L 5 R 165/15

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 109/14
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 165/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Vorversicherungszeit für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente bedarf es unter anderem dann nicht, wenn der Versicherte wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden ist. Das ist bereits dann der Fall, wenn der Arbeitsunfall wesentliche Bedingung für den Eintritt der Erwerbsminderung ist.

2. Hat der Rentenversicherungsträger im Verwaltungsverfahren keine Prognose getroffen, ob die Behebung der rentenberechtigenden Leistungsminderung unwahrscheinlich ist, ist diese Prognose durch das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung anhand einer vorausschauenden Betrachtung aller bis dahin gewonnenen Erkenntnisse (ex-post) zu treffen.
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 17. März 2015 sowie der Bescheid der Beklagten vom 17. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2014 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unbefristet Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Mai 2013 zu gewähren.

I. Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten für beide Instanzen zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1962 geborene Kläger ist gelernter Friseur (1. August 1978 bis 31. August 1981), der zunächst in seinem Ausbildungsberuf beschäftigt war. Vom 18. Januar 1993 bis 13. Januar 1995 erlernte der Kläger dann den Beruf des Altenpflegers, den er vom 1. Januar 1996 bis 30. November 1997 ausübte. Anschließend war der Kläger vom 1. Juni 1999 bis 15. April 2000, 1. Dezember 2000 bis 26. Juni 2001 und 15. Juli 2002 bis 28. Februar 2005 erneut als Friseur beschäftigt sowie vom 1. August 2006 bis 31. Januar 2013 als selbständiger Friseur tätig.

Während seiner Tätigkeit als Altenpfleger erlitt der Kläger am 7. November 1997 einen Arbeitsunfall, der nachfolgend von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) mit Bescheid vom 3. November 1998 als solcher ebenso anerkannt wurde wie bestimmte Unfallfolgen (Restbeschwerden mit dem Erfordernis weiterer Behandlungsbedürftigkeit nach Verstauchung des rechten oberen Sprunggelenks mit nachfolgender Venenthrombose in der rechten Wade; Lungenembolie). Mit weiterem Bescheid vom 6. August 2008 gewährte die BGW dem Kläger ab 1. Januar 2001 Rente auf unbestimmte Zeit wegen der Folgen dieses Arbeitsunfalles, die sie nunmehr wie folgt anerkannte: Rechtsherzbelastung mit Vergrößerung und Wanddickenzunahme der Herzkammer, Herzrhythmusstörungen (Vorhofflimmern, Vorhofflattern), Herzklappenfehler (Triskupidalinsuffizienz) mit leichter Druckerhöhung im Lungenkreislauf, restriktive Ventilationsstörung (Belastungsluftnot), Varikosis (Krampfaderleiden) und Schwellneigung am rechten Unterschenkel nach Verstauchung des rechten oberen Sprunggelenks mit nachfolgender tiefer Beinvenenthrombose sowie Lungenembolie.

Mit seinem am 3. Juni 2013 bei der Beklagten gestellten Rentenantrag machte der Kläger geltend, seit ca. sechs Jahren erwerbsgemindert zu sein wegen eines offenen Beines, Rückenschmerzen, körperlich kompletter Einschränkung, Vergesslichkeit, den Folgen des Arbeitsunfalles und eines Verdachtes auf Schlaganfall als weiterer Unfallfolge.

Daraufhin ließ die Beklagte den Kläger am 5. August 2013 ambulant von dem Internisten C. untersuchen, der in seinem ärztlichen Gutachten vom 7. August 2013 in der Reihenfolge ihrer Auswirkung auf die Leistungsfähigkeit folgende Diagnosen stellte:

1. Ausgeprägte chronisch venöse Insuffizienz mit Ulcus cruris-Bildung links und chronisch postthrombotischem Syndrom rechts
2. Nicht ischämische Kardiomyopathie mit Herzinsuffizienz
3. Bluthochdruck
4. Operierte, massive Lungenembolie 1997 mit Verdacht auf sekundärer pulmonaler Hypertonie, Schlafapnoe-Syndrom, Verdacht auf fokale Epilepsie, Lendenwirbelsäulenverschleißleiden, Polyarthrose, Adipositas.

