "zweckmässigen" Erfüllung der Aufgaben "allgemeine Weisungen" zu erteilen, "um die gleichmäßige Durchführung der Aufgaben zu sichern".Der Gesetzgeber hat damit sehr weitgehende, über die reine Rechtsaufsicht hinausgehende Aufsichtsmittel vorgesehen. Die systematische Auslegung des EingliederungsG NRW spricht somit ebenfalls gegen eine Selbstverwaltungsangelegenheit sowie gegen die Widerspruchserteilung durch die kommunalen Gebietskörperschaften selbst und für die Widerspruchserteilung durch die nächsthöhere (Landes-)Behörde. Nichts anderes ergibt sich aus dem Begriff der "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung", d.h. Nach der Wortauslegung. Als solche Aufgaben werden nämlich in den Gemeindeordnungen einiger Bundesländer (neben Nordrhein-Westfalen u.a. noch Baden-Würtemberg, Brandenburg, Schleswig-Holstein, Sachsen; siehe Art. 78 Abs. 4 Satz 2 Lverf NRW, § 3 Abs. 2 GO NRW, § 2 Abs. 3 GO Baden-Württemberg, § 3 Abs. 4 Satz 5 GO Brandenburg, § 3 Abs. 1 GO Schleswig-Holstein, § 2 Abs. 3 SächsGO) eine bestimmte Art der Aufgaben der Gemeinden oder der Gemeindeverbände umschrieben. Die Gemeindeordnung anderer Bundesländer (z. B. Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Thüringen) unterscheiden hingegen zwischen "Aufgaben des eigenen Wirkungskreises" und "Aufgaben des übertragenen Wirkungskreises" (Art. 7 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GO Bayern, §§ 2 und 3 Kommunalverfassung Mecklenburg-Vorpommern, §§ 4 Abs. 1, 5. Abs. 1 GO; §§ 2 und 3 Thüringer Kommunalordnung) bzw. zwischen "Selbst-verwaltungsaufgaben" und "Auftragsangelegenheiten" (§ 2 Abs. 1 u. 2 GO Rheinland-Pfalz; §§ 5, 6 Kommualselbstverwaltungsgesetz Saarland). Die unterschiedliche Terminologie spiegelt wider, dass einige Bundesländer in ihren Gemeindeordnungen das seit dem 19. Jahrhundert historisch überlieferte Modell einer Trennung zwischen den Selbstverwaltungsangelegenheiten und den Staatsaufgaben (Auftragsangelegenheiten; Fremdverwaltung) übernommen haben (sog. "Aufgabendualismus"). Demgegenüber sind die Bundesländer, die in ihren Gemeindeordnungen den Rechtsbegriff der "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" aufgenommen haben, insoweit dem von den Innenministern der Länder und den kommunalen Spitzenverbänden erarbeiteten sog. "Weinheimer Entwurf" einer "Deutschen Gemeindeordnung" vom 03.07.1948 gefolgt, der die Verantwortung für die Erfüllung aller öffentlicher Aufgaben grundsätzlich den Gemeinden zuwies, wobei die herkömmliche Unterscheidung zwischen Staats- und Gemeindeaufgaben vermieden werden sollte (Aufgabenmonismus). Wäre nun der Bundesgesetzgeber diesem monistischen Aufgabenbegriff gefolgt, so hätte es keinen Sinn gemacht, dass er in § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG "in Angelegenheiten der kom-munalen Selbstverwaltung" die Selbstverwaltungsbehörde für die Erteilung des Wider-spruchs für zuständig erklärt, denn es handelt sich nach diesem Aufgabenverständnis ja stets um Selbstverwaltungsaufgaben, es sei denn durch Gesetz wird etwas anderes vorgeschrieben (Art. 78 Abs. 2 Landesverfassung (LV) NRW). Der Gesetzgeber hätte dann vielmehr geregelt, dass (in allen Angelegenheiten) "den Widerspruchsbescheid die kommunale Selbstverwaltungsbehörde erteilt, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat, soweit nicht durch Gesetz anderes bestimmt wird". Durch die Art der Regelung und seine Wortwahl ("Selbstverwaltungsangelegenheit" in Abgrenzung zu "Auftragsangelegenheiten" bzw. "Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises") gibt der Bundesgesetzgeber in § 85 Abs. 2 Nr. 1 und 4 SGG zu erkennen, dass alle den kommunalen Selbstverwaltungsträgern übertragenen Aufgaben und damit auch die Feststellungsverfahren nach den §§ 69 und 145 SGB IX, unter Nr. 1 der Vorschrift fallen sollen. Es kommt daher nicht mehr entscheidend darauf an, dass