L 11 U 820/02

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 13 U 644/98
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 11 U 820/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 5/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 6. Mai 2002 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die beim Kläger vorliegende Polyneuropathie als Berufskrankheit anzuerkennen und zu entschädigen ist.

Der im Jahr 1946 geborene Kläger übte seit April 1960 den Beruf des Malers und Anstreichers aus; seit 1971 arbeitete er nach Ablegung der Meisterprüfung als selbstständiger Malermeister im eigenen Betrieb. Nach den vom Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten getroffenen Feststellungen (Stellungnahme vom 20. Juni 1995) war der Kläger von 1960 bis 1964 durch Bleifarben, lösemittelhaltige Abbeizer und Holzschutzmittel hoch belastet. Seit 1971 war er danach der normalen Belastung eines Malers ausgesetzt gewesen.

Unter dem 12. Dezember 1994 erstattete der Nervenarzt Dr. C. eine Anzeige über eine Berufskrankheit. Beim Kläger liege eine Muskelschädigung, Polyneuropathie, schwere Leistungs- und Wesensänderung bei dringendem Verdacht auf Entstehung durch toxische Arbeitsstoffe, insbesondere Blei und Lösungsmittel, vor. Die Beklagte zog daraufhin einen Bericht des Kreiskrankenhauses Wetzlar vom 4. September 1995, wo sich der Kläger vom 29. Juli bis zum 7. August 1985 in stationärer Behandlung befand, bei. Dort wurde im Rahmen einer neurologischen Konsil-Untersuchung u. a. eine allenfalls diskrete initiale diabetische Polyneuropathie diagnostiziert. Der Nervenarzt Dr. D. führte als vom Sozialgericht Wiesbaden (SG) im Rahmen eines Rentenstreitverfahrens beauftragter Sachverständiger aus, dass beim Kläger auf neuro-psychiatrischem Gebiet eine anhaltend somatoforme Schmerzstörung bei Zustand nach zweimaliger Bandscheibenoperation sowie eine cervikale Wurzelirritation bestehe. In neurologischer Hinsicht hätten sich Hinweise auf ein Lendenwirbelsyndrom gefunden, das sich durch die vom Kläger geklagten Sensibilitätsstörungen, Schmerzen und Taubheitsgefühl sowie einer leichten Zehenheberschwäche manifestiere. Zu der von Dr. C. diagnostizierten Polyneuropathie bei dringendem Verdacht auf Entstehung durch toxische Arbeitsstoffe führte Dr. D. in seiner Stellungnahme vom 15. Juli 1994 aus, dass der hiesige neurologische Befund im Wesentlichen mit den Befunden in den Akten übereinstimme und sich zwanglos durch die degenerativen Lendenwirbelsäulenveränderungen bei Zustand nach Bandscheibenoperation erklären lasse. Allerdings werde wegen der im Bericht von Dr. C. beschriebenen Befunde eine stärker neurologisch ausgerichtete Zusatzbegutachtung für sinnvoll erachtet.

Der daraufhin in demselben Rentenrechtsstreit vom SG mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragte Prof. Dr. E., Neurologisch-psychiatrische Klinik der Dr. Horst-Schmidt-Kliniken, Wiesbaden, stellte in dem Gutachten vom 20. Dezember 1994 fest, dass beim Kläger auf neurologischem Fachgebiet außer rezidivierenden Lumbalgien und einem beginnenden Sulkus Ulnaris-Syndrom beidseits, eine Polyneuropathie der Beine vom Mischtyp vorliege. Diese sei mit einer erheblichen Gangunsicherheit bei Dunkelheit und Trittunsicherheit gekennzeichnet. Bezüglich der Diagnosen des Dr. C. werde erheblich abgewichen. Hinweise für eine Muskelschädigung sowie für eine schwere Leistungs- und Wesensänderung hätten nicht gefunden werden können. Lediglich die von Dr. C. vorgeschriebene Polyneuropathie habe ebenfalls ermittelt werden können, die "eventuell" toxisch bedingt sei.