Damit könne der Kläger seit dem 22. April 2013 (Ausstellung des hautärztliches Attests) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur noch unter drei Stunden arbeitstäglich erwerbstätig sein. Eine Besserung des Gesundheitszustandes sei nicht unwahrscheinlich, wobei die Leistungsminderung voraussichtlich bis zum 31. August 2015 dauere. Angaben darüber, ob die Gesundheitsschäden bzw. Leistungsminderung (vermutlich) verursacht worden sei durch einen Arbeitsunfall, eine Berufskrankheit, eine Wehrdienstbeschädigung oder durch Fremdverschulden, machte der Gutachter nicht.

Mit Bescheid vom 17. September 2013 lehnte die Beklagte den Rentenantrag des Klägers ab. Zwar sei der Kläger seit dem 22. April 2013 befristet voll erwerbsgemindert, er erfülle aber nicht die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Im maßgeblichen, verlängerten Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis 21. April 2013 seien nur elf Monate mit Pflichtbeiträgen sowie die Zeit vom 1. Januar 1984 bis 31. März 2013 nicht durchgängig mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt. Die Erwerbsminderung des Klägers sei auch nicht durch einen Arbeitsunfall eingetreten.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schriftsatz vom 27. September 2013 Widerspruch, den er im Wesentlichen damit begründete, von der Beklagten falsch beraten worden zu sein.

Durch Widerspruchsbescheid vom 29. April 2014 wies die Beklagte diesen Widerspruch im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente nicht erfüllt seien und die Wartezeitfiktion im Falle des Klägers keine Anwendung finden würde. Auch mit Blick auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könne dem Kläger keine Rente gewährt werden. Eine unsachgemäße oder unvollständige Beratung, durch die ihm ein Schaden entstanden sei, könne nicht festgestellt werden. Sie habe den Kläger mehrfach darüber aufgeklärt, dass eine Rente nur gezahlt werden könne, wenn vor Eintritt der Erwerbsminderung neben der Wartezeit auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien. Über die Aufrechterhaltung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente sei der Kläger ebenfalls von ihr aufgeklärt worden. Außerdem habe sie ihn wiederholt darauf hingewiesen, dass ihm weitere Auskünfte und Erläuterungen im Rahmen eines persönlichen Beratungsgesprächs erteilt werden könnten. Mit einem entsprechenden Beratungsersuchen habe sich der Kläger allerdings nicht an sie gewandt.

Am 27. Mai 2014 erhob der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Düsseldorf, das den Rechtsstreit durch Beschluss vom 20. Juni 2014 an das Sozialgericht Marburg verwies (Az.: S 5 R 1114/14).

Zur Begründung trug der Kläger vor, von der Beklagten nicht über einen möglichen Wegfall bereits erworbener Ansprüche informiert bzw. beraten worden zu sein. Bei entsprechender Beratung hätte er sich als selbständiger Friseur nicht von der Versicherungspflicht befreien lassen und weiterhin Pflichtbeiträge gezahlt.

Die Beklagte teilte mit, dass die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig bei einem fiktiven Eintritt des Leistungsfalles der Erwerbsminderung am 31. Juli 2010 erfüllt seien.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts zog das Sozialgericht die bei dem Versorgungsamt Kassel geführte Schwerbehindertenakte des Klägers, die hausärztlichen Krankenunterlagen des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. med. D., die beim Jobcenter ME-aktiv B-Stadt geführte Leistungsakte des Klägers sowie die Akte der BGW betreffend seinen Arbeitsunfall vom 7. November 1997 bei.