innerhalb NRWs umstritten ist, ob es sich bei den landesrechtlich geregelten "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" um eine besondere Art der kommunalen Selbstverwaltungsaufgaben" oder um einen andersartigen Aufgabentyp handelt. So wird nach der der obergerichtlichen Recht-sprechung der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Beschluss des OVG NRW vom 16.03.1995 – 15 B 2839/93NVwZ-RR 1995, 502-505; Beschluss des OVG NRW vom 27.07.2004 – 5 A 3116/03; Urteil des OVG NRW vom 17.07.2003 – 12 A 5381/00; ausdrücklich offengelassen jedoch wieder vom OVG NRW im Urteil vom 30.06.2005 – 20 A 3988/03 -) und der Verfassungsgerichtsbarkeit des Landes NRW (Urteil des LVerfG NRW vom 15.02.1985 – 17/83, juris-Rdnr. 12) ebenso wie in der Fachliteratur überwiegend vertreten, dass es sich bei den Aufgaben, die in Nordrhein-Westfalen den Gemeinden und Gemein-deverbänden als "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" übertragen worden sind, um "Selbstverwaltungsaufgaben" handele. Diese Auffassung wird insbesondere darauf gestützt, dass dies den Überlegungen bei den Beratungen zur nordrhein-westfälischen Landesverfassung entspreche (z. B. Vietmeyer, Die Rechtsnatur der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung in Nordrhein-Westfalen, DVBl. 1992, 413 ff.; Erichsen, Kommunalrecht des Landes NRW, 2. Aufl. 1997, S. 70/71; Zacharias, Nordrhein-Westfälisches Kommunalrecht, 1. Aufl. 2004, S. 67 – 69). Dagegen steht die Auffassung, die davon ausgeht, dass die "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" nicht "Selbstverwaltungsangelegenheiten im üblichen Sinne" sind, sondern Aufgaben, die die Merkmale beider Aufgabentypen (Selbstverwaltungsangelegenheit, Auftragsangelegenheit) in sich "tragen", aber den "echten Selbstverwaltungsangelegenheiten nahestehen (Rehn/Gronauge/Lennep, Ge-meindeordnung NRW, § 3 GO, IV 2). Demgegenüber hat wiederum u.a. das Bundesverfassungsgericht die Ansicht vertreten, bei den "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" handele es sich nicht um Selbstverwaltungsaufgaben, vielmehr sei dieser Begriff nur eine andere Bezeichnung für Auftragsangelegenheiten (BVerfG, Urteil vom 23.01.1957 – 2 BvF 3/56, NJW 1957, 379/358). Auch in der Fachliteratur wird die Auffassung vertreten, Selbstverwaltungsaufgaben seien nicht mit staatlichen Weisungsrechten vereinbar, weshalb die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung nicht den Selbstverwaltungsaufgaben, sondern den übertragenen (staatlichen) Aufgaben zuzuordnen seien (Gern, Deutsches Kommunalrecht, 3. Aufl. 2003, 16). Dieser, bereits innerhalb des Landes NRW bestehende Meinungsstreit und die unterschiedlichen Aufgabenverständnisse innerhalb der verschiedenen Bundesländer ("Aufgabenmonismus" bzw. "Aufgabendualismus") sprechen indes dafür, dass es nicht Sinn und Zweck der Regelungen des § 85 Abs. 2 Nr. 1 und 4 SGG ist, auf die unklare rechtliche Einordnung der Pflichtaufgaben nach Weisung in NRW bzw. auf die unterschiedlichen Aufgabenverständnisse in den unterschiedlichen Bundesländern zu verweisen. Vielmehr ist von einem eigenständigen Selbstverwaltungsbegriff in § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG auszugehen. Dabei kann aus dem unterschiedlichen Schutzbereich des Art. 28 Abs. 2 SGG ("Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft") und einigen Landesverfassungsregelungen (z. B. Art. 78 Abs. 2 LVerfNRW "Gemeinden und Gemeindeverbände" sind "in ihrem Gebiet die alleinigen Träger öffentlicher Verwaltung, soweit die Gesetze nichts anderes vorschreiben") gefolgt werden, dass der bundesrechtlichen Begriff der "Selbstverwaltungsangelegenheiten" enger ist als der entsprechende landesrechtliche Selbstverwaltungsbegriff und zumindest "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" nicht umfasst (im Ergebnis ebenso:Burgi,Kommunalrecht 2005, S. 91/92).

1.2.2 War somit die Erteilung des Widerspruchsbescheids betreffend den Bescheid der Beklagten vom 30.10.2008 gem. § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG die nächsthöhere Behörde zuständig, so wird – auch vom Beklagten – die Auffassung vertreten, dies sei die zuständige Aufsichtsbehörde und damit die Bezirksregierung Münster. Das trifft indes nicht zu, zuständig ist vielmehr die Bezirksregierung Detmold. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen: Zwar stimmte § 7 des nordrhein-westfälischen Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung (AG VwGO NRW) in der bis zum 30.09.2007 gültigen Fassung:"In Angelegenheiten, die den Gemeinden und Kreisen als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen sind, erlässt die Aufsichtsbehörde den Widerspruchsbescheid." Doch fand und findet sich keine entsprechende Regelung im nordrhein-westfälischen Ausfüh-rungsgesetz zum SGG. Zudem ist die bisherige Regelung des § 7 AG VwGO NRW zeitgleich mit dem Inkrafttreten des 2. Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in NRW entfallen. Eine analoge Anwendung der Vorschrift kommt daher nicht (mehr) in Betracht. Das gilt im Übrigen auch aus einem anderen Grund; mit dem Wegfall der Vorschrift in ihrer bisherigen Form und seiner Neuformulierung verfolgte die Landesregierung nämlich das Ziel, dass auch bei Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung im Regelfall "die Behörde, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen oder dessen Vornahme abgelehnt hat, für die Entscheidung über den Widerspruch zuständig" sein soll (Landtag-NRW, Drucksache 14/4199). § 7 AG VwGO NRW regelte und regelt somit nicht den Fall, wer nächsthöhere Behörde im Sinne des § 73 Abs. 1 Nr. 1 VwGO sein soll, sondern bestimmte etwas anderes für den Fall des Erlasses des Ausgangsbescheides durch eine Selbstverwaltungsbehörde in einer Selbstverwaltungsangelegenheit ( § 73 Abs. 1 Nr. 3 VwGO). Eine (entsprechende) Fallgestaltung liegt – wie dargelegt – hier nicht vor. § 7 AG VwGO NRW ist zudem weder in seiner früheren noch in seiner neuen, ab dem 01.10.2007 gültigen Fassung Ausdruck eines allgemeinen, analogiefähigen Rechts-gedankens und eignet sich somit nicht dazu, etwaige Regelungslücken zu schließen. Da-gegen spricht bereits, dass nach Art. 78 Abs. 4 Satz 2 LVerfNRW sowie gem. §§ 3 Abs. 2, 119 Abs. 2 GO NRW bei Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung der Umfang der Aufsichtsbefugnisse gesetzlich festzulegen ist, diese aber nach der Grundkonzeption der nordrhein-westfälischen Kommunalfassung nicht die Durchführung des Widerspruchs-verfahrens umfassen müssen. Außerdem haben die frühere und die neue Fassung des § 7 AG VwGO einen gegensätzlichen Regelungsinhalt. Das spricht ebenfalls gegen die Annahme, dass die Regelung in ihrer jetzigen oder in ihrer früheren Fassung einen analogiefähigen allgemeinen Rechtsgedanken verkörpert (Nospickel, Rechtsgutachten zu den Rahmenbedingungen der Aufsicht nach dem 2. StraffungsG NRW vom 14.08.2007, S. 16). Schließlich konnte man auch bis zum 31.12.2007 nicht davon ausgehen, dass die Bezirksregierung Münster als Fachaufsichtsbehörde nach Art. 1 § 3 2 ModernG "nächsthöhere Behörde" im Sinne des § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG und somit für die Erteilung der entsprechenden Widerspruchsbescheide zuständig ist (so aber Nospickel, Rechtsgutachten zu den Rahmenbedingungen der Aufsicht nach dem 2. StraffungsG NRW vom 14.08.2007, S. 17). Vielmehr folgte die Zuständigkeit der Abteilung 0 (und