Die Beklagte veranlasste ihrerseits eine Begutachtung durch Prof. Dr. F., Leiter des Instituts und der Polyklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen. Diesem gegenüber gab der Kläger an, sich seit seiner Bandscheibenoperation 1988 nur noch um Büroarbeiten zu kümmern. Im Gutachten vom 16. Januar 1997 gelangte Prof. Dr. F. zu dem Ergebnis, dass eine beruflich bedingte Polyneuropathie vorliege. Da diese noch nicht in der Berufskrankheitenliste aufgeführt sei, indes nach der Empfehlung des ärztlichen Sachverständigenbeirates neue Erkenntnisse über einen kausalen Zusammenhang vorlägen, müsse eine Anerkennung "wie" eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) erfolgen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei ab Objektivierung der Beschwerden durch Prof. Dr. E. ab 21. November 1994 mit 30 v.H. einzuschätzen.

Dieser Beurteilung hielt der Beratungsarzt der Beklagten, G., entgegen, dass die Polyneuropathie 1994 und damit lange nach Ende der Tätigkeit des Klägers als Maler aufgetreten sei. Seinerzeit hätten neurologische Symptome allein aufgrund des Bandscheibenvorfalles bestanden. Zudem bestünden konkurrierende Faktoren aufgrund diabetischer Stoffwechsellage, Hyperurikämie, Alkoholkonsum und Therapie mit ACE-Hammern. In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 2. Juni 1997 hielt demgegenüber Prof. Dr. F. an seiner bisherigen Auffassung fest. Bei der Polyneuropathie handele es sich um einen langsam voranschreitenden Erkrankungsprozess der peripheren Nerven; zwischen ihrer Entwicklung und der Exposition müsse nicht ein zeitlicher Zusammenhang vorliegen. Es entspreche vielmehr medizinischer Erfahrung, dass eine Polyneuropathie nach längeren Latenzzeiten auftrete. Die konkurrierenden Faktoren seien im Übrigen geringgradig. Allenfalls könne man von einer beginnenden pathologischen Glucosetoleranz, nicht jedoch von einer ausgeprägten diabetischen Stoffwechsellage sprechen. Bezüglich einer Hyperurikämie führten die früher erhöhten Werte zu einer effizienten Behandlung mit Alupurinol, wodurch Normalwerte für die Harnsäure hätten erreicht werden können; Gichtanfälle seien anamnestisch vom Kläger verneint worden.

Nach Einholung einer erneuten Stellungnahme ihres TAD vom 1. August 1997, der die Auffassung vertrat, dass der Summenwert der neurotoxischen Eigenschaften im Falle des Klägers unterschritten werde, zumal dieser keinen Belastungen über 8 Stunden täglich hinweg ausgesetzt gewesen sei, schaltete die Beklagte den Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. H. ein. In seinem nach Aktenlage erstatteten Gutachten 5. November 1997 gelangte Prof. Dr. H. zu der Beurteilung, dass zwar bei dem Kläger eine Polyneuropathie gegeben sei, jedoch kein typisches Krankheitsbild vorliege, welches in einer Ziffer der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) beschrieben werde. Zwar sei der Kläger in früheren Jahren gegenüber Blei und organischen Lösungsmitteln exponiert gewesen. Aus Gründen der Expositionshöhe und des Krankheitsverlaufes sei ein Zusammenhang der erstmals 1994 gesicherten Polyneuropathie mit der beruflichen Tätigkeit unwahrscheinlich.

Nachdem sich auch der Landesgewerbearzt im Hessischen Ministerium für Frauen, Arbeit und Sozialordnung in seiner Stellungnahme vom 6. Januar 1998 der Auffassung des Prof. Dr. H. angeschlossen und ausgeführt hatte, dass die lange Latenz zwischen dem Auftreten der Polyneuropathie und dem Rückzug aus der Malertätigkeit eine berufliche Verursachung unwahrscheinlich machten, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 3. März 1998 die Anerkennung der Polyneuropathie als Berufskrankheit ab. Der dagegen am 27. März 1998 erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14. Mai 1998).

