L 4 SO 328/12

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 11 SO 66/11
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 328/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 8 SO 20/13 R
Datum
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 30. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens auch in der Berufungsinstanz.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 12.210,12 Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Im Streit steht ein Erstattungsanspruch zwischen zwei Sozialhilfeträgern wegen der Kosten der stationären Betreuung in einer Facheinrichtung für wohnsitzlose Menschen in der Zeit vom 2. Juni 2010 bis 28. Februar 2011 in Höhe von 12.210,12 Euro.

Der 1955 geborene A. wurde am 2. Juni 2010 in das B-Haus in B-Stadt, eine Facheinrichtung für wohnsitzlose Menschen, stationär aufgenommen; am selben Tag erfolgte seine Anmeldung bei der Einwohnermeldebehörde der Stadt B-Stadt. Vorher hatte Herr A. von 2008 bis zum 14. April 2010 in Diez (Rheinland-Pfalz) bei seiner Freundin gewohnt und war dort mit Hauptwohnsitz gemeldet. Nach einem Streit mit seiner Freundin verließ er die Wohnung. Am 31. Mai 2010 (einem Montag) kam er nach B-Stadt und übernachtete zwei Tage in der Herberge des B-Hauses. Hierzu erklärte Herr A. in einer schriftlichen Erklärung vom 29. Oktober 2010, er habe auf einen freien Platz zur stationären Aufnahme gewartet. Er habe in B-Stadt auch unter dem Gesichtspunkt stationär aufgenommen werden wollen, weil hier die ihn behandelnden Ärzte, die er noch aus der Zeit in Diez gekannt habe, ihre Praxen hätten. In der Zeit vom 15. April bis 30. Mai 2010 habe er sich an verschiedenen Orten in Deutschland aufgehalten. Dies korrigierte Herr A. In einer späteren Erklärung vom 24. Februar 2011 dahingehend, dass er seit der Zeit vom 15. April bis 18. Mai 2010 zuerst nach England und von dort über Frankreich und Spanien nach Marokko gereist sei, um sodann nach Deutschland zurückzukehren, wo er sich am 18. Mai 2010 in Diez abgemeldet habe. Er sei dann nach Österreich gereist, um Arbeit zu finden, wozu es jedoch nicht gekommen sei.

Mit Bescheid vom 9. August 2010 übernahm der Landkreis Limburg-Weilburg als Delegationsträger des Landeswohlfahrtsverbands Hessen vorläufig die Kosten für die vollstationäre Unterbringung im B-Haus in der Zeit vom 2. Juni 2010 bis vorerst 1. Dezember 2010; diese Kostenzusage wurde später für den streitgegenständlichen Zeitraum verlängert.

Im Rahmen eines nachfolgenden Schriftverkehrs zwischen dem Landkreis Limburg-Weilburg, dem für Diez zuständigen Rhein-Lahn-Kreis und dem Beklagten blieb die Zuständigkeit für die Leistungen an Herrn A. streitig. Mit Schreiben an den Landkreis Limburg-Weilburg vom 4. Oktober 2012 und 6. Dezember 2012 lehnte der Beklagte eine Kostenerstattung ab, weil Herr A. bereits mit der Aufnahme in die Herberge des B Hauses einen gewöhnlichen Aufenthalt in B-Stadt begründet habe, weshalb er nicht zuständig sei.