nicht) der (gesamten) Bezirksregierung Münster für die Widerspruchserteilung aus dem Umstand, dass dieser Abteilung die Aufgaben des Landesversorungsamtes i.S.v. § 1 ErrG übertragen worden waren und die gesetzlichen Vorgaben des ErrG in Gestalt dieser Abteilung eingehalten wurden (ausführlich hierzu: Urteil des BSG vom 12.06.2001 – B 9 V 5/00 R -). Gem. § 3 ErrG "unterstehen" die Versorgungsämter den Landesversorgungsämtern.", danach war die frühere Abteilung 0 der Bezirksregierung Münster als Landesversorgungsamt nächsthöhere Behörde im Verhältnis zu den Versorgungsämtern. Die Abteilung 0 der Bezirksregierung Münster ist indes zum 31.12.2007 von der Landesregierung aufgelöst worden; das die Zuständigkeit und die Funktionen eines Landesversorungsamtes übertragende Gesetz (Art. 1 § 3 S. 1 2. ModernG) ist aufgehoben worden. Einen Nachfolgeregelung existiert nicht. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Bezirksregierung Münster vorliegend nicht die zuständige Widerspruchsbehörde. Die Verfasser des EingliederungsG NRW sind allerdings offenbar davon ausgegangen, dass die Bezirksregierung Münster auch ohne eine der früheren Fassung des § 7 AG VwGO NRW und ohne eine frühere Fassung des Art. 1 § 3 S. 1 2. ModernG entsprechenden ausdrücklichen Vorschrift weiterhin nach § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG für die Erteilung der Widerspruchsbescheide in Angelegenheiten, die den Kreisen und kreisangehörigen Gemeinden als "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" übertragen wurden, als "nächsthöhere Behörde" zuständig bleiben soll. Dafür spricht zumindest die in § 22 EingliederungsG NRW getroffene Regelung, die einen Übergang der bisher mit den Wi-derspruchsverfahren in Schwerbehindertenangelegenheiten befassten Mitarbeiter der Abteilung 0 der Bezirksregierung Münster auf die kreisfreien Städte und Kreise nicht vorsieht. Bedenkt man, dass das Gesetz vom Grundsatz ausgeht, "das Personal folgt den Aufgaben" spricht dies gegen den (vollständigen) Verlust der Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster für die Widerspruchserteilung in Feststellungsverfahren nach den §§ 69 und 145 SBG IX. Allerdings ist allein die Verteilung von Personal ein schwaches Argument für den Schluss, der Landesgesetzgeber habe die Widerspruchszuständigkeit allein der Bezirksregierung Münster zuweisen wollen. Soll später etwa, wenn u.U. In ganz anderem Zusammenhang die betroffenen Mitarbeiter ganz oder teilweise einer anderen Behörde zugewiesen werden oder sie ausscheiden, die Zuständigkeit (ganz oder teilweise) enden? Wohl kaum; zur Überzeugung der Kammer kann daher allein aus Regelung der Personal-zuweisung und aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber unausgesprochen von der weiterhin bestehenden Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster für die Widerspruchs-erteilung ausgegangen zu sein scheint (so Nospickel, Rechtsgutachten zu den Rahmenbedingungen der Aufsicht nach dem 2. StraffungsG NRW vom 14.08.2007, S. 17 ff.), nicht hinreichend sicher auf einen entsprechenden Regelungswillen des Landesgesetzgebers geschlossen werden. Auch müsste dieser zumindest andeutungsweise Niederschlag im Gesetz gefunden haben, daran fehlt es indes und das, obwohl der Gesetzgeber auf diese Problematik ausdrücklich in einem zur Vorbereitung des EingliederungsG NRW eingeholten Gutachten aufmerksam gemacht worden war (Szymczak, Gutachten für die Landesregierung, Bl. 18: "Es sollte daher eine gesetzliche Regelung über die Widerspruchsbearbeitung erfolgen").

