Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 VG 261/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbe- scheides vom 13.11.2008 verurteilt, der Klägerin ab dem 14.12.2005 Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz nach einem GdS von 70 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außer- gerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) wegen eines Schockschadens hat.
Die am 00.00.1972 geborene Klägerin heiratete am 28.12.2000 Herrn N Q. Die Klägerin brachte drei minderjährige Kinder mit in diese Ehe ein. Dabei handelte es sich um die Töchter T (geb. 00.00.1992), T1 (geb. 00.00.1993) und D.
Ab November 2004 bis zum 12.12.2005 missbrauchte N Q in 32 Fällen seine Stieftochter T sexuell und in dem Zeitraum von August 2005 bis zum 11.12.2005 in vier Fällen auch seine Stieftochter T1.
Als die als Erzieherin tätige Klägerin am Abend des 13.12.2005 gegen 22.45 Uhr von der Arbeit nach Hause kam, ging sie wie jeden Abend durch die Zimmer ihrer Kinder und bemerkte, dass ihre Tochter T zusammen mit ihrer Tochter T1 in einem Bett schlief, wobei T einen zerknüllten Brief in der Hand hielt. Die Klägerin nahm diesen Brief an sich. Darin stand sinngemäß: "Hallo Mutti. T und ich haben es noch nie rübergebracht, aber jetzt müssen wir es endlich sagen. Ich und T werden ganz oft in unserem Bett befummelt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ekelhaft das war, scheußlich war das für uns beide. Wir haben uns unterhalten, es geht jetzt endlich herübergebracht. Wir hassen ihn ganz doll." Auf Nachfrage teilten die Töchter mit, dass sie "ihn" ihren Stiefvater N Q meinten. Darüber hinaus erzählten die Töchter der Klägerin dieser noch am gleichen Abend, dass es schon ein Jahr lang so gehe und sie desöfteren befummelt würden und vorvorgestern wäre er drinnen gewesen. Die Klägerin fragte dann nochmals bei ihrer Tochter T nach, worauf diese antwortete: "Dass, was Vati mit dir auch macht". Bei dieser Äußerung war der Klägerin klar, dass es sich hierbei um Geschlechtsverkehr handelte. Danach fragte sie noch ihre Tochter T1 und auch diese äußerte der Klägerin gegenüber, dass sie von ihrem Stiefvater immer oder desöftern gestreichelt werde und das auch an der Scheide.
Die Klägerin stellte daraufhin noch am gleichen Abend ihren Ehemann zur Rede, der nach anfänglichem Abstreiten die Taten vollumfänglich zugab. Auch bei der Polizei gab Herr N Q den sexuellen Missbrauch an seinen Töchtern uneingeschränkt zu.
Mit Urteil des Landgerichs Zwickau vom 09.06.2006 wurde Herr N Q wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 36 Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit schweren sexuellen Missbrauch von Kindern und in weiteren 28 Fällen in Tateinheit mit sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.
Die Klägerin wurde ab dem 14.12.2005 von ihrer Frauenärztin, Frau Dr. P, I, wegen einer depressiven Reaktion und einer posttraumatischen Belastungsstörung krankgeschrieben.
Von 17.01.2006 bis zum 27.02.2006 befand sich die Klägerin in einer Fachklinik für Psychotraumatologie in E. Dort wurde bei der Klägerin u.a. eine psychische Belastung (sexueller Missbrauch) diagnostiziert.
Im Mai 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen eines posttraumatischen Stressyndroms und Schlafstörungen.