Mit Urteil vom 17. März 2015 wies das Sozialgericht sodann die Klage ab, weil der Kläger die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht mehr erfülle. In den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung am 22. April 2013 seien keine drei Jahre, sondern lediglich elf Monate mit Pflichtbeiträgen belegt. Der Kläger sei im Schreiben der Beklagten vom 16. September 2010 darauf hingewiesen worden, dass er wegen Ausübung einer geringfügigen selbständigen Tätigkeit versicherungsfrei sei, er deshalb keine Pflichtbeiträge zahle und zu prüfen sei, ob er weiterhin versicherungsfrei bleibe. Ihrer Bitte, einen entsprechenden Vordruck auszufüllen, sei der Kläger ausweislich der Rentenakte nicht nachgekommen. Allein dieses Schreiben hätte den Kläger veranlassen müssen, schon aus Eigeninteresse seinen Versicherungsstatus in der gesetzlichen Rentenversicherung gemeinsam mit der Beklagten genau zu prüfen. Der Beklagten könne nicht vorgeworfen werden, den Kläger nicht ausführlich genug über die rentenrelevante Angelegenheit informiert zu haben.

Gegen das ihm am 20. April 2015 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. Mai 2015 Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.

Während des Berufungsverfahrens hat der Kläger am 5. August 2015 bei der Beklagten formlos einen Antrag auf "Weiterbewilligung" der Rente gestellt. Hierüber hat die Beklagte bislang nicht entschieden, jedoch dem Landkreis Waldeck-Frankenberg - Der Kreisausschuss - als zuständigem Sozialhilfeträger mit Schreiben vom 25. Juli 2016 mitgeteilt, dass der Kläger nunmehr über den 31. August 2015 hinaus dauerhaft voll erwerbsgemindert sei. Dem war eine ambulante Untersuchung des Klägers am 23. Mai 2016 in der ärztlichen Untersuchungsstelle der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Hessen in Marburg durch Dipl. med. E. - Fachärztin für Innere Medizin/Sozialmedizin - vorausgegangen (Rentengutachten vom 25. Juni 2016).

Zur Begründung seiner Berufung macht der Kläger weiterhin den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch aufgrund fehlerhafter bzw. unvollständiger Beratung geltend. Ein Schreiben der Beklagten vom 16. September 2010 liege ihm nicht vor. Ihm sei nicht bekannt gewesen, dass aufgrund der Nichtzahlung von Beiträgen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente im Leistungsfall nicht mehr vorliegen würden. Im Übrigen habe er in den Jahren 2008 bis 2012 eine versicherungspflichtige Tätigkeit ausgeübt. Hierzu legt der Kläger noch diverse Unterlagen vor.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 17. März 2015 sowie den Bescheid vom 17. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2014 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Mai 2013 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung, indem sie nochmals ausführlich darlegt, den Kläger zu keinem Zeitpunkt fehlerhaft oder unvollständig beraten zu haben, zumal er trotz mehrfacher Hinweise nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht habe, sich persönlich beraten zu lassen. Wegen der Ausübung seiner geringfügigen selbständigen Tätigkeit als Friseur sei der Kläger damals kraft Gesetzes versicherungsfrei gewesen. Die nunmehr vorgelegten Unterlagen bestätigten, dass der Kläger damals nur geringfügig tätig gewesen sei.

Am 21. Juli 2017 hat der Berichterstatter mit den Beteiligten den Sach- und Streitstand erörtert, insbesondere auch den Inhalt der beiden ärztlichen Stellungnahmen von Dr. F. vom 7. März 2014 und 8. April 2014, die sich ursprünglich nicht in der vorgelegten Rentenakte befanden, sondern von der Beklagtenvertreterin erst auf ausdrückliche gerichtliche Anforderung im Erörterungstermin vorgelegt worden sind.