Wer die nächsthöhere Behörde i.S.d. § 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG ist, ergibt sich daher vielmehr daraus, wer nach dem einschlägigen Landesorganisationsrecht der Ausgangsbehörde – hier den Kreisen bzw. kreisfreien Städten – unmittelbar übergeordnet ist (Dolde/Porsch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Ergänzungslieferung 2007, § 73 Rdn. 6 zur inhaltsgleichen Regelung der VwGO). Wer das im Verhältnis zu den Kreisen und kreisfreien Städten ist, ist im Landesorganisationsgesetz (LOG) NRW – zumindest auf den ersten Blick – nicht ausdrücklich geregelt. Das ist darauf zurückzuführen, dass der Begriff der "nächsthöheren Behörde" (§ 85 Abs. 2 Nr. 1 SGG) auf das Verhältnis zweier "Behörden" zugeschnitten ist. Rein sprachlich passt er somit nicht auf das Verhält-nis zwischen einer Landesbehörde und kommunalen Gebietskörperschaften, die Träger eigener Rechte sind (Nospickel, Rechtsgutachten zu den Rahmenbedingungen der Auf-sicht nach dem 2. StraffungsG NRW vom 14.08.2007, S. 19 f). Allerdings gilt das LOG NRW auch für Gemeinden und Gemeindeverbände, soweit es dies bestimmt (§ 1 Abs. 1 S. 2 LOG NRW). § 5 Abs. 3, § 15 und § 17 LOG NRW bestimmen, dass das Land, wenn es – wie vorliegend – Bundesrecht durchzuführen hat, diese Aufgaben Gemeinden und Gemeindeverbänden als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen kann. Wer in diesem Fall der Anwendbarkeit des LOG NRW auf Gemeinden und Gemeindever-bänden nächsthöhere Behörde ist, regelt im Zweifel § 8 Abs. 3 LOG. Nach dieser Vorschrift sind die fünf Bezirksregierungen als Landesmittelbehörden in NRW für alle Aufgaben zuständig, die – wie hier – keiner anderen Behörde ausdrücklich zugewiesen sind. Dabei sind die Bezirksregierungen jeweils für ihren Regierungsbezirk zuständig. Für das Gebiet des beklagten Kreises N2 ist das die Bezirksregierung Detmold und nicht die Bezirksregierung Münster.

1.2.3. Stammt der Widerspruchsbescheid folglich von einer unzuständigen Behörde und beschwert er die Klägerin, so macht ihn das nicht nichtig. Grobe – absurde – Zuständigkeitsmängel können zwar gem. § 40 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Nichtigkeit des (Widerspruchs-)Bescheides zur Folge haben (Steinwedel in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 61. Ergänzungslieferung 2009, § 40 SGB X, Rdn. 15). Ein solch offensichtlicher Fehler liegt indes nicht vor, das zeigt bereits die schwierige Herleitung der für die Widerspruchserteilung zuständigen Stelle. Der Widerspruchsbescheid ist jedoch rechtswidrig und daher aufzuheben (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG, § 39 Abs. 2 SGB X). Ein Fall des § 42 S. 1 SGB X liegt nämlich – ebensowenig wie ein Fall des § 40 Abs. 3 Ziffer 1 SGB X – nicht vor. Zwar könnte man meinen, die Frage, ob die Bezirksregierung Münster oder die Bezirksregierung Detmold über den Widerspruch entscheidet, beträfe die Frage in diesen beiden Vorschriften geregelten örtlichen Zuständigkeit der bescheiderteilenden Behörde. Dabei würde man jedoch verkennen, dass die Bezirksregierung Münster sich vorliegend nicht aufgrund eines Versehens für den Kreis N2 für örtlich zuständig erachtet hat oder aufgrund einer dauerhaften, vom Gericht abweichenden Auslegung von die örtliche Zuständigkeit regelnden Normen. Vielmehr vertreten der Beklagte und die Bezirksregierung Münster die (unzutreffende) Ansicht, sachlich zuständig für die Erteilung eines Widerspruchsbescheides bei Feststellungsverfahren nach den § 69 und 145 SGB IX sei in NRW die Fachaufsichtsbehörde und damit gem. § 2 Abs. 2 S. 2 ErrG NRW die Bezirksregierung Münster. Der somit vorliegende Fall der sachlichen Unzuständigkeit wird jedoch weder von § 42 S. 1 SGB X noch von § 40 Abs. 3 S. 1 SGB X erfasst (Schütze in: von Wulffen, SGB X, 6. Aufl. 2008, § 42 SGB X, Rdn. 5; Steinwedel in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, 61. Ergänzungslieferung 2009, § 42 SGB X, Rdn. 7 mit Verweis auf BSGE 62, 281, 286). Sähe man das anders, so wäre es zudem auch nicht "offensichtlich" i.S.v. § 42 S. 1 SGB X, dass die Verletzung der Vorschrift über die örtliche Zuständigkeit die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Das ist nur bei "faktischer Alternativenlosigkeit" der Fall (Steinwedel in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 61. Ergänzungslieferung 2009, § 42 SGB X, Rdn. 8). Vorliegend war die Beklagte zur Feststellung eines höheren GdB jedoch nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet (vgl. unten zu Ziffer 2). Da die Voraussetzungen für die Unbeachtlichkeit des Verstoßes gegen Regelungen der örtlichen Zuständigkeit nach § 42 S. 1 SGB X nicht gegeben sind, kann es die Kammer offen lassen, ob § 42 SGB X überhaupt auf den vorliegenden Fall einer kombinierten Verpflichtungs-/Feststellungsklage anwendbar ist (dagegen Schütze in: von Wulffen, SGB X, 6. Auflage 2008, § 42 Rdn. 3 mit Verweis auf Littmann in: Hauck/Noftz, § 42 Rdn. 6 m.w.N.). Festzuhalten bleibt, dass in allen Feststellungsverfahren nach den §§ 69 und 145 SGB IX in NRW zumindest der die Kläger belastende Widerspruchsbescheid wegen Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit aufzuheben ist, da derzeit stets die unzuständige Bezirksregierung Münster die Widerspruchsbescheide erlässt.