Hiergegen hat der Kläger am 16. Juni 1998 Klage erhoben. Das SG hat zunächst Beweis erhoben zu Art und Umfang der vom Kläger nach 1988 verrichteten Tätigkeiten durch Vernehmung der Maler J. und K. als Zeugen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 7. Februar 2000 verwiesen. Des Weiteren hat das SG Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Priv.-Doz. Dr. L., Oberarzt der Neurologischen Klinik und Polyklinik der Universität Mainz. Im Gutachten vom 28. Mai 2001 geht er davon aus, dass bei anzunehmender Exposition gegenüber Lösungsmittelgemischen unter denen auch N-Hexan belegt sei, dem Fehlen anderer Ursachen und der erstmaligen Erwähnung von zumindest dem Begriff einer Neuropathie 1985, von einer länger bestehenden Erkrankung auszugehen sei, die am ehesten durch beruflich bedingte toxische Einwirkungen bedingt sei (auch wenn es eine große Anzahl von Polyneuropathien gebe, deren Ursache letztlich ungeklärt bleibe). Auch sei der klinische Verlauf nicht so eindeutig, dass eine Entstehung erst in den letzten Jahren angenommen werden könne, auch wenn die Klagen über eine solche Neuropathie sich in den letzten Jahren verstärkt hätten. Dies möge durchaus auch subjektive Gründe haben. Zumindest legten die dokumentierten Berichte keine wesentliche Progredienz im Verlauf der letzten sechs bis sieben Jahre nahe, was bei einer von der beruflichen Exposition unabhängigen Ursache doch eher wahrscheinlich wäre. Beim Kläger liege eine sensomotorische axionale Polyneuropathie mäßigen Ausmaßes vor, für deren Genese mithin mehr Gründe für die Verursachung durch beruflich bedingte Einflüsse im Sinne der Berufskrankheiten Nr. 1317 als dagegen sprächen. Die MdE sei mit 30 v.H. einzuschätzen. Der Beurteilung der Vorgutachter werde im Wesentlichen zugestimmt.

Demgegenüber führte Prof. Dr. M. in seiner von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme vom 20. Juli 2001 aus, dass die Annahme des Dr. L., beim Kläger könnte bereits Mitte der 80er Jahre eine Polyneuropathie vorgelegen haben können, spekulativ und keineswegs gesichert sei, wie es das Berufskrankheitenrecht fordere. Ein erhöhtes Expositionsrisiko seit 1988 sei nicht gesichert. Eine Polyneuropathie seit Mitte der 80er Jahre sei nicht im Sinne eines Vollbeweises gesichert. Aufgrund des Krankheitsverlaufes sei ein Zusammenhang der beim Kläger auch jetzt wieder festgestellten Polyneuropathie mit seiner beruflichen Tätigkeit nicht wahrscheinlich. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 24. August 2001 führte Priv.-Doz. Dr. L. aus, dass der Vollbeweis einer Polyneuropathie in den 80er Jahren nicht erbracht werden könne. Die fehlende Progredienz und die Befunde der 80er Jahre sprächen indes mehr für als gegen eine berufsbedingte Polyneuropathie.