Der im Termin ausgesprochenen Empfehlung des Berichterstatters, einen Rentenanspruch des Klägers anzuerkennen, ist die Beklagte mit Schreiben vom 31. August 2017 entgegengetreten. Im Falle des Klägers sei die Erfüllung der Vorversicherungszeit nicht entbehrlich, weil eine Kausalität zwischen Erwerbsminderung und Arbeitsunfall nicht erwiesen sei. Der Arbeitsunfall des Klägers im Jahr 1997 habe lediglich zur Arbeitsunfähigkeit geführt, nicht jedoch ein aufgehobenes Leistungsvermögen begründet. Infolge dieses Arbeitsunfalls habe der Kläger zwar seine Beschäftigung als Altenpfleger aufgeben müssen, sei allerdings ab 1. Juni 1999 wieder als Friseur beschäftigt gewesen und habe in den Jahren 2006 bis 2012 sogar als selbständiger Friseur gearbeitet. Gegen die Annahme eines Kausalzusammenhangs spreche außerdem, dass die BGW zunächst lediglich eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von weniger als 40 v.H., ab 6. Juni 2002 eine MdE von 40 v.H. und ab 5. November 2007 dann eine MdE von 50 v.H. anerkannt habe sowie schließlich der Umstand, dass zwischen dem Arbeitsunfall und dem Eintritt des Leistungsfalles der Erwerbsminderung ein Zeitraum von mehr als 15 Jahren liegen würde.

Die Beteiligten haben übereinstimmend ihr Einverständnis mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten sowie zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Rentenakte des Klägers Bezug genommen. Deren Inhalt war Gegenstand der Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte Berufung (§§ 143, 144 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte (§ 153 Abs. 1 i. V. m. § 124 Abs. 2 SGG), ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 Abs. 1 SGG).

Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 17. März 2015 kann keinen Bestand haben und ist aufzuheben. Die weiteren Sachverhaltsermittlungen im Berufungsverfahren haben ergeben, dass der Kläger einen Anspruch auf Gewährung einer unbefristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Mai 2013 hat. Der dies ablehnende Bescheid der Beklagten vom 17. September 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 2014 (§ 95 SGG) ist rechtswidrig und beschwert den Kläger im Sinne von § 54 Abs. 2 SGG.

Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI). Nach dieser Vorschrift haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze einen Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind,

2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und

3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI demgegenüber Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch

1. Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und

2. Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit einer nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Erwerbsgemindert ist der Vorschrift des § 43 Abs. 3 SGB VI zufolge nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der für den Nachweis der sogenannten Vorversicherungszeit im Sinne des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI maßgebliche Fünfjahreszeitraum verlängert sich gemäß § 43 Abs. 4 SGB VI und § 241 Abs. 1 SGB VI um die im Gesetz im Einzelnen aufgeführten sogenannten Aufschubzeiten (insbesondere Anrechnungszeiten und Ersatzzeiten). Gemäß § 43 Abs. 5 SGB VI ist in bestimmten Fällen eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren nicht erforderlich. Nach der Sonderregelung des § 241 Abs. 2 Satz 1 SGB VI sind Pflichtbeitragszeiten vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit außerdem nicht erforderlich für Versicherte, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit mit den im Gesetz im Einzelnen aufgeführten sog. Anwartschaftserhaltungszeiten (insbesondere Beitragszeiten, beitragsfreien Zeiten, Berücksichtigungszeiten oder Rentenbezugszeiten) belegt ist oder wenn die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1984 eingetreten ist. Für Kalendermonate, für die eine Beitragszahlung noch zulässig ist, bedarf es gemäß § 241 Abs. 2 Satz 2 SGB VI keiner Belegung mit Anwartschaftserhaltungszeiten.

Diesen gesetzlichen Bestimmungen zufolge hat der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Zur Überzeugung des Senats ist der Kläger voll erwerbsgemindert. Das ergibt sich aus dem im Rentenverfahren von dem Internisten C. erstellten ärztlichen Gutachten vom 7. August 2013, wonach seit dem 22. April 2013 das Leistungsvermögen des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter drei Stunden arbeitstäglich herabgesunken ist. Auch Dipl. med. E. ist in ihrem Rentengutachten vom 25. Juni 2016 zu der Einschätzung gelangt, dass das zeitliche Leistungsvermögen des Klägers aufgehoben ist. Dies ist daher zwischen den Beteiligten ebenso unstreitig wie die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI).

Dem Rentenanspruch des Klägers steht schließlich ebenfalls nicht entgegen, dass ausgehend von einem am 22. April 2013 eingetretenen Leistungsfall in dem dann maßgeblichen, wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld II vom 1. Februar 2013 bis 30. April 2013 nach § 43 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VI um drei Monate verlängerten Vorbelegungszeitraum vom 1. Januar 2008 bis 21. April 2013 lediglich elf Monate mit Pflichtbeiträgen belegt sind. Denn der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nach § 43 Abs. 5 SGB VI. Danach ist eine Pflichtbeitragszeit von drei Jahren für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht erforderlich, wenn die Erwerbsminderung aufgrund eines Tatbestandes eingetreten ist, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt ist. Insofern verweist diese Vorschrift auf § 53 SGB VI, wonach die allgemeine Wartezeit aufgrund verschiedener Tatbestände vorzeitig erfüllt sein kann, von denen vorliegend allein § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI in Betracht kommt. Hiernach ist die allgemeine Wartezeit unter anderem dann vorzeitig erfüllt, wenn Versicherte wegen eines Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden sind. Die in § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB VI genannten weiteren versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die vorzeitige Wartezeiterfüllung gelten indessen im Rahmen von § 43 Abs. 5 SGB VI nicht, da dieser nur auf die Verwirklichung eines in § 53 SGB VI genannten Tatbestands, nicht aber auf die weiteren versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in dieser Vorschrift verweist (vgl. BSG, Urteil vom 8. Dezember 2005, B 13 RJ 40/04 R = SozR 4-2600 § 43 Nr. 6).

Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI sind im Falle des Klägers gegeben. Dass er am 7. November 1997 während seiner Tätigkeit als Altenpfleger einen Arbeitsunfall im Sinne von § 8 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII) erlitten hatte, kann in Anbetracht der in der beigezogenen Unfallakte vorhandenen medizinischen Unterlagen, ärztlichen Gutachten und vor allem auch mit Blick auf den Bescheid der BGW vom 3. November 1998 nicht ernsthaft bezweifelt werden. Anhaltspunkte, die jene Entscheidung der BGW als fehlerhaft erscheinen lassen und deshalb Anlass geben könnten, im hiesigen Verfahren insoweit den Sachverhalt weiter zu ermitteln, sind für den Senat nicht ersichtlich. Auch zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen eines Arbeitsunfalls nicht umstritten.

Streitig ist zwischen ihnen nur, ob der Kläger wegen dieses Arbeitsunfalls vermindert erwerbsfähig geworden ist. Diese Frage ist im Sinne des Klagebegehrens zu beantworten.

Aus der Formulierung "wegen" in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB VI folgt, dass die verminderte Erwerbsfähigkeit des Versicherten ursächlich auf dem schädigenden Tatbestand beruhen muss. Der insoweit erforderliche Kausalzusammenhang ist auch im Rentenversicherungsrecht nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilen (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 1974, 5 RKn 38/73 = SozR 2600 § 45 Nr. 6; BSG, Urteil vom 3. Oktober 1979, 1 RA 77/78 = SozR 2200 § 1251 Nr. 69; BSG, Urteil vom 18. Dezember 1986, 4a RJ 9/86 = BSGE 61, 113; BSG, Urteil vom 25. Februar 1992, 5 RJ 34/91 - juris). Danach ist diejenige Bedingung als ursächlich anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Bedingungen wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 1982, 5a RKnU 3/82 = BSGE 54, 184). Abzustellen ist dabei auf die wesentliche Ursache im jeweiligen Einzelfall. Es genügt hierbei die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteil vom 16. Februar 1971, 1 RA 113/70 = BSGE 32, 203). Eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ist hingegen nicht erforderlich (vgl. Gürtner, in: Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 96. Erg.-Lfg. 2017, § 53 SGB VI Rdnr. 5).