Der hierüber vom Landkreis Limburg-Weilburg informierte Kläger hat am 27. Juni 2011 Klage zum Sozialgericht Kassel erhoben und vorgetragen, er habe als zuständiger Kostenträger für Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII für die Zeit vom 2. Juni 2010 bis 28. Februar 2011 für die Unterbringung des Herrn A. im B-Haus insgesamt 12.210,12 Euro aufgewandt. Hierbei handele es sich um den Betrag, den er dem Landkreis Limburg-Weilburg erstattet habe, welcher als sogenannter Delegationsnehmer für Maßnahmen nach § 67 SGB XII die Leistungen für ihn - den Kläger - als eigentlich zuständigen überörtlichen Träger erbringe. Für die vorläufig erbrachten Kosten sei der Beklagte erstattungspflichtig. Dieser sei der nach § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII für die Leistung zuständige Träger, da Herr A. in dem gesetzlich maßgeblichen Zwei-Monats-Zeitraum seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Aufnahme in die stationäre Einrichtung in B-Stadt in Diez (Rheinland-Pfalz) gehabt habe. Nach dem Verlassen dieses Ortes habe Herr A. keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr gehabt, sondern sei umhergezogen. In den zwei Tagen, die er im der Herberge des B-Hauses genächtigt habe, sei kein neuer gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden. Die in § 109 SGB XII aufgestellte Fiktion, dass der Aufenthalt in einer stationären Einrichtung nicht als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne der Zuständigkeits- und Erstattungsregelungen behandelt werde, müsse auch auf kurzfristige Zwischenzeiträume außerhalb der Einrichtungen erstreckt werden, wenn eine beabsichtigte Aufnahme nicht sofort möglich sei. Der Kläger hat die Kostenaufstellung des Landkreises Limburg-Weilburg vom 4. Mai 2011 über Sozialhilfeaufwendungen in Höhe des Klagebetrags vorgelegt.

Der Beklagte hat ausgeführt, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe nach §§ 67 ff. SGB XII und damit die sachliche Zuständigkeit stehe nicht im Streit, unterschiedliche Auffassungen bestünden nur über die örtliche Zuständigkeit. Zwar habe wohl bis zum 14. April 2010 ein gewöhnlicher Aufenthalt von Herrn A. in Diez bestanden. Herr A. habe aber mit der Aufnahme in den Herbergsbereich des B-Hauses, der nicht zum stationären Teil der Einrichtung rechne, am 30. Mai 2010 einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in B-Stadt begründet. Hierbei komme es auf die kurze Aufenthaltsdauer bis zum Übertritt in die stationäre Maßnahme nicht an, sondern maßgeblich sei, dass Herr A. in B-Stadt habe bleiben und diese Stadt zu seinem Lebensmittelpunkt habe machen wollen. Dass bereits am dritten Tag nach der Aufnahme in die Herberge ein stationärer Platz frei werden würde sei nicht vorhersehbar gewesen und stehe der Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts während der Zeit der Übernachtungen auch nicht entgegen. Ob Zwischenzeiträume als unwesentliche Zwischenaufenthalte zu bewerten seien, spiele nur bei Übertritten von einer in die andere Einrichtung eine Rolle.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. Oktober 2012 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, dem Kläger die Kosten der stationären Betreuung des Herrn A. im Zeitraum vom 2. Juni 2010 bis 28. Februar 2011 in Höhe von 12.210,12 Euro zu erstatten. Sowohl an der Notwendigkeit und dem Umfang der erbrachten Hilfe als auch an der Höhe der geltend gemachten Kosten bestünden keine Zweifel. Der Beklagte sei auch, wie der Kläger überzeugend begründet habe, der zuständige Sozialhilfeträger. Ergänzend sei anzuführen, dass sich bereits aus § 106 Abs. 2 SGB XII entnehmen lasse, dass es als Aufenthalt in einer stationären Einrichtung gelte, wenn jemand außerhalb der Einrichtung untergebracht werde, aber in ihrer Betreuung bleibe. Herr A. habe mit seiner zweimaligen Übernachtung in der Herberge ebenso wenig einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet wie mit seinen Aufenthalten im Ausland. Die Übernachtung in der Herberge sei allein von dem Ziel geprägt gewesen, stationär aufgenommen zu werden.

Gegen den am 7. November 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Beklagte am 14. November 2012 Berufung eingelegt.