2. Ist der Widerspruch von der unzuständigen Widerspruchsbehörde beschieden worden, so wird die Kammer dadurch nicht daran gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden. Die Klägerin hat nämlich einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50. Dem Beklagten und der Widerspruchsbehörde steht insofern kein Beurteilungs- oder Ermes-sensspielraum zu. Bei der Feststellung des Vorliegens einer Behinderung und des GdB kommt es nicht auf Diagnosen an, sondern darauf, ob die Gesundheitsstörungen zu Funktionsbeeinträchtigungen führen und diese die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigen (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Die Auswirkungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt ( § 69 Abs. 1 Sätze 1 und 3 SGB IX). Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt ( § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Zur Einschätzung des GdB sind zunächst die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 2005 und 2008. Ab dem 01.01.2009 gelten die in der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" welche AHP abgelöst haben (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.08.2009 – L 13 SB 294/07 -). Gemäß § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Zur Überzeugung der Kammer liegt eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen gegenüber den Verhältnissen, die dem zuletzt bindend gewordenen Bescheid vom 11.07.2003 zugrunde gelegen haben, insoweit vor, als eine Gesundheitsstörung, die Funktionseinschränkung der Hände, hinzugetreten und der Gesamt-GdB nun nicht mehr mit 40, sondern mit 50 zu bewerten ist. Dazu im Einzelnen:

2.1 Die eingeschränkte Sehfähigkeit der Klägerin mit einem Visus rechts von unter 0,05 und links mit einem solchen von 1,0 ist – zwischen den Beteiligen unstrittig – gem. Teil B Ziffer 4.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bzw. bis zum 31.12.2007 nach Ziffer 26.4 der AHP 2005 und 2008 mit einem GdB von 30 zu bewerten.

Die bei der Klägerin vorliegende Sondylarthopathie, eine entzündlich-rheumatische Erkrankung, bedingt einen GdB von 20. Teil B Ziffer 18.2.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (bzw. die für die Zeit bis Ende 2007 anzuwendende Ziffer 26.18 AHP 2005 und 2008) lautet insoweit: "Entzündlich-rheumatische Krankheiten ohne wesentliche Funk-tionseinschränkung mit leichten Beschwerden – 10, mit geringen Auswirkungen (leichtgradige Funktionseinbußen und Beschwerden, je nach Art und Umfang des Gelenkbefalls, geringe Krankheitsaktivität) 20 – 40". Bei der Klägerin war ausweislich des Gutachtens des Sachverständige Dr. X die Beweglichkeit der HWS für die Seitenneigung sowie die Streckung und Beugung im Begutachtungszeitpunkt zumindest endgradig eingeschränkt, es lagen degenerative Veränderungen der Bandscheibenfächer HWK 4/5 und HWK 6/7 vor, im Segment HWK 5/6 war die Wirbelsäule mittels eines Cages versteift. Aus den im Verwaltungsverfahren beigezogenen medizinischen Unterlagen (insbesondere dem Rehabilitationsentlassungsbericht vom 25.09.2007) geht zudem hervor, dass die HWS-Beschwerden rezidivierend und langandauernd auftreten, sich bei längerem Sitzen verschlechtern und teils in den Nacken- und Schulterbereich ausstrahlen. Die Klägerin bedarf der täglichen Einnahme des entzündungshemmenden Schmerzmittels Ibuhexal 600 mg. Es liegen danach mehr als leichte Beschwerden vor; sie bedingen einen GdB von 20 mit einer Tendenz zum nächsthöheren Wert.