Zur Überzeugung des Senats beruht die verminderte Erwerbsfähigkeit des Klägers im Sinne einer wesentlichen Bedingung auf dem Arbeitsunfall, der sich am 7. November 1997 ereignet hatte. Das ergibt sich aus einer Gesamtschau der vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten, insbesondere aus der Stellungnahme des eigenen Beratungsarztes der Beklagten, Dr. F., vom 7. März 2014, der nach nochmaliger Prüfung sämtlicher bisher vorliegenden medizinischen Unterlagen einschließlich des Rentengutachtens vom 7. August 2013 zu der medizinischen Einschätzung gelangte, dass der Kläger aufgrund des Arbeitsunfalls vom 7. November 1997 in nicht unerheblichem Maße in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt ist. Insofern ist die von der Beklagten festgestellte Erwerbsminderung zu einem überwiegenden Teil aufgrund dieses Arbeitsunfalls eingetreten, so dass hier ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Dass allein wegen der unfallbedingten Folgeerkrankungen (Postthrombotisches Syndrom/Ulcus cruris) die Feststellung einer Leistungsfähigkeit von unter drei Stunden arbeitstäglich nicht begründet gewesen wäre, sondern das quantitativ eingeschränkte Leistungsvermögen letztlich aus einem Zusammenspiel unfallbedingter Folgeerscheinungen und unfallunabhängiger Erkrankungen (nicht ischämische Kardiomyopathie mit Herzinsuffizienz, Übergewicht, degeneratives Lendenwirbelsäulensyndrom und Polyarthrose) resultiert, wie der Beratungsarzt Dr. F. in seiner nachfolgenden Stellungnahme vom 8. April 2014 weiter meint, vermag daran nichts zu ändern. Denn auch mehrere Umstände können durchaus zum Eintritt eines Erfolges beigetragen (sog. konkurrierende Kausalität). Es können dann beide Ursachen als wesentlich angesehen werden, auch wenn sie nicht annährend gleichwertig sind. Nur wenn einer Ursache gegenüber einer anderen eine überragende Bedeutung zukommt, ist allein die erstgenannte Ursache wesentlich und damit kausal im Sinne des Sozialrechts (vgl. Heidemann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 53 SGB VI Rdnr. 47). Das trifft vorliegend auf die unfallunabhängigen Erkrankungen des Klägers aber offenkundig nicht zu, wie bereits dem Rentengutachten vom 7. August 2013 zu entnehmen ist. Denn dort ist die ausgeprägte chronisch venöse Insuffizienz mit Ulcus cruris-Bildung links und chronisch postthrombotischen Syndrom, also die unfallbedingten Folgeerkrankungen, als erste und damit gerade als diejenige Diagnose aufgeführt, die sich am meisten auf die Leistungsfähigkeit des Klägers auswirkt. Vor diesem Hintergrund kann sicherlich keine Rede davon sein, dass im Falle des Klägers den unfallunabhängigen Erkrankungen eine überragende Bedeutung für seine Leistungsfähigkeit zukommt. Gestützt wird diese Einschätzung im Übrigen auch durch das Rentengutachten von Dipl. med. E. vom 25. Juni 2016, aus dem ebenfalls eindeutig hervorgeht, dass die Leistungsminderung des Klägers (vermutlich) durch einen Arbeitsunfall verursacht ist.

Die hiergegen von der Beklagten erhobenen Einwände greifen allesamt nicht durch. Die Beklagte stellt erkennbar zu hohe Anforderungen an die Feststellung der Kausalität zwischen Arbeitsunfall und Leistungsminderung, indem sie diese für nicht erwiesen hält. Auf den Vollbeweis im Sinne einer mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit kommt es jedoch in diesem Zusammenhang gerade nicht an. Darüber hinaus verfangen auch ihre Hinweise nicht, dass der Kläger nach seinem Arbeitsunfall ab 1. Juni 1999 zunächst wieder als Frisör gearbeitet habe und der Leistungsfall der Erwerbsminderung erst mehr als 15 Jahre später eingetreten sei. Denn § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI verlangt einen ursächlichen (inneren), nicht aber unbedingt zeitlichen Zusammenhang (vgl. Fichte, in: Hauck/Noftz, SGB, 1/08, § 53 SGB VI Rdnr. 24). Schließlich kann der Beklagten auch nicht dahingehend gefolgt werden, dass die (geringe) MdE-Anerkennung durch die BGW gegen die Annahme einer Kausalität zwischen Arbeitsunfall und Erwerbsminderung spreche. Denn aus der Höhe der MdE können von vornherein keine (zwingenden) Rückschlüsse auf das Vorliegen von Erwerbsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung gezogen werden (vgl. U. Freudenberg, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 43 SGB VI Rdnr. 28).

Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist dem Kläger unbefristet ab 1. Mai 2013 zu leisten.

Die Erwerbsminderungsrente des Klägers ist nicht nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI zu befristen. Diese Vorschrift bestimmt, dass unter anderem Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet werden, wobei gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Befristung für längstens drei Jahre nach Rentenbeginn erfolgt. Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, werden nur dann unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen (§ 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI). Solange die therapeutischen Behandlungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft sind, ist die Behebung einer rentenberechtigenden Leistungsminderung nicht unwahrscheinlich (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2005, B 13 RJ 31/05 R = SozR 4-2600 § 102 Nr. 2).

Daran gemessen ist dem Kläger unbefristet Rente wegen voller Erwerbsminderung zu leisten, weil es unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Das ergibt sich aus dem ärztlichen Gutachten der Dipl. med. E. vom 25. Juni 2016, die in diesem Zusammenhang festgehalten hat, dass eine Besserung seines Gesundheitszustandes unwahrscheinlich ist. Diese Annahme ist für den Senat aufgrund der in der Epikrise eindrucksvoll beschriebenen Multimorbidität des Klägers und des bisherigen Krankheitsverlaufs in jeder Hinsicht einleuchtend und plausibel. Selbst die Beklagte geht mittlerweile davon aus, dass der Kläger unbefristet voll erwerbsgemindert ist. Dass sie in ihrem Bescheid vom 17. September 2013 auf der Grundlage des ärztlichen Gutachtens vom 7. August 2013 noch von einer nur befristeten vollen Erwerbsminderung des Klägers ausgegangen war, ist dabei ohne Belang. Zwar ist die Frage, ob die Behebung im Sinne von § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI unwahrscheinlich ist, zum Zeitpunkt der Bewilligung prognostisch zu beurteilen und unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff einer umfassenden gerichtlichen Nachprüfung (vgl. Schmidt, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl. 2013, § 102 SGB VI Rdnr. 7 m.w.N.), wobei allerdings eine ursprünglich zutreffende Prognose durch einen später anderen als angenommenen Geschehensablauf nicht unbeachtlich wird. Vorliegend fehlt es indessen an einer Prognoseentscheidung der Beklagten, die gerichtlich nachprüfbar wäre. Denn die Beklagte hatte dem Kläger keine nur befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt und damit eine verbindliche Regelung über die Rentendauer gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI getroffen, sondern hatte seinen Rentenantrag abgelehnt, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI nicht erfüllt waren. Vor diesem Hintergrund ist vorliegend erstmals im Berufungsverfahren eine Prognose nach § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI zu treffen, und zwar im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung anhand einer vorausschauenden Betrachtung aller bis dahin gewonnenen Erkenntnisse. Hierzu zählen insbesondere auch die im Rentengutachten der Dipl. med. E. vom 25. Juni 2016 enthaltenen Feststellungen und Beurteilungen.

Gemäß § 99 Abs. 1 Satz 1 SGB VI werden Renten aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, zu dessen Beginn die Anspruchsvoraussetzungen für die Rente erfüllt sind, wenn die Rente bis zum Ende des dritten Kalendermonats nach Ablauf des Monats beantragt wird, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind. Bei späterer Antragstellung wird eine Rente aus eigener Versicherung von dem Kalendermonat an geleistet, in dem die Rente beantragt wird (§ 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). In Anbetracht der Rentenantragstellung am 3. Juni 2013 und dem am 22. April 2013 eingetretenen Leistungsfall ist dem Kläger die Rente somit ab 1. Mai 2013 zu leisten.

Nach alledem konnte die Berufung des Klägers nicht ohne Erfolg bleiben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
Saved