Der Beklagte zog daraufhin Berichte der die Klägerin behandelnden Ärzte bei und veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch die Neurologin Frau Dr. X. Diese kam in ihrem Gutachten vom 24.08.2007 zu dem Ergebnis, die Klägerin mache einen sogenannten Schockschaden nach Offenbarung sexuellen Missbrauchs an ihren Töchtern geltend. Sie führe Schlafstörungen, Albträume, Angstzustände, depressive Symptome sowie fehlende Belastbarkeit auf dieses Ereignis zurück. Vor der Offenbarung sei es ihr gut gegangen, sie seien eine glückliche Familie gewesen. Durch den sexuellen Missbrauch an den Töchtern sei ihr eigener sexueller Missbrauch wieder lebendig geworden und würde sie quälen. Diagnostisch sei bei der Klägerin am ehesten von einer Anpassungsstörung mit schwerer depressiver Symptomatik auszugehen. Es sei der deutliche Eindruck entstanden, dass die Klägerin vor allem mit der Lebensbewältigung aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten überfordert sei und daran verzweifle. Erschwerend komme für sie hinzu, dass sie mit ihrem eigenen sexuellen Missbrauch konfrontiert worden sei und hier auch möglicherweise einige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt habe. Ein eigentlicher Schock über die Gewalttaten den Töchtern scheine gegenüber der sehr schwierigen sozialen Situation mit unzureichenden Bewältigungsstrategien nicht im Vordergrund zu stehen. Zusammengefasst sei von einem Schädigungsschaden im Sinne eines Schockschadens bei der Klägerin nicht auszugehen.
Auf der Grundlage dieses Gutachtens lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz mit Bescheid vom 07.11.2007 ab.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.2008 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 15.12.2008 Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 13.11.2008 zu verurteilen, ihr ab dem 14.12.2005 Versorgung nach dem Opfer- entschädigungsgesetz nach einem GdS von 70 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist bei seiner Auffassung geblieben, die angefochtene Verwaltungsentscheidung entspreche der Sach- und Rechtslage und sei nicht zu beanstanden.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens von der Psychiaterin Frau Dr. Q1. Auf Inhalt und Ergebnis des am 23.08.2009 erstatteten Gutachtens wird verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 07.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2008 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtswidrig.
Der Beklagte hat die Gewährung von Versorgung nach dem OEG zu Unrecht abgelehnt. Der Rechtsanspruch der Klägerin richtet sich nach § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind auch Sekundäropfer in den Schutzbereich des § 1 Abs. 1 OEG einbezogen (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R m.w.N.). Voraussetzung hierfür ist - ebenso wie bei Primäropfern - eine unmittelbare Schädigung, also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Schädiungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandsmerkmale. Bei Primäropfern ist insoweit an den das Primäropfer schädigenden Vorgang anzuknüpfen. Sie müssen demnach durch Wahrnehmung dieses Vorgangs oder eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sein. Darüber hinaus müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primärschädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zum Primäropfer fehlt. Umgekehrt muss der Mangel eines zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges zu dem das Primäropfer schädigenden Vorgang nicht schaden, wenn das Sekundäropfer eine enge personale Beziehung zum Primäropfer hat. So hat das BSG die Unmittelbarkeit aufgrund zeitlicher und örtlicher Nähe als gegeben angesehen, wenn ein Sekundäropfer Augenzeuge der Tat geworden ist. Aufgrund personaler Nähe hat das BSG die Unmittelbarkeit ebenfalls bei einem nahen Angehörigen auch dann bejaht, wenn das Sekundäropfer erst später Kenntnis von der vorsätzlichen gewaltsamen Tötung des Primäropfers erhält und dadurch eine Schädigung erfährt (BSG, a.a.O., m.w.N.).
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für die Annahme eines engen Zusammenhangs gegeben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass wegen der engen emotionalen Beziehung der Klägerin zu ihren Töchtern die erforderliche personale Nähe zu den Primäropfern gegeben ist. Einer besonderen örtlichen und zeitlichen Nähe zum Tatgeschehen bedurfte es daher nicht mehr.
Durch die Nachricht vom sexuellen Missbrauch an ihren Töchtern ist bei der Klägerin auch ein schweres psychisches Trauma eingetreten. Bei der Kenntnisnahme des sexuellen Missbrauchs an ihren Töchtern durch das Lesen des Briefes ihrer Töchter am 13.12.2005 hat es sich im konkreten Fall um eine psychische Belastung gehandelt, die bei der Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine schwere depressive Episode sowie mittelbar eine Benzodiazepinabhängigkeit verursacht hat. Dies steht nach dem Gesamtergebnis der im Verwaltungs- und im Klageverfahren durchgeführten Ermittlungen zur Überzeugung der Kammer fest. Die Kammer gründet ihre Überzeugung im Wesentlichen auf das Gutachten der Psychiaterin Frau Dr. Q1. Danach ist es mit Wahrscheinlichkeit durch die Offenbarung des sexuellen Missbrauchs an den Töchtern bei der Klägerin zu einer schweren depressiven Episode gekommen, die bis zum jetzigen Zeitpunkt anhält. Ferner kam es zum Eintritt einer Benzodiazepinabhängigkeit bei seit 2007 ärztlich verordneten Benzodiazepinpräparaten mit gescheitertem Absetzversuch. Hierfür spricht zum einen der Vortrag der Klägerin zum genauen Ablauf des Geschehens direkt nach der Kenntnisnahme mit einem deutlichen Hinweis auf ein dissoziatives Erleben, zum anderen die Krankschreibung ab dem 14.12.2005 aufgrund einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Episoden, die durch die Frauenärztin Frau Dr. P erfolgte. Anzuführen sind zwar nachfolgend als Nachschaden peristatische Belastungsfaktoren durch die Gerichtsverhandlung gegen den Ex-Mann, die Scheidung, die Namensänderung, der wiederholte Umzug sowie Wechsel der Telefonverbindungen aufgrund der wiederholten Kontaktaufnahmen des Täters trotz Kontaktsperre sowie auch nachfolgend eingetretenen zwischenzeitlich bestandenen Existenzsorgen finanzieller Art. In Bezug auf das Verhalten des Ex-Ehemannes war dieses zum Schädigungszeitpunkt für die Klägerin jedoch in keinster Weise absehbar, weshalb dieses keinen Einfluss auf das Auslösen einer schweren depressiven Symptomatik hatte. In Bezug auf die finanziellen Engpässe kam es zwischenzeitlich zu einer schädigungsunabhängigen Verschlimmerung der psychischen Beschwerdesymptomatik, wobei diese Belastung durch die Zeitberentung sowie durch den Hausverkauf wegfiel. Weiterhin als Belastungsfaktoren sind die Verhaltensauffälligkeiten der Töchter innerhalb der Familie sowie auch gegenüber dem neuen Lebenspartner der Klägerin zu werten, wobei hierdurch aber auch immer eine "Rückerinnerung" an die sexuelle Traumatisierung der Töchter bzw. auch des Sohnes erfolgt.
Die Kammer ist in Übereinstimmung mit der Sachverständigen Frau Dr. Q1 der Auffassung, dass der GdS für die bestehende schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG, Teil B 3.7, Seite 42) unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG mit 70 v.H. zu bewerten ist. Weitere Ausführungen hält die Kammer insofern für entbehrlich, da der Beklagte keine Einwendungen gegen die Höhe des von der Sachverständigen festgestellten GdS erhoben hat.
Die Kammer hat keine Bedenken, die Feststellungen der Sachverständigen Frau Dr. Q1 der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Sachverständige hat die erhobenen Befunde sehr eingehend und sorgfältig ausgewertet und widerspruchsfreie und nachvollziehbare Überlegungen zur Zusammenhangsfrage und zur Höhe des GdS angestellt. Die Einwendungen des Beklagten gegen das Gutachten von Frau Dr. Q1 greifen nicht durch. Die versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. A und Dipl-Med. T2 zeugen von einer Unkenntnis vom Akteninhalt sowie der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Begriff des "Schockschadens". Insoweit ist zunächst unzutreffend, dass es zunächst nur um ein "Befummeln" der Töchter der Klägerin gegangen sei und Einzelheiten erst nach und nach zu Tage gekommen seien. Die Töchter der Klägerin haben dieser vielmehr bereits am Abend des 13.12.2005 unmittelbar nach der Kenntnisnahme der Klägerin von dem Brief ihrer Töchter berichtet, dass es auch zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, wie sich eindeutig aus der Zeugenvernehmung der Klägerin am 14.12.2005 ergibt.