Er meint, die Ausführungen des Sozialgerichts seien nicht überzeugend. Herr A. habe bereits mit der ersten Übernachtung in B-Stadt dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen begründen wollen und dies auch durch konkretes Handeln umgesetzt, insbesondere durch das Zuwarten auf das Freiwerden eines stationären Platzes, obwohl dort kein Platz frei gewesen und nicht absehbar gewesen sei, wann entsprechende Aufnahmekapazitäten vorhanden sein würden.

Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 30. Oktober 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Der Kläger hat ein Schreiben des Landkreises Limburg-Weilburg vom 3. Juni 2013 vorgelegt, mit der dieser den Kläger zur gerichtlichen Geltendmachung der streitigen Kosten bevollmächtigt hat. Der Beklagte hat verschiedene Urteile insbesondere des OVG Rheinland-Pfalz zu den Akten gereicht, durch die er sich in seiner Rechtsansicht bestätigt sieht.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakten der Beteiligten, der Gegenstand der Beratung war, Bezug genommen. Im Erörterungstermin vom 5. Juni 2013 haben sich Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet über die Berufung ohne mündliche Verhandlung, weil sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die zulässige Berufung des Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ist im Ergebnis nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat dem Kläger die - in der Höhe unstreitigen - Kosten der stationären Unterbringung des Herrn A. in Höhe von 12.210,12 Euro für die Zeit vom 2. Juni 2010 bis 28. Februar 2011 zu erstatten.

Der Kläger hat einen Kostenerstattungsanspruch nach § 106 Abs. 1 S. 1 SGB XII gegen den Beklagten. Er hat im Rahmen der vorläufigen Eintrittspflicht nach § 98 Abs. 2 S. 3 SGB XII Kosten für den stationären Aufenthalt des Hilfebedürftigen aufgewandt, die der Beklagte als sachlich und örtlich zuständiger Träger der Sozialhilfe nach § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII erstatten muss.

Die vorläufige Eintrittspflicht des Klägers folgt aus § 98 Abs. 2 S. 1 und 3 SGB XII. Herr A. hat sich in dem streitigen Zeitraum im B-Haus in B-Stadt, einer Einrichtung i. S. v. § 13 Abs. 2 SGB XII, zu einer Maßnahme nach § 67 SGB XII aufgehalten. Für Maßnahmen nach § 67 SGB XII ist grundsätzlich der überörtliche Träger der Sozialhilfe sachlich zuständig (§ 97 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII). Diese Zuständigkeit steht unter dem Vorbehalt einer abweichenden Regelung durch das Landesrecht. Im Hessischen Ausführungsgesetz zum SGB XII (HAG) ist keine abweichende Regelung getroffen worden, so dass es bei der grundsätzlichen Zuständigkeit des Klägers als überörtlichem Träger der Sozialhilfe verbleibt.

Zwar hat der Landkreis Limburg-Weilburg auf der Grundlage des sog. Delegationsbeschlusses des Verwaltungsausschusses des LWV Hessen über die Heranziehung der örtlichen Träger der Sozialhilfe zur Durchführung von Aufgaben des überörtlichen Sozialhilfeträgers vom 24. September 1993 in der Fassung vom 27. Juli 2001 als örtlicher Träger der Sozialhilfe die Hilfe praktisch durchgeführt und sieht § 1 Abs. 2 des Delegationsbeschlusses vor, dass der örtliche Träger der Sozialhilfe, der nach Satz 1 Aufgaben durchführt, auch den Kostenbeitrag, Aufwendungsersatz, Kostenersatz und den Kostenerstattungsanspruch gegen andere Sozialleistungsträger und Erstattungs- und Ersatzansprüche gegen Dritte geltend zu machen und zu bewirken und die Beiträge einzuziehen sowie die Feststellung von Sozialleistungen nach § 91 a BSHG zu betreiben hat. Diese Verwaltungsregelung kann an der gesetzlichen Zuständigkeitsverteilung aber nichts ändern, sondern hat allenfalls Bedeutung für die Prozessführungsbefugnis (so zutreffend HLSG, Urteil vom 20. März 2013, L 6 SO 168/10, Seite 7). Ob § 1 Abs. 2 des Delegationsbeschlusses eine wirksame Übertragung der Prozessführungsbefugnis auf den Landkreis Limburg-Weilburg darstellt, kann dahingestellt bleiben, denn vorliegend ist eine Rückübertragung der Prozessführungsbefugnis erfolgt. Der Kläger ist durch den Landkreis Limburg-Weilburg mit Schreiben vom 3. Juni 2013 ausdrücklich zur gerichtlichen Geltendmachung der streitigen Forderung bevollmächtigt worden.