Durch Urteil vom 6. Mai 2002 hat das SG die Klage abgewiesen. Die beim Kläger vorliegende Polyneuropathie stelle keine Berufskrankheit dar. Die Anerkennung als Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV scheitere daran, dass eine Polyneuropathie mit Beginn der 80er Jahre, was auch der Sachverständige Dr. L. eingeräumt habe, nicht im Sinne des Vollbeweises festgestellt werden könne. Zwar bleibe einzuräumen, dass insbesondere die neurologische Konsiluntersuchung im Kreiskrankenhaus Wetzlar ergeben habe, dass von einer allenfalls diskreten initialen diabetischen Polyneuropathie auszugehen sei. Darüber hinaus habe der Kläger gegen Ende der 80er Jahre auch über Taubheitsgefühle am Bein geklagt. Vor diesem Hintergrund habe Dr. L. den Krankheitsbeginn in die Mitte der 80er Jahre verlegt, obgleich er in seiner ergänzenden Stellungnahme eingeräumt habe, dass nur unter Anwendung der Beurteilungskriterien für die Wahrscheinlichkeit mehr für als gegen einen Krankheitsbeginn zu diesem Zeitpunkt spreche. Indes müsse der Gesundheitsschaden im Sinne des sog. Vollbeweises nachgewiesen sein. Im Hinblick darauf, dass eine Polyneuropathie trotz ärztlicher Behandlung des Klägers seit den 80er Jahren nicht belegt sei, vielmehr erstmals durch das im Rentenverfahren erstattete Gutachten von Prof. Dr. E. vom 20. Dezember 1994 aufgrund der pathologischen summatosensorisch evozierten Potentiale angenommen worden sei, könne nicht vom Vorliegen einer Polyneuropathie bereits Mitte der 80er Jahre ausgegangen werden. Selbst wenn Mitte der 80er Jahre eine Polyneuropathie vorgelegen hätte, stünde ihrer Anerkennung als Berufskrankheit die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs. 1 BKV entgegen. Leide demnach ein Versicherter am 1. Dezember 1997 an einer Krankheit nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV, sei dieser auf Antrag als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten sei. Selbst ausgehend von einem Eintritt des Versicherungsfalls Mitte der 80er Jahre käme insoweit die Rückwirkungsklausel zum Tragen. Soweit der Kläger vorbringe, dass diese Rückwirkungsklausel unwirksam sei, schließe sich das Gericht den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 24. Februar 2000 – B 2 U 48/98 R – an, wonach eine durch § 6 Abs. 1 BKV vorgenommene, nur begrenzte Einbeziehung früherer Versicherungsfälle in den Versicherungsschutz nicht nur von der Ermächtigung des § 551 Abs. 1 RVO gedeckt, sondern auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Dem Kläger stehe auch kein Anspruch nach § 551 Abs. 2 RVO zu, weil die Polyneuropathie nicht "wie" eine Berufskrankheit anerkannt werden könne. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG sei die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO unter anderem dann ausgeschlossen, wenn der Verordnungsgeber nach § 551 Abs. 1 RVO die einschlägige Erkrankung in die Liste der Berufskrankheiten aufnehme oder deren Aufnahme prüfe oder ablehne. Ab diesem Zeitpunkt lägen nämlich, wie in § 551 Abs. 2 RVO ausdrücklich verlangt, "neue Erkenntnisse" über die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 nicht mehr vor. Die Entscheidung des Verordnungsgebers habe Vorrang vor der Entscheidung des Unfallversicherungsträgers im Einzelfall. Dies gelte selbst dann, wenn der Verordnungsgeber der neu gefassten BKV eine Rückwirkung beilege. Eine wirksame Rückwirkungsvorschrift schließe auch aus, für alle Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraumes noch eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO zuzusprechen. Soweit von einem erstmalig gesicherten Auftreten der