Die Funktionseinschränkung der Hände der Klägerin bewertet die Kammer ebenfalls mit einem starken GdB von 20. Die Bewertung dieser Funktionsstörung bereitet allerdings Schwierigkeiten, weil sie auf zwei verschiedenen Gesundheitsstörungen beruht, zum einen auf der entzündungsbedingten Veränderung der Fingergelenke bei undifferenzierter Spondylarthropathie und zum anderen auf sensible Schädigung des nervus medianus. Die daraus resultierenden Funktionseinbußen, die eingeschränkte Beweglichkeit des rechten Daumenendgelenks, das ständige Spannungsgefühl, das Stechen und Pieken sowie die Schmerzen in den Händen können nicht scharf abgegrenzt allein einer der beiden Gesundheitsstörungen zugeordnet werden. Entsprechend bewertet der Sach-verständige Dr. X und ihm folgend die Kammer die Funktionsstörungen der Hände der Klägerin einheitlich, auch wenn ein Teil von ihnen auf der rheumatischen Erkrankung der Klägerin beruht, die bereits vorstehend, allerdings ausschließlich in Bezug auf die daraus resultierenden Wirbelsäulenbeschwerden, bewertet wurde. Nach Teil B Ziffer 18.2.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (bzw. nach der für die Zeit bis Ende 2007 anzuwendende Ziffer 26.18 der AHP 2005 und 2008) bedingen entzündlich-rheumatische Krankheiten ohne wesentliche Funktionseinschränkung bereits bei leichten Beschwerden einen GdB von 10, mit geringen Auswirkungen (leichtgradige Funktionseinbußen und Beschwerden, je nach Art und Umfang des Gelenkbefalls, geringe Krankheitsaktivität) einen GdB von 20 – 40. An den Händen sind bei der Klägerin bereits mehrfach Carpaltunneloperationen durchgeführt worden. Die nach wie vor bestehenden Missempfindungen und Schmerzen an den Händen führen indes dazu, dass die Klägerin ihrem Beruf als Schulsekretärin nicht vollschichtig nachgehen kann. Nachts kann sie allenfalls noch 2 – 3 Stunden am Stück Schlafen und ist entsprechend am Folgetag weniger ausgeruht. Die erheblichen Beschwerden der Hände waren es, die zum Verschlimmerungsantrag der Klägerin führten. Da zudem ein paariges Betroffensein vorliegt, ist zumindest das Merkmal der "geringen Auswirkungen" i.S.v. Teil B Ziffer 18.2.1 und ein GdB von wenigstens 20 zu bejahen. Nichts anderes ergibt sich, wenn man die Bewertung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (bzw. bis Ende 2007 die der Ziffer 26.18 der AHP 2005 und 2008) für Schädigungen des nervus medianus zugrunde legt. Nach Teil B Ziffer 18.13 Versorgungsmedizinische Grundsätze bedingt der proximale Ausfall des nervus medianus einen GdB von 40, der vollständige, distale Ausfall einen GdB von 30. Solche vollständigen Ausfälle liegen bei der Klägerin zwar noch nicht vor, es sind jedoch beide Hände von den massiven Schmerz- und Mißempfindungen betroffen. Auch im Vergleich zu dieser Bewertung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (bzw. der AHP 2005 und 2008) erachtet die Kammer die Bewertung des Produktionssystems der Hände mit einem starken 20er Wert für nicht zu hoch.

Weitere Gesundheitsstörungen, die einen Einzel-GdB von mindestens 10 rechtfertigen, liegen bei der Klägerin nicht vor.