Angesichts dessen bedarf es auch keiner Beiladung des Landkreises Limburg-Weilburg. Dieser ist durch das vorliegende Verfahren in keinem rechtlich geschützten Interesse betroffen. Seine Beteiligung am Verfahren hat sich auf die faktische Erbringung der Hilfeleistungen im Rahmen eines Delegationsverhältnisses für den Kläger erschöpft; weder war er für diese Leistungen rechtlich zuständig noch sind ihm hierdurch Kosten entstanden.

Die sachliche Zuständigkeit des Beklagten folgt aus § 97 Abs. 3 Nr. 3 SGB XII. Danach ist der überörtliche Träger der Sozialhilfe zuständig für Leistungen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach den §§ 67 bis 69 SGB XII, soweit das Landesrecht keine abweichende Bestimmung enthält. Für das Land Rheinland-Pfalz ergibt sich aus § 1 Abs. 2 i. V. m. § 3 Abs. 2 Nr. 5 des Landesgesetzes zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (AGSGB XII) vom 22. Dezember 2004 (GVBL. 2004, 571), dass der Beklagte als überörtlicher Träger der Sozialhilfe für Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten zuständig ist, wenn es erforderlich ist, die Hilfe in einer teilstationären oder stationären Einrichtung i. S. d. § 13 Abs. 2 SGB XII zu gewähren. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Mit der Unterbringung des Herrn A. im B-Haus in B-Stadt ab dem 2. Juni 2010 wurden stationäre Leistungen als Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach den §§ 67 bis 69 SGB XII erbracht. Die Erforderlichkeit dieser Maßnahme für die Wiedereingliederung des Herrn A. ergibt sich aus dem in der Akte dokumentierten Hilfeplan sowie den Sozialberichten der Einrichtung und steht zwischen den Beteiligten auch außer Streit.

Der Beklagte war auch der für die Maßnahme örtlich zuständige Sozialhilfeträger.

Nach § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII in der seit dem 1. Januar 2005 insoweit unveränderten Fassung des Gesetzes ist für die stationäre Leistung der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt haben.