Polyneuropathie ab der neurologischen Untersuchung durch Prof. Dr. E. am 21. November 1994 auszugehen sei, könne eine Anerkennung als Berufskrankheit nach Nr.1317 der Anlage zur BKV deswegen nicht erfolgen, weil die Krankheit nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit durch die beruflichen Einwirkungen verursacht sei. Nach seiner Bandscheibenoperation im Jahre 1988 sei der Kläger nicht mehr in einem Ausmaß Lösemitteln ausgesetzt gewesen, die geeignet gewesen seien, eine Polyneuropathie zu verursachen. Dabei sei davon auszugehen, dass er sich durchschnittlich 2 Stunden pro Tag auf Baustellen begeben habe und dort den Malerarbeitsstoffen ausgesetzt gewesen sei, obgleich er gegenüber Prof. Dr. F. angegeben habe, nur noch Büroarbeiten zu verrichten. Die Zeugen J. und K. hatten indes bekundet, dass sich der Kläger jedenfalls stundenweise an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen aufgehalten habe, um das Aufmass zu nehmen oder ihre Arbeiten zu kontrollieren. Diese Exposition reiche nicht aus, um eine Polyneuropathie hervorzurufen. Dabei könne unentschieden bleiben, ob die seit Ende der 80er Jahre verwendeten Materialien im Maler- und Lackiergewerbe überhaupt geeignet gewesen seien, neurotoxische Wirkungen zu entfalten. So habe der TAD bestätigt, dass ausschließlich in den Jahren 1960 bis 1964 toxische Einwirkungen in erheblichem Ausmaß vorgelegen hätten. Insoweit habe Prof. Dr. H. in seinem Gutachten vom 5. November 1997 darauf hingewiesen, dass zwar eine Exposition gegenüber organischen Lösemitteln bestanden habe, die neurotoxischen Schwellenwerte indes in den letzten 15 Jahren auch bei einem vollschichtigen Arbeitsplatz nicht mehr überschritten worden seien. Dies müsse somit erst recht gelten, wenn der Kläger höchstens zwei Stunden pro Tag exponiert gewesen sei, wobei hinzukomme, dass nicht nur Innen- sondern auch Außenarbeiten verrichtet worden seien und insoweit von einer Verflüchtigung der Lösemittel ausgegangen werden müsse. Insoweit bleibe darüber hinaus festzustellen, dass der Kläger gegenüber Dr. L. selbst angegeben habe, bis Ende der 80er Jahre entsprechenden Lösemitteln ausgesetzt gewesen zu sein. Vor diesem Hintergrund sei nicht wahrscheinlich, dass aufgrund dieser geringen Einwirkungen ab 1988 eine Polyneuropathie verursacht worden sei. Die vom Kläger vorgelegte Stellungnahme des Dr. C., dass die Exposition bei einer chronischen Vergiftung keine Rolle spiele, sei völlig abwegig. Die Aufnahme der Polyneuropathie in die BKV sei nämlich ausschließlich deshalb erfolgt, weil augrund entsprechender Exposition diese Krankheitsform gehäuft aufgetreten sei. Es entspreche im Übrigen den neuesten Erkenntnissen, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen letzter Exposition und Krankheitsbeginn bestehen müsse, insbesondere nicht mehr als zwei Monate verstrichen sein dürften. Daher erscheine es auch äußerst unwahrscheinlich, dass die Polyneuropathie erst im Jahre 1994 ausgebrochen sein soll, wenn eine tatsächlich schädliche Exposition nur in den 60er Jahren gesichert sei. Schließlich stehe dem Kläger auch kein Anspruch auf Anerkennung der Nr. 1101 der Anlage zur BKV zu. Der TAD habe zwar bestätigt, dass der Kläger von 1960 bis 1964 erheblich gegenüber Bleifarben exponiert gewesen sei. Auch hier spreche indes die lange Latenz zwischen Auftreten der Erkrankung und Exposition gegen einen ursächlichen Zusammenhang, wie Prof. Dr. E. überzeugend ausgeführt habe, demzufolge der klassische Befund für eine Polyneuropathie bei Schädigung durch Blei weder in Bezug auf Klinik noch unter Berücksichtigung des EMG-Befundes gegeben sei.