2.2 Die Bildung des Gesamt-GdB hat unter Berücksichtigung der Vorgaben nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen Teil A Ziffer 3 (für die Zeit bis Ende 2007 nach Ziffer 19 der AHP 2005 und 2008) stattzufinden. Bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen nach Ziffer 3a die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt-GdB un-geeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, führen nach Ziffer 3d ee nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der gesamten Beeinträchtigung, die bei einer Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte. In ihrer Gesamtheit bedingen die Funktionseinbußen der Klägerin nach diesen Grundsät-zen ab Stellung des Verschlimmerungsantrags im Oktober 2007 einen Gesamt-GdB von 50. Zu der mit einem GdB von 30 bewerteten Sehstörung sind durch die Funktionsstörungen der Wirbelsäule bei undifferenzierter Sondylarthropathie und Zustand nach Spondylodese HWK 5/6 sowie durch die Funktionseinschränkung beider Hände bei Spondylarthropathie und Zustand nach Carpaltunnelsyndrom jeweils 10 Punkte hinzuzu-fügen, so dass sich ein Gesamt-GdB von 50 ergibt. Einer Anhebung des Gesamtmaßes des Leidens steht dabei – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht Teil A Ziffer 3d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze entgegen. Nach dieser Vorschrift ist es bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GcB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Der 6. Senat des LSG NRW (Urteil vom 31.03.2009 – L 6 SB 110/08 – m.w.N.) legt diese Regelung (einengend) so aus, dass nur Leiden, die mit einem GdB von "gerade eben" 20, also einem "schwachen" GdB von 20, bewertet werden, grundsätzlich nicht in die Gesamt-GdB-Bildung einfließen. Leiden, die mit einem "mittleren" oder "hohen" GdB von 20 bewertet werden, seien hingegen geeignet, das Gesamtmaß der Beeinträchtigung zu erhöhen, wenn sie unabhängig nebeneinander und neben der Hauptbeeinträchtigung stünden oder sich untereinander oder mit dem Hauptleiden verstärkten bzw. besonders nachteilig aufeinander auswirkten. Folgt man dieser Ansicht, dann ist vorliegend bei einem GdB von 30, und zwei weiteren, tendenziell starken GdB von 20 für die Funktionseinschränkung der Hände und der Wirbelsäule auf jeden Fall ein Gesamt-GdB von 50 anzusetzen, da überschneidungen der Funktionseinbußen zur überzeugung des Sachverständigen, der Beteiligten und auch der Kammer nicht vorliegen. Gegen die einengende Auslegung von Teil A Ziffer 3 d) ee der Versorgungsmedizinischen Grundsätze durch den 6. Senat des LSG NRW spricht allerdings, dass es nach dieser Norm Funktionsstörung mit einem GdB von 20 "vielfach" nicht rechtfertigen sollen, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Legt man die Vorschrift so aus, wie es der 6. Senat des LSG NRW tut, so sind Funktionseinbußen mit einem GdB von 20 jedoch nur "ausnahmsweise" hierzu nicht geeignet; nämlich nur dann, wenn es sich um einen schwachen GdB von 20 handelt, der die anderen Leiden zudem nicht wesentlich verstärkt, oder u.U. auch noch bei einem voll erreichten GdB von 20, bei dem es jedoch zu Überschneidungen mit anderen Funktionsstörungen kommt. Vorliegend führt jedoch auch erweiternde Auslegung von Teil A Ziffer 3 d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu einem Gesamt-GdB von 50; denn die drei Funktionseinbußen der Klägerin an Augen, Händen und Wirbelsäule überschneiden sich nicht einmal teilweise. Vielmehr verstärken die Bewegungseinschränkungen der HWS die Sehprobleme der Klägerin. Diese kann den fast vollständigen Ausfall des rechten Auges nur bedingt durch Drehen des Kopfes nach rechts kompensieren. Bei den den Gesamt-GdB erhöhend berücksichtigten 20er Werten für Hände und Wirbelsäule handelt es sich zudem um starke Werte. Schließlich bestätigt auch eine Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen unter Berücksichtigung aller sozialmedizinischen Erfahrungen und ein Vergleich mit Gesundheitsschäden, zu denen in der GdB-Tabelle ein 50er-Wert angegeben ist (Teil A Ziffer 3 b Versorgungsmedizinische Grundsätze), das gefundene Ergebnis. Der Gesamtzustand der Klägerin ist vergleichbar mit demjenigen, beim dem allein aufgrund einer entzündlichen rheumatischen Erkrankung der Gelenke und/oder der Wirbelsäule (z. B. Bechterew-Krankheit) mit mittleren Auswirkungen (dauernde erhebliche Funktionseinbuße und Beschwerden, therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität) nach Teil B Ziffer 18.23 Versorgungsmedizinische Grundsätze ein GdB von zumindest 50 anzusetzen ist. Der von dem Beklagten insoweit angestellte Vergleich mit Funktionseinbußen der Wirbelsäule nach Teil B Ziffer 18.9 Versorgungsmedizinische Grundsätze verkennt, dass hier eine rheumatische Grunderkrankung mit entsprechend höherer Bewertung von Bewegungseinschränkungen und Beachtung des aus der Erkrankung resultierenden Allgemeinzustandes vorliegt. Der Gesamt-GdB von 50 wäre im Übrigen zur Überzeugung der Kammer selbst dann noch (gerade) zutreffend, wen bei der Bewertung der Sehfähigkeitseinschränkung die Beiratsbeschlüsse vom 22.10.1986 und 31.10.1989 anzuwenden sein sollten, weil hier "nur" ein aufgerundeter 30er Wert vorläge.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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