L 2 RA 119/04

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 13 RA 3389/03
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 RA 119/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 RA 6/05 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Juni 2004 wird zurückgewiesen.

II. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung von Kindererziehungszeiten (KEZ) und Kinderberücksichtigungszeiten (BZ).

Die Klägerin wurde nach ihrer Schul- und Hochschulausbildung für die juristische Referendarzeit vom 1. Januar 1994 bis 25. September 1996 bei der Beklagten nachversichert und war anschließend arbeitslos (mit Leistungsbezug). Seit 1. Mai 1997 war sie bei einem Verband versicherungspflichtig angestellt, seit 14. März 1999 befand sie sich im Mutterschutz. Das Kind der Klägerin wurde 1999 geboren. Der Vater hat der vollständigen Zuordnung der KEZ auf die Klägerin zugestimmt. Mit Bescheid vom 1. Februar 2002 wurde die Klägerin auf ihren bei der Beklagten am 16. Januar 2002 eingegangenen Antrag wegen ihrer ab 1. November 2001 bestehenden Pflichtmitgliedschaft im Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Hessen von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VI ab 1. November 2001 befreit.

Mit Bescheid vom 28. November 2002 erkannte die Beklagte die Zeit vom 1. Juni 1999 bis 31. Oktober 2001 als KEZ und die Zeit vom 9. Mai 1999 bis 31. Oktober 2001 als BZ an. Die Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Mai 2002 könne nicht als KEZ und die Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Mai 2002 nicht als BZ anerkannt werden, weil die Anrechnung für Personen ausgeschlossen sei, die von der Versicherungspflicht befreit gewesen seien.

Die Klägerin erhob Widerspruch und machte geltend, eine Anrechnung sei nicht nach § 56 Satz 4 Nr. 2 SGB VI ausgeschlossen, da die Vorschrift einschränkend auszulegen sei. Die Beklagte wies demgegenüber in einem Schreiben vom 12. März 2003 zur Stützung ihrer Rechtsauffassung auf ein Urteil des Bundessozialgerichts (vom 22. Oktober 1998 in SozR 3 – 2600 § 56 Nr. 12) hin, dem grundsätzlich gefolgt werde. Danach seien KEZ immer dann anzuerkennen, wenn die berufsspezifische Beschäftigung aufgegeben worden sei und die Befreiung wegen der Ausübung einer berufsfremden, versicherungspflichtigen Beschäftigung – verbunden mit einer Zahlung von Beiträgen an die gesetzliche Rentenversicherung – keine Wirkung (mehr) entfalte. Dies gelte bei entsprechendem Sachverhalt auch für Erziehungszeiten vor dem 1. Januar 1992. Die Klägerin hielt die Entscheidung des Bundessozialgerichts für nicht überzeugend, da eine Systemabgrenzung nur dort notwendig sei, wo es sich um Bedarfsdeckungsgesichtspunkte handele. Bei der Anerkennung von KEZ handele es sich aber gerade nicht darum, sondern um den vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) geforderten Familienlastenausgleich. Im Übrigen liege auch kein vergleichbarer Sachverhalt vor, da vorliegend eine Mitgliedschaft von mehr als 5 Jahren Beitragszeiten in der Angestelltenversicherung vorhanden sei.

Durch Bescheid vom 15. August 2003 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Klägerin sei mit Bescheid vom 1. Februar 2002 ab 1. November 2001 nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI von der Rentenversicherungspflicht befreit worden. Somit könne keine KEZ bzw. BZ wegen Kindererziehung anerkannt werden. Der Anrechnungsausschluss für BZ nach § 57 SGB VI folge den Regelungen des § 56 Abs. 4 SGB VI. Die Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Regelungen werde von der Beklagten als Organ der Exekutive nicht in Frage gestellt.