Gegen dieses ihm am 28. Juni 2002 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit seiner am 26. Juli 2002 eingegangenen Berufung. Er beruft sich auf das Gutachten des Prof. Dr. F. vom 16. Januar 1997 sowie auf das Gutachten des Dr. L. vom 28. Mai 2001, die beide das Vorliegen der Berufskrankheit bestätigt hätten.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 6. Mai 2002 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 3. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1998 zu verurteilen, die bei ihm vorliegende Polyneuropathie als Berufskrankheit anzuerkennen und gesetzlich zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Akten der Beklagten und der Gerichtsakten, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 8. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Mai 1998 ist rechtmäßig.

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch richtet sich – wie das SG zutreffend erkannt hat – noch nach den Vorschriften der RVO, da die vom Kläger als Berufskrankheit geltend gemachte Schädigung vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 datiert (Art. 37 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, §§ 212, 214 Abs. 3 SGB VII). Nach § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO sind Berufskrankheiten diejenigen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV ist Berufskrankheit die Polyneuropathie oder Encephallopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische. Nach Nr. 1101 der Anlage zur BKV sind Berufskrankheiten Erkrankungen durch Blei oder seine Verbindungen.

Das SG hat zutreffend entschieden, dass die beim Kläger vorliegende Polyneuropathie nicht als Berufskrankheit anerkannt werden kann. Das gilt unabhängig davon, ob die Erkrankung bereits Mitte der 80er Jahre eingetreten ist, wo früher möglicherweise der Bericht des Kreiskrankenhauses Wetzlar vom 4. Dezember 1985 spricht, oder erst im Jahre 1994, wofür das Gutachten des Prof. Dr. E. vom 20. Dezember 1994 sprechen mag. Im ersten Fall scheitert die Anerkennung der Berufskrankheit nämlich an der Rückwirkungsklausel des § 6 Abs. 1 BKV.

Nach dieser Vorschrift ist, sofern ein Versicherter am 1. Dezember 1997 an einer Krankheit u. a. nach Nr. 1317 der Anlage leidet, diese auf Antrag sodann als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist. Diese Rückwirkungsklausel, ist – wie das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden hat – rechtswirksam. Zuletzt hat es durch Urteil vom 24. Februar 2000 (SozR 3-2200 § 551 Nr. 14) mit überzeugender Begründung auch die Verfassungsmäßigkeit der Rückwirkungsklausel bejaht und insbesondere dargelegt, dass in den Wirkungen Aufnahme der Berufskrankheit Nr. 1317 in die Anlage zur BKV in Verbindung mit der Rückwirkungsklausel des § 6 Abs. 1 BKV auf noch laufende Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren unabhängig von deren konkreter Dauer im Einzelfall keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung zu sehen ist.

Die Rückwirkungsvorschrift des § 6 Abs. 1 BKV steht auch einem Anspruch des Klägers nach § 551 Abs. 2 RVO entgegen. Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKV bezeichnet ist, oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, "wie" eine Berufskrankheit entschädigt werden, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Die Anwendung dieser Vorschrift ist dann ausgeschlossen, wenn der Verordnungsgeber nach § 551 Abs. 1 RVO die einschlägige Erkrankung in die Liste der Berufskrankheiten aufnimmt und deren Aufnahme prüft und ablehnt. Wie das BSG in der angeführten Entscheidung (a.a.O.) begründet hat, liegen nämlich ab diesem Zeitpunkt "neue Erkenntnisse" im Sinne des § 551 Abs. 2 RVO nicht mehr vor. Mit der Entscheidung des Verordnungsgebers ist es dem Unfallversicherungsträger untersagt, anstelle des Verordnungsgebers in diesem Einzelfall festzustellen, dass die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind und die Krankheit nach neuen medizinischen Erkenntnissen wie eine Berufskrankheit zu entschädigen ist. In beiden Fällen tritt mit der Entscheidung des Verordnungsgebers dessen Vorrang vor der Entscheidung des Unfallversicherungsträgers im Einzelfall ein. Das gilt auch, wenn der Verordnungsgeber der neu gefassten BKV Rückwirkung beilegt. Eine wirksame Rückwirkungsvorschrift schließt auch aus, für alle Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraums noch eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO zuzusprechen.