Seinen "gewöhnlichen Aufenthalt" hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I). Nach der in der Rechtsprechung weithin akzeptierten Formel des BVerwG (Urteil vom 18. März 1999 - BVerwG 5 C 11.98 - juris Rdnr. 10; vom 6. Oktober 2003 - 5 B 92/03 - juris Rdnr. 5 f. - FEVS 56, 300) ist ein gewöhnlicher Aufenthalt durch einen zukunftsoffenen Verbleib bis auf weiteres sowie durch den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen an diesem Ort gekennzeichnet. Insoweit ist eine vorausschauende Betrachtung vorzunehmen (Böttiger in: jurisPK-SGB XII, § 106 SGB XII Rdnr. 37.1 m. w. N.). Entscheidend für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts sind die näheren Umstände der Unterkunft und des Aufenthalts sowie die Qualität und Quantität der am Aufenthaltsort entstandenen persönlichen Bindungen (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 21. Juni 2012 - L 8 SO 132/10 - juris Rdnr. 102; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 8. Februar 2012 - L 8 SO 1/10 - juris Rdnr. 40). Ein zeitlich unbedeutender Aufenthalt von Stunden oder Tagen reicht für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts daher regelmäßig nicht aus (Böttiger a. a. O.; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl., § 98 Rdnr. 23 m. w. N.). Allerdings kann auch bei einer kurzen Aufenthaltsdauer auf einen gewöhnlichen Aufenthalt geschlossen werden, wenn er von Vornherein auf einem bestimmten oder bestimmbaren (längerfristigen) Zeitraum angelegt war (Wahrendorf a. a. O.). Lässt sich eine Willensbildung im Hinblick auf eine Niederlassungsabsicht nicht feststellen, stellen die Dauer des Aufenthalts an einem bestimmten Ort sowie die sonstigen objektiven Merkmale, die zum Zeitpunkt des Ortswechsels vorliegen, wichtige Indizien für die Frage, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet wurde, dar (Böttiger a. a. O). Nichtsesshafte, die in mehr oder weniger regelmäßigen Zeitabständen an bestimmten Orten einen Aufenthalt einlegen, ohne dass sie einen solchen Aufenthaltsort zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen auch nur bis auf weiteres machen wollen, begründen daher keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Jedoch kann es auch bei einem Nichtsesshaften Phasen der Sesshaftigkeit geben, wenn sie den ernsten Willen haben, an einem Ort einen neuen Lebensmittelpunkt begründen zu wollen. Insoweit können Nichtsesshafte trotz des Fehlens einer festen Unterkunft einen gewöhnlichen Aufenthalt an einem Ort begründen, auch wenn die Wohnverhältnisse möglicherweise nur unzureichend sind, wie z.B. in einem Obdachlosenasyl (vgl. VG Bremen, Urteil vom 31. Mai 2011 - 5 K 2728/04 - juris Rn. 21; Böttiger a. a. O.).

Nach diesen Maßstäben hat Herr A. vor seiner Aufnahme in den stationären Bereich des B-Hauses seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb des 2-Monats-Zeitraums des § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII im Zuständigkeitsbereich des Beklagten gehabt, nämlich in Diez in Rheinland-Pfalz. Dort lebte Herr A., wie sich seiner Erklärung vom 29. Oktober 2010 entnehmen lässt, bis zum 15. April 2010 über einen längeren Zeitraum bei seiner damaligen Freundin; dort war er auch mit Hauptwohnsitz gemeldet. Diesen festen Wohnsitz verließ er nach einem Streit mit seiner Freundin und hielt sich, wie sich sowohl aus dem Schreiben des zuständigen Sozialarbeiters des B-Hauses vom 2. August 2010 als auch den schriftlichen Erklärungen des Herrn A. vom 29. Oktober 2010 und 24. Februar 2011 ergibt, in der nachfolgenden Zeit bis zum 30. Mai 2010 ohne festen Wohnsitz an verschiedenen Orten auf, wobei er offenbar zunächst zu Besuchszwecken nach England, Frankreich, Spanien und Marokko reiste, um dann nach Deutschland zurückzukehren; anschließend will Herr A. zum Zweck der Arbeitssuche noch weiter nach Österreich gereist sein, was sich allerdings nicht realisierte. Der Senat brauchte die genauen Abläufe dieser Reisen nicht näher aufzuklären, weil angesichts des dargestellten Verlaufs offensichtlich ist, dass Herr A. in der Zeit vom 15. April 2010 bis zum 30. Mai 2010 keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, sondern es sich um eine Zeit des Herumziehens ohne Niederlassungswillen gehandelt hat. Das wird insbesondere dadurch dokumentiert, dass er sich nach seiner zwischenzeitlichen Rückkehr nach Deutschland am 18. Mai 2010 in Diez beim Einwohnermeldeamt abmeldete und danach erst wieder am 2. Juni 2010 in B-Stadt anmeldete.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt des Herrn A. nicht am 31. Mai 2010 mit seiner Aufnahme in die Herberge des B-Hauses in B-Stadt begründet worden, sondern erst mit seiner stationären Aufnahme in dieser Einrichtung am 2. Juni 2010.

Zwar geht der Senat davon aus, dass Herr A. sich tatsächlich bereits am 31. Mai 2010 entschieden hatte, dauerhaft in B-Stadt zu leben. Denn er war, wie seiner schriftlichen Erklärung vom 29. Oktober 2010 zu entnehmen ist, mit dem Ziel der stationären Aufnahme in das B-Haus nach B-Stadt gekommen; diese Einrichtung war ihm, wie sich aus dem Sozialbericht der Einrichtung vom 2. Juni 2010 ergibt, bereits aus früheren Kontakten bekannt. In der Herberge des B-Hauses übernachtete er zwei Tage, weil er auf einen freien Platz in der stationären Einrichtung warten musste. Auch wenn dieser Aufenthalt kurzzeitig war, so war damit aus der Sicht des Hilfebedürftigen bereits entschieden, dass B-Stadt zum Mittelpunkt der Lebensbeziehungen werden sollte. Denn unter dem "Ort" i. S. v. § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I ist die jeweilige politische Gemeinde zu verstehen und nicht ein bestimmtes Haus oder gar eine bestimmte Wohnung (vgl. BVerwGE 42, 196, 198; BayVGH FEVS 51, 517; Urteil vom 8. Dezember 2000 - 12 B 99.2973 -, juris).

Dennoch war mit der Übernachtung in der Herberge keine Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes in B-Stadt verbunden. Denn der Aufenthalt in der Herberge war kurzzeitig und übergangsweise. Es entspricht jedoch nicht dem Sinn und Zweck von § 98 Abs. 2 S. 1 SGB XII, in solchen kurzen, übergangsweisen Aufenthalten bereits die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts zu sehen. Das folgt aus dem Rechtsgedanken des § 109 SGB XII. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Sinne des Zwölften Kapitels und des Dreizehnten Kapitels, Zweiter Abschnitt, gelten danach nicht der Aufenthalt in einer Einrichtung im Sinne von § 98 Abs. 2 SGB XII und der auf richterlich angeordneter Freiheitsentziehung beruhende Aufenthalt in einer Vollzugsanstalt. Diese Vorschrift bewirkt, dass bei der Unterbringung eines Hilfebedürftigen in einer stationären Einrichtung der für die Kostenerstattung maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt nicht der Ort der Einrichtung, sondern der vor der Aufnahme in die Einrichtung begründete gewöhnliche Aufenthaltsort des Hilfebedürftigen ist (vgl. Linhart/ Adolph, Kommentar zum SGB II/SGB XII/AsylbLG, Stand 12/2009, § 109 SGB XII Rdnr. 2; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 4. Aufl. 2012, § 109 Rdnr. 1). Im Fall des Herrn A. wird durch die Vorschrift also fingiert, dass dieser ab dem Zeitpunkt seiner stationären Aufnahme in das B-Haus am 2. Juni 2010 dort keinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist der Schutz des Einrichtungsortes, also der Schutz des örtlichen Trägers der Sozialhilfe (vgl. Linhart/Adolph a. a. O.; Grube/Wahrendorf a. a. O). Sog. Einrichtungsorte, also kommunale Gebietskörperschaften, in deren Einzugsbereich Einrichtungen von überregionaler Bedeutung liegen (sog. "Anstaltsorte" nach früherem Fürsorgerecht) sollen vor einer kostenmäßigen Überlastung durch Hilfeleistungen an Personen, die aus anderen Zuständigkeitsbereichen in solche Einrichtungen wechseln und hier ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründen, geschützt werden. Hierdurch soll unter anderem die Bereitschaft, solche Einrichtungen zu schaffen, gefördert werden. Dieser Schutz der Einrichtungen betrifft sowohl Fragen der örtlichen Zuständigkeit als auch der Kostenerstattung (Linhart/Adolph, a. a. O.).

Über diesen unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus ist § 109 SGB XII erweiternd auf erzwungene kurze Aufenthalte des Hilfebedürftigen am Ort der Einrichtung auszudehnen, die mit der beabsichtigten stationären Aufnahme in unmittelbaren Zusammenhang stehen. Bereits unter der Geltung der Vorgängerregelung des § 109 BSHG wurde in Rechtsprechung und Literatur die Auffassung vertreten, dass die vom Gesetz beabsichtigte Entlastung der Anstaltsorte unvollständig bliebe, wenn selbst kurzfristige, etwa durch den Zuzug oder den Transport bedingte Zwischenaufenthalte im räumlichen Bereich der Einrichtung oder unvorhergesehene oder unvermeidbare Verzögerungen bei der Aufnahme, die eine Übernachtung im räumlichen Bereich der Einrichtung zur Folge haben, bereits die Kostenträgerschaft des Einrichtungsortes begründen würden. Das BVerwG hat dazu bereits 1973 ausgeführt:

"Soll daher eine Entlastung der Anstaltsorte erreicht werden, so muss nicht nur die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts durch das Eintreten in die Anstalt außer Betracht bleiben, sondern auch die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts am Anstaltsort, sofern hierfür die Absicht des Eintretens in die Anstalt maßgebend ist, es sei denn - was hier aus tatsächlichen Gründen ohne Bedeutung ist -, der Aufenthalt am Anstaltsort vor Anstaltsaufnahme ist von vornherein auf nicht unerhebliche Dauer angelegt, oder es ist unsicher, wie der Wunsch nach Eintritt in eine Anstalt verwirklicht werden kann" (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 1973, BVerwGE 42, 196,198)."

Diese Rechtsprechung hat in der Folge sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Literatur Zustimmung gefunden (vgl. Hamburgisches OVG, Urteil vom 21. Juli 1989, Bf IV 48/89, juris; BayVGH, Urteil vom 29. Juli 1999, 12 B 97.3431, FEVS 51, 517 = juris Rdnr. 26 ff. m. w. N.). Für die inhaltsgleiche Bestimmung des § 109 SGB XII gibt es aus Sicht des Senats keinen Anlass hiervon abzuweichen. Das entspricht auch der einhelligen Auffassung in der Literatur (vgl. Wahrendorf, a. a. O.; Linhart/Adolph, § 109 Rdnr. 13; Schoch in LPK-SGB XII, § 109 Rdnr. 2).

Vorliegend war der Aufenthalt des Herrn A. in der Herberge des B-Hauses weder auf längere Dauer angelegt noch war seine Aufnahme in die stationäre Einrichtung unsicher. Vielmehr erfolgte der Aufenthalt in der Herberge lediglich für zwei Tage zur Überbrückung bis zur erwarteten und erkennbar absehbaren Aufnahme in die Einrichtung, denn bereits am 2. Juni 2010 wurde Herr A. dort stationär aufgenommen. Im Hinblick auf diesen sehr kurzen Zeitraum bedarf es keiner näheren Auseinandersetzung mit der Frage, welcher zeitliche Höchstumfang in solchen Fällen als unschädlich anzusehen ist (im Sinne einer 2-Wochen-Frist: BayVGH a. a. O., juris Rdnr. 31).

Soweit der Beklagte auf verschiedene Entscheidungen des OVG Rheinland-Pfalz verweist, vermögen diese an dem gefundenen Ergebnis nichts zu ändern. Sie sind bereits im Sachverhalt nicht vergleichbar und beruhen zudem auf der Auslegung von spezifischem rheinland-pfälzischem Landesrecht.

Damit verbleibt es bei der durch den vorangegangenen gewöhnlichen Aufenthalt in Diez begründeten örtlichen Zuständigkeit des Beklagten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 und 3 SGG i. V. m. § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung, die Entscheidung über den Streitwert auf §§ 47, 52 Abs. 3 GKG.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 160 Abs. 2 SGG zugelassen, da zu der maßgeblichen Rechtsfrage bisher keine Rechtsprechung des BSG vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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