Darüber hinaus erscheint es im Hinblick auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten erforderlich, den Beklagten über die Bedeutung des Begriffs "Schock" im Rahmen der Rechtsprechung zur Sekundäropferversorgung nach dem OEG aufzuklären. Zwar hat das BSG einen Schock als eine starke seelische Erschütterung durch ein plötzlich hereinbrechendes bedrohliches Ereignis beschrieben. Unter "Schockschaden" sind auch nur solche Schäden zu verstehen, die durch einen derartigen "Schock" ausgelöst werden (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R -). Dieses setzt jedoch keinen pathophysiologischen Zusammenbruch, etwa in Form eines deutlich nach außen sichtbaren Kreislaufkollapses voraus, der einer sofortigen medizinischen Behandlung bedarf (BSG, a.a.O.). Entscheidend ist vielmehr, dass das belastende Ereignis eine seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirkt (BSG, a.a.O.). Da sich das Ausmaß innerer Vorgänge unter Umständen erst im Nachhinein feststellen lässt, kann auch eine nach außen hin zunächst weitgehend symptomlose psychische Reaktion Ausdruck einer Schädigung des Sekundäropfers sein. So bedeutet eine Latenzzeit bis zum Auftreten von Symptomen eines posttraumatischen Belastungssyndroms (als Schädigungsfolge) nicht zugleich, dass die Schädigung/der Schock als Zwischenglied der Kausalkette fehlt. Vielmehr erlauben später aufgetretene Störungen ggfs. einen Rückschluss auf den Eintritt eines entsprechend gewichtigen psychischen Traumas. Folgen psychischer Traumen können auf vielfältige Art in Erscheinung treten. Bereits die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), deren Vorgaben die Gerichte und der Beklagte als allgemeine Tatsachen zu beachten hatten, benannten solche der unterschiedlichsten Art, Ausprägung, Auswirkung und Dauer; auch zunächst symptomlose psychische Störungen oder Persönlichkeitsveränderungen. In der herrschenden medizinischen Lehre wird die Möglichkeit einer Latenzzeit von "wenigen Wochen bis zu Monaten" zwischen dem Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben (BSG, a.a.O.).
Es ist dementsprechend schlichtweg falsch, wenn Herr Dr. A in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 30.09.2009 vorträgt, die seelische Erstreaktion der Klägerin sei maßgebend bzw. Herr (Frau?) T2 einen "emotionalen Schockzustand" (z.B. Erstarren, völlige Fassungslosigkeit mit Verwirrung, psychische Erregung, hemmungsloses Weinen etc.) nach Bekanntwerden der Tat fordert. Im Gegensatz zu der Auffassung von Dr. A muss der Schweregrad des Ereignisses auch nicht vergleichbar mit einem lebensbedrohlichen Zustand sein. Zwar wurden in den AHP als Belastungen nur "Kriegsgefangenschaft, rechtsstaatswidrige Haft in der DDR" sowie "Geiselnahme, Vergewaltigung" aufgeführt; bei dieser Aufzählung handelte es sich jedoch ausdrücklich um Beispielsfälle, die den Schweregrad der psychischen Belastung zum Ausdruck bringen sollten. Eine posttraumatische Belastungsstörung wird in den ICD als eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß beschrieben, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu kann nach den herrschenden medizinischen Erkenntnissen auch die Kenntnisnahme von dem gewaltsamen Tod eines nahen Angehörigen zählen (BSG, a.a.O.). Die Kammer hat insofern keinen Zweifel daran, dass zu diesen Ereignissen auch die Kenntnisnahme von einem schweren sexuellen Missbrauch der Kinder durch den eigenen Ehemann und Stiefvater zählt. Die Sachverständige Frau Dr. Q1 hat in ihrem Gutachten insofern ausdrücklich festgestellt, dass es durch die Kenntnisnahme eines schweren sexuellen Missbrauches bzw. einer schweren Schädigung der leiblichen Kinder (schwere Verletzung, Tod) gehäuft als Folge zu der Ausbildung einer klinisch relevanten depressiven Symptomatik kommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Beklagte trägt die erstattungsfähigen außer- gerichtlichen Kosten der Klägerin.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) wegen eines Schockschadens hat.
Die am 00.00.1972 geborene Klägerin heiratete am 28.12.2000 Herrn N Q. Die Klägerin brachte drei minderjährige Kinder mit in diese Ehe ein. Dabei handelte es sich um die Töchter T (geb. 00.00.1992), T1 (geb. 00.00.1993) und D.
Ab November 2004 bis zum 12.12.2005 missbrauchte N Q in 32 Fällen seine Stieftochter T sexuell und in dem Zeitraum von August 2005 bis zum 11.12.2005 in vier Fällen auch seine Stieftochter T1.
Als die als Erzieherin tätige Klägerin am Abend des 13.12.2005 gegen 22.45 Uhr von der Arbeit nach Hause kam, ging sie wie jeden Abend durch die Zimmer ihrer Kinder und bemerkte, dass ihre Tochter T zusammen mit ihrer Tochter T1 in einem Bett schlief, wobei T einen zerknüllten Brief in der Hand hielt. Die Klägerin nahm diesen Brief an sich. Darin stand sinngemäß: "Hallo Mutti. T und ich haben es noch nie rübergebracht, aber jetzt müssen wir es endlich sagen. Ich und T werden ganz oft in unserem Bett befummelt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ekelhaft das war, scheußlich war das für uns beide. Wir haben uns unterhalten, es geht jetzt endlich herübergebracht. Wir hassen ihn ganz doll." Auf Nachfrage teilten die Töchter mit, dass sie "ihn" ihren Stiefvater N Q meinten. Darüber hinaus erzählten die Töchter der Klägerin dieser noch am gleichen Abend, dass es schon ein Jahr lang so gehe und sie desöfteren befummelt würden und vorvorgestern wäre er drinnen gewesen. Die Klägerin fragte dann nochmals bei ihrer Tochter T nach, worauf diese antwortete: "Dass, was Vati mit dir auch macht". Bei dieser Äußerung war der Klägerin klar, dass es sich hierbei um Geschlechtsverkehr handelte. Danach fragte sie noch ihre Tochter T1 und auch diese äußerte der Klägerin gegenüber, dass sie von ihrem Stiefvater immer oder desöftern gestreichelt werde und das auch an der Scheide.
Die Klägerin stellte daraufhin noch am gleichen Abend ihren Ehemann zur Rede, der nach anfänglichem Abstreiten die Taten vollumfänglich zugab. Auch bei der Polizei gab Herr N Q den sexuellen Missbrauch an seinen Töchtern uneingeschränkt zu.
Mit Urteil des Landgerichs Zwickau vom 09.06.2006 wurde Herr N Q wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 36 Fällen, davon in acht Fällen in Tateinheit mit schweren sexuellen Missbrauch von Kindern und in weiteren 28 Fällen in Tateinheit mit sexuellen Missbrauch von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.
Die Klägerin wurde ab dem 14.12.2005 von ihrer Frauenärztin, Frau Dr. P, I, wegen einer depressiven Reaktion und einer posttraumatischen Belastungsstörung krankgeschrieben.
Von 17.01.2006 bis zum 27.02.2006 befand sich die Klägerin in einer Fachklinik für Psychotraumatologie in E. Dort wurde bei der Klägerin u.a. eine psychische Belastung (sexueller Missbrauch) diagnostiziert.
Im Mai 2006 beantragte die Klägerin die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen eines posttraumatischen Stressyndroms und Schlafstörungen.
Der Beklagte zog daraufhin Berichte der die Klägerin behandelnden Ärzte bei und veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch die Neurologin Frau Dr. X. Diese kam in ihrem Gutachten vom 24.08.2007 zu dem Ergebnis, die Klägerin mache einen sogenannten Schockschaden nach Offenbarung sexuellen Missbrauchs an ihren Töchtern geltend. Sie führe Schlafstörungen, Albträume, Angstzustände, depressive Symptome sowie fehlende Belastbarkeit auf dieses Ereignis zurück. Vor der Offenbarung sei es ihr gut gegangen, sie seien eine glückliche Familie gewesen. Durch den sexuellen Missbrauch an den Töchtern sei ihr eigener sexueller Missbrauch wieder lebendig geworden und würde sie quälen. Diagnostisch sei bei der Klägerin am ehesten von einer Anpassungsstörung mit schwerer depressiver Symptomatik auszugehen. Es sei der deutliche Eindruck entstanden, dass die Klägerin vor allem mit der Lebensbewältigung aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten überfordert sei und daran verzweifle. Erschwerend komme für sie hinzu, dass sie mit ihrem eigenen sexuellen Missbrauch konfrontiert worden sei und hier auch möglicherweise einige Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt habe. Ein eigentlicher Schock über die Gewalttaten den Töchtern scheine gegenüber der sehr schwierigen sozialen Situation mit unzureichenden Bewältigungsstrategien nicht im Vordergrund zu stehen. Zusammengefasst sei von einem Schädigungsschaden im Sinne eines Schockschadens bei der Klägerin nicht auszugehen.
Auf der Grundlage dieses Gutachtens lehnte der Beklagte die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz mit Bescheid vom 07.11.2007 ab.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.2008 als unbegründet zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 15.12.2008 Klage erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 07.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 13.11.2008 zu verurteilen, ihr ab dem 14.12.2005 Versorgung nach dem Opfer- entschädigungsgesetz nach einem GdS von 70 v.H. zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er ist bei seiner Auffassung geblieben, die angefochtene Verwaltungsentscheidung entspreche der Sach- und Rechtslage und sei nicht zu beanstanden.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens von der Psychiaterin Frau Dr. Q1. Auf Inhalt und Ergebnis des am 23.08.2009 erstatteten Gutachtens wird verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 07.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.11.2008 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn dieser Bescheid ist rechtswidrig.
Der Beklagte hat die Gewährung von Versorgung nach dem OEG zu Unrecht abgelehnt. Der Rechtsanspruch der Klägerin richtet sich nach § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sind auch Sekundäropfer in den Schutzbereich des § 1 Abs. 1 OEG einbezogen (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R m.w.N.). Voraussetzung hierfür ist - ebenso wie bei Primäropfern - eine unmittelbare Schädigung, also ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Schädiungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Tatbestandsmerkmale. Bei Primäropfern ist insoweit an den das Primäropfer schädigenden Vorgang anzuknüpfen. Sie müssen demnach durch Wahrnehmung dieses Vorgangs oder eine sonstige Kenntnisnahme davon geschädigt worden sein. Darüber hinaus müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat beim Sekundäropfer bei wertender Betrachtung mit der Gewalttat so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden. Maßgebliches Kriterium für das Vorliegen eines solchen engen Zusammenhangs ist die zeitliche, örtliche und personale Nähe, wobei allerdings nicht alle Aspekte gleichermaßen vorzuliegen brauchen. Besteht eine zeitliche und örtliche Nähe zum primärschädigenden Geschehen, kann diese den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zum Primäropfer fehlt. Umgekehrt muss der Mangel eines zeitlichen und örtlichen Zusammenhanges zu dem das Primäropfer schädigenden Vorgang nicht schaden, wenn das Sekundäropfer eine enge personale Beziehung zum Primäropfer hat. So hat das BSG die Unmittelbarkeit aufgrund zeitlicher und örtlicher Nähe als gegeben angesehen, wenn ein Sekundäropfer Augenzeuge der Tat geworden ist. Aufgrund personaler Nähe hat das BSG die Unmittelbarkeit ebenfalls bei einem nahen Angehörigen auch dann bejaht, wenn das Sekundäropfer erst später Kenntnis von der vorsätzlichen gewaltsamen Tötung des Primäropfers erhält und dadurch eine Schädigung erfährt (BSG, a.a.O., m.w.N.).
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für die Annahme eines engen Zusammenhangs gegeben. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass wegen der engen emotionalen Beziehung der Klägerin zu ihren Töchtern die erforderliche personale Nähe zu den Primäropfern gegeben ist. Einer besonderen örtlichen und zeitlichen Nähe zum Tatgeschehen bedurfte es daher nicht mehr.
Durch die Nachricht vom sexuellen Missbrauch an ihren Töchtern ist bei der Klägerin auch ein schweres psychisches Trauma eingetreten. Bei der Kenntnisnahme des sexuellen Missbrauchs an ihren Töchtern durch das Lesen des Briefes ihrer Töchter am 13.12.2005 hat es sich im konkreten Fall um eine psychische Belastung gehandelt, die bei der Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine schwere depressive Episode sowie mittelbar eine Benzodiazepinabhängigkeit verursacht hat. Dies steht nach dem Gesamtergebnis der im Verwaltungs- und im Klageverfahren durchgeführten Ermittlungen zur Überzeugung der Kammer fest. Die Kammer gründet ihre Überzeugung im Wesentlichen auf das Gutachten der Psychiaterin Frau Dr. Q1. Danach ist es mit Wahrscheinlichkeit durch die Offenbarung des sexuellen Missbrauchs an den Töchtern bei der Klägerin zu einer schweren depressiven Episode gekommen, die bis zum jetzigen Zeitpunkt anhält. Ferner kam es zum Eintritt einer Benzodiazepinabhängigkeit bei seit 2007 ärztlich verordneten Benzodiazepinpräparaten mit gescheitertem Absetzversuch. Hierfür spricht zum einen der Vortrag der Klägerin zum genauen Ablauf des Geschehens direkt nach der Kenntnisnahme mit einem deutlichen Hinweis auf ein dissoziatives Erleben, zum anderen die Krankschreibung ab dem 14.12.2005 aufgrund einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Episoden, die durch die Frauenärztin Frau Dr. P erfolgte. Anzuführen sind zwar nachfolgend als Nachschaden peristatische Belastungsfaktoren durch die Gerichtsverhandlung gegen den Ex-Mann, die Scheidung, die Namensänderung, der wiederholte Umzug sowie Wechsel der Telefonverbindungen aufgrund der wiederholten Kontaktaufnahmen des Täters trotz Kontaktsperre sowie auch nachfolgend eingetretenen zwischenzeitlich bestandenen Existenzsorgen finanzieller Art. In Bezug auf das Verhalten des Ex-Ehemannes war dieses zum Schädigungszeitpunkt für die Klägerin jedoch in keinster Weise absehbar, weshalb dieses keinen Einfluss auf das Auslösen einer schweren depressiven Symptomatik hatte. In Bezug auf die finanziellen Engpässe kam es zwischenzeitlich zu einer schädigungsunabhängigen Verschlimmerung der psychischen Beschwerdesymptomatik, wobei diese Belastung durch die Zeitberentung sowie durch den Hausverkauf wegfiel. Weiterhin als Belastungsfaktoren sind die Verhaltensauffälligkeiten der Töchter innerhalb der Familie sowie auch gegenüber dem neuen Lebenspartner der Klägerin zu werten, wobei hierdurch aber auch immer eine "Rückerinnerung" an die sexuelle Traumatisierung der Töchter bzw. auch des Sohnes erfolgt.
Die Kammer ist in Übereinstimmung mit der Sachverständigen Frau Dr. Q1 der Auffassung, dass der GdS für die bestehende schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG, Teil B 3.7, Seite 42) unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG mit 70 v.H. zu bewerten ist. Weitere Ausführungen hält die Kammer insofern für entbehrlich, da der Beklagte keine Einwendungen gegen die Höhe des von der Sachverständigen festgestellten GdS erhoben hat.
Die Kammer hat keine Bedenken, die Feststellungen der Sachverständigen Frau Dr. Q1 der Entscheidung zugrunde zu legen. Die Sachverständige hat die erhobenen Befunde sehr eingehend und sorgfältig ausgewertet und widerspruchsfreie und nachvollziehbare Überlegungen zur Zusammenhangsfrage und zur Höhe des GdS angestellt. Die Einwendungen des Beklagten gegen das Gutachten von Frau Dr. Q1 greifen nicht durch. Die versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. A und Dipl-Med. T2 zeugen von einer Unkenntnis vom Akteninhalt sowie der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Begriff des "Schockschadens". Insoweit ist zunächst unzutreffend, dass es zunächst nur um ein "Befummeln" der Töchter der Klägerin gegangen sei und Einzelheiten erst nach und nach zu Tage gekommen seien. Die Töchter der Klägerin haben dieser vielmehr bereits am Abend des 13.12.2005 unmittelbar nach der Kenntnisnahme der Klägerin von dem Brief ihrer Töchter berichtet, dass es auch zum Geschlechtsverkehr gekommen ist, wie sich eindeutig aus der Zeugenvernehmung der Klägerin am 14.12.2005 ergibt.
Darüber hinaus erscheint es im Hinblick auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Beklagten erforderlich, den Beklagten über die Bedeutung des Begriffs "Schock" im Rahmen der Rechtsprechung zur Sekundäropferversorgung nach dem OEG aufzuklären. Zwar hat das BSG einen Schock als eine starke seelische Erschütterung durch ein plötzlich hereinbrechendes bedrohliches Ereignis beschrieben. Unter "Schockschaden" sind auch nur solche Schäden zu verstehen, die durch einen derartigen "Schock" ausgelöst werden (BSG, Urteil vom 12.06.2003 - B 9 VG 1/02 R -). Dieses setzt jedoch keinen pathophysiologischen Zusammenbruch, etwa in Form eines deutlich nach außen sichtbaren Kreislaufkollapses voraus, der einer sofortigen medizinischen Behandlung bedarf (BSG, a.a.O.). Entscheidend ist vielmehr, dass das belastende Ereignis eine seelische Reaktion des Sekundäropfers von einigem Gewicht bewirkt (BSG, a.a.O.). Da sich das Ausmaß innerer Vorgänge unter Umständen erst im Nachhinein feststellen lässt, kann auch eine nach außen hin zunächst weitgehend symptomlose psychische Reaktion Ausdruck einer Schädigung des Sekundäropfers sein. So bedeutet eine Latenzzeit bis zum Auftreten von Symptomen eines posttraumatischen Belastungssyndroms (als Schädigungsfolge) nicht zugleich, dass die Schädigung/der Schock als Zwischenglied der Kausalkette fehlt. Vielmehr erlauben später aufgetretene Störungen ggfs. einen Rückschluss auf den Eintritt eines entsprechend gewichtigen psychischen Traumas. Folgen psychischer Traumen können auf vielfältige Art in Erscheinung treten. Bereits die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP), deren Vorgaben die Gerichte und der Beklagte als allgemeine Tatsachen zu beachten hatten, benannten solche der unterschiedlichsten Art, Ausprägung, Auswirkung und Dauer; auch zunächst symptomlose psychische Störungen oder Persönlichkeitsveränderungen. In der herrschenden medizinischen Lehre wird die Möglichkeit einer Latenzzeit von "wenigen Wochen bis zu Monaten" zwischen dem Trauma und dem Ausbruch der psychischen Erkrankung beschrieben (BSG, a.a.O.).
Es ist dementsprechend schlichtweg falsch, wenn Herr Dr. A in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 30.09.2009 vorträgt, die seelische Erstreaktion der Klägerin sei maßgebend bzw. Herr (Frau?) T2 einen "emotionalen Schockzustand" (z.B. Erstarren, völlige Fassungslosigkeit mit Verwirrung, psychische Erregung, hemmungsloses Weinen etc.) nach Bekanntwerden der Tat fordert. Im Gegensatz zu der Auffassung von Dr. A muss der Schweregrad des Ereignisses auch nicht vergleichbar mit einem lebensbedrohlichen Zustand sein. Zwar wurden in den AHP als Belastungen nur "Kriegsgefangenschaft, rechtsstaatswidrige Haft in der DDR" sowie "Geiselnahme, Vergewaltigung" aufgeführt; bei dieser Aufzählung handelte es sich jedoch ausdrücklich um Beispielsfälle, die den Schweregrad der psychischen Belastung zum Ausdruck bringen sollten. Eine posttraumatische Belastungsstörung wird in den ICD als eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß beschrieben, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu kann nach den herrschenden medizinischen Erkenntnissen auch die Kenntnisnahme von dem gewaltsamen Tod eines nahen Angehörigen zählen (BSG, a.a.O.). Die Kammer hat insofern keinen Zweifel daran, dass zu diesen Ereignissen auch die Kenntnisnahme von einem schweren sexuellen Missbrauch der Kinder durch den eigenen Ehemann und Stiefvater zählt. Die Sachverständige Frau Dr. Q1 hat in ihrem Gutachten insofern ausdrücklich festgestellt, dass es durch die Kenntnisnahme eines schweren sexuellen Missbrauches bzw. einer schweren Schädigung der leiblichen Kinder (schwere Verletzung, Tod) gehäuft als Folge zu der Ausbildung einer klinisch relevanten depressiven Symptomatik kommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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