Die Anerkennung der Polyneuropathie des Klägers als Berufskrankheit kommt auch nicht in Betracht, wenn als Beginn der Berufskrankheit das Jahr 1994 zugrunde gelegt wird. Die Feststellung einer Berufskrankheit setzt nicht nur voraus, dass die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung, wegen der Entschädigungsleistungen beansprucht werden, im Sinne des Vollbeweises nachgewiesen sind. Darüber hinaus muss – wie in dem angegriffenen Urteil zutreffend ausgeführt – die Erkrankung rechtlich wesentlich auf die berufliche Tätigkeit zurückzuführen sein. Dies ist dann der Fall, wenn nach Feststellung, Prüfung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalls im medizinischen Bereich auch unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung insgesamt mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht. Davon kann vorliegend nicht ausgegangen werden.

Mit dem SG, das sich auf das ausführliche Gutachten des Prof. Dr. M. vom 5. November 1997, dessen gutachterlicher Stellungnahme vom 20. Juli 2001 sowie die Stellungnahme des Landesgewerbearztes vom 6. Januar 1998 stützten konnte, ist auch der erkennende Senat zu der Überzeugung gelangt, dass der erforderliche Zusammenhang zwischen der Polyneuropathie und der beruflichen Exposition gegenüber schädigenden Lösungsmitteln und deren Gemische nicht mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Da insoweit die erstinstanzlichen Entscheidungsgründe ausführlich und überzeugend sind, der Kläger die diesbezüglichen Darlegungen auch nicht konkret in Abrede stellt, nimmt der Senat auf sie zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). An ihnen und den hier zugrunde liegenden ärztlichen Beurteilungen bestehen umso weniger Bedenken, als sie übereinstimmen mit den bisherigen Erkenntnissen, nach denen im Fall einer toxisch bedingten Polyneuropathie nach dem Ende der Exposition mit entsprechenden toxischen Substanzen sich eine Besserung einstellt, wenn nicht sogar mit einer Rückbildung der Schädigung zu rechnen ist (vgl. Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 20. Februar 2001 – L 2 U 69/99). Eine Besserung hat indes der Kläger in Abrede gestellt.

Schließlich scheidet die Anerkennung der im Jahre 1994 festgestellten Polyneuropathie als Berufskrankheit auch aus, weil es sich bei ihr möglicherweise um die fortbestehende Erkrankung handelt, die bereits im Jahre 1984 beschrieben worden ist. So hat Dr. L. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 24. August 2001 ausgeführt, dass die Tatsache, dass 1994 eine derartige Neuropathie im Rahmen der ersten gutachterlichen neurologischen Untersuchung festgestellt worden sei, nicht ausschließe, dass nicht schon vorher neuropathische Beschwerden vorgelegen hätten. Es gebe genauso wenig den Gegenbeweis, d. h. sichere Belege dafür, dass eine Neuropathie zum damaligen Zeitpunkt nicht vorgelegen bzw. dass die jetzt vorliegende Neuropathie eine andere Ursache habe. Vom medizinisch-wissenschaftlichen her sei eine in stärkerem Maße abgesicherte Entscheidung (vermutlich) nicht möglich. Wenn aber die Polyneuropathie bereits im Jahre 1984 entstanden ist, so steht – wie ausgeführt – ihrer Anerkennung als Berufskrankheit die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs. 1 BKV entgegen.

Darüber hinaus hat das SG zu Recht das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 1101 der Anlage zur BKV verneint. Das Vorliegen dieser Berufskrankheit ist von keinem ärztlichen Gutachter bestätigt worden. Vielmehr hat Prof. Dr. E. im Gutachten vom 20. Dezember 1994 darauf hingewiesen, dass der klassische Befund für eine Polyneuropathie bei Schädigung durch Blei weder in Bezug auf Klinik noch unter Berücksichtigung des EMG-Befundes gegeben ist.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG, diejenige über die Zulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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