Die Klägerin erhob am 22. September 2003 beim Sozialgericht Frankfurt am Main Klage, die durch Gerichtsbescheid vom 24. Juni 2004 abgewiesen wurde. Das Sozialgericht nahm auf die nach seiner Auffassung zutreffenden Ausführungen des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2003 Bezug und führte im Übrigen aus, verfassungsrechtliche Bedenken bestünden nicht. Der Ausschlussgrund der Befreiung von der Versicherungspflicht in § 56 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI habe ebenso wie die Vorgängerregelung des § 28a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) systemabgrenzende Funktion. Elternteile würden von der Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung ausgeschlossen, wenn sie nach der Erziehung einem anderen Sicherungssystem angehört haben, dass ihnen einen durch das SGB VI anerkannten - prinzipiell - gleichwertigen Schutz wie die gesetzliche Rentenversicherung gewähre (Hinweis auf BSG Urteil vom 22. Oktober 1998, B 4/5 RA 80/97 R m.w.N.). Die Klägerin erleide keine rechtswidrige Einbuße in rentenrechtlicher Hinsicht. Soweit ihr nach ihrer Ansicht Nachteile im Versorgungswerk entstünden, könne darüber im vorliegenden Rechtstreit nicht entschieden werden (Hinweis auf BSG, Urteil vom 27. September 1991, 4 RA 5/91).

Gegen den ihr am 4. August 2004 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die von der Klägerin am 1. September 2004 eingelegte Berufung. Sie hält den Gerichtsbescheid für rechtswidrig, denn die Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Mai 2002 sei als KEZ und die Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Oktober 2002 sei als BZ anzuerkennen. Die gerichtliche Entscheidung führe zu einem Systembruch bzw. einer Systemspaltung zwischen gesetzlicher Rentenversicherung und berufständiger Versorgung. Die Befreiung von der Versicherungspflicht und die Mitgliedschaft im Versorgungswerk der Rechtsanwälte im Lande Hessen habe nicht zur Folge, dass sie den Anspruch auf KEZ und BZ verliere. Sie habe schon vor der Befreiung weit mehr als 60 Beitragsmonate bei der Beklagten belegt und dabei eine gesicherte Rechtsposition erlangt. Zum anderen verstoße eine Nichtanerkennung auch gegen Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG), da kein einziger sachlicher Grund erkennbar sei, warum die Zeiten aufgrund der Befreiung nicht anerkannt werden sollten. Ihr generativer Beitrag zum Rentenversicherungssystem komme allen rentenversicherungspflichtigen und gegenwärtig und zukünftig rentenbeziehenden Personen in der Bundesrepublik Deutschland zugute, und nicht nur den Rechtsanwälten des Landes Hessen. Dieser generative Beitrag habe nichts mit ihrer Mitgliedschaft beim Versorgungswerk zu tun und werde dort – systemgerecht - auch nicht anerkannt, sondern sei dort anzuerkennen, wo er erbracht werde, nämlich im allgemeinen Rentenversicherungssystem. Bei der Anerkennung von KEZ handele es sich nicht um Bedarfsdeckung, sondern um den vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung geforderten Familienlastenausgleich. Der vorliegende Sachverhalt werfe grundsätzliche Fragestellungen sozialversicherungsrechtlicher und verfassungsrechtlicher Tragweite auf. In diesem Zusammenhang hat die Klägerin auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des § 56 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI hingewiesen (Fuchsloch/Schuler-Harms in NJW 2004 S. 3070 ff.) und die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung für den konkreten Sachverhalt durch den Senat angeregt, bzw. bei Ablehnung, eine Vorlage nach Artikel 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) an das Bundesverfassungsgericht. Weiter hat sie noch auf eine Entscheidung des VGH Kassel vom 30. September 2003 (NJW 2004, 3649 ff.) hingewiesen und diese zu den Akten gereicht.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. Juni 2004 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 28. November 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2003 zu verpflichten, die Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Mai 2002 als Kindererziehungszeit und die Zeit vom 1. November 2001 bis 31. Oktober 2002 als Berücksichtigungszeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt den angefochtenen Gerichtsbescheid.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichts- und Beklagtenakte, die vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte den Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt hatten (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung ist unbegründet.

Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf Anrechnung der streitbefangenen Zeiten hat, denn die Voraussetzungen der Vorschriften der §§ 56 Abs. 1, 57 SGB VI lagen nur bis Ende Oktober 2001 vor. Mit Eintritt der von der Klägerin beantragten Befreiung von der Versicherungspflicht zum 1. November 2001 war eine Anrechnung nach § 56 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI ausgeschlossen. Die Vorschrift lässt – neben anderen Ausschlusstatbeständen – eine Anrechnung nicht zu, wenn Elternteile (hier die nach übereinstimmender Erklärung erziehende Klägerin) von der Versicherungspflicht befreit waren. Ein entsprechender Bescheid über die Befreiung von der Versicherungspflicht war unter dem 1. Februar 2002 auf Antrag der Klägerin ergangen und hat weiterhin Bestand. Dass der Gesetzgeber bei Zugehörigkeit zu einem berufsständischen Versorgungswerk eine Befreiung von der gesetzlichen Rentenversicherung ermöglicht hat, ist Indiz dafür, dass er beide Systeme grundsätzlich als gleichrangig und gleichwertig im Hinblick auf einen zukünftigen Versicherungsschutz bewertet. Dabei hat der Gesetzgeber bei allen in § 56 Abs. 4 SGB VI genannten Personen typisierend unterstellt, dass ihnen erziehungsbedingt keine Nachteile in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung entstehen (Löns in Kreikebom, Kommentar zur Gesetzlichen Rentenversicherung, 2. Auflage § 56 RdNr. 22). Mit ihrer Entscheidung für das berufsständische Versorgungswerk hat die Klägerin (unter Wahrung ihrer bis November 2001 erworbenen Rentenanwartschaft auf Erhalt einer Regelaltersrente nach § 35 SGB VI), das umlage– und steuerfinanzierte allgemeine Rentenversicherungssystem verlassen und sich dem landesrechtlichen berufsständischen Versorgungswerk der Rechtsanwälte angeschlossen. Soweit Umfang und Qualität der Versorgung in diesem Sondersystem, dessen Mitgliedschaft eine Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 SGB VI ermöglicht hat, hinter dem der gesetzlichen Rentenversicherung zurückbleiben, ist dieses nicht subsidiär leistungspflichtig, denn mit Eintritt der Befreiung wurde – unter Wahrung der bis dahin erworbenen Rechte – das Versicherungsverhältnis suspendiert. In diesem Zusammenhang hat das Sozialgericht zutreffend unter Hinweis auf die Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 22. Oktober 1998, B 5/4 RA 80/97 R in Juris Nr. KSRE 027511508, und vom 27. Juni 1991, B 4 RA 5/91 zu § 28a Abs. 4 Buchstabe a AVG in Juris Nr. KSRE 008393414) die systemabgrenzende Funktion des Ausschlussgrundes der Befreiung von der Versicherungspflicht in § 56 Abs. 4 SGB VI herausgestellt und ausgeführt, dass über eventuelle Nachteile, die die Klägerin durch ihre Mitgliedschaft im Versorgungswerk erleidet, im vorliegenden Rechtstreit nicht zu entscheiden ist (vgl. Urteil des BVerwG vom 23. Januar 2002, 6 C 9/01 in Juris Nr. WBRE 410008878).

Die von der Klägerin (unter Hinweis auf Fuchsloch/Schuler-Harms in NJW 2004, Seite 3070 ff.) vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken vermag der Senat nicht zu teilen. Zwar leitet sich aus Artikel 6 Abs. 1 GG eine Schutzfunktion und Förderung der Familie als besondere Verpflichtung des Staates ab, aus der sich in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip die Forderung nach einem Familienlastenausgleich herleitet. Dessen Gestaltung im Einzelnen unterliegt aber gesetzgeberischer Freiheit, wobei insbesondere auch die allgemeine Haushaltslage zu berücksichtigen ist (BVerfG, Urteil vom 3. April 2001, 1 BvR 1629/94 in NJW 2001, Seite 1712 ff.). Dabei ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, welche einzelnen Elemente bei Vergleich von Lebenssachverhalten er als maßgeblich für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung ansieht (BVerfGE 31, 19, 130 ff.). Die Grenze, das allgemeine Willkürverbot (BVerfGE 97, 290 ff.), sieht der Senat durch den zulässigerweise typisierenden Ausschluss von der Anrechnung von KEZ bzw. BZ in § 56 Abs. 4 SGB VI nicht tangiert. Die für die Rechtsetzung jeweils zuständigen Organe können ohne Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz auf den verschiedenen Bereichen auch unterschiedliche Regelungen treffen. In diesem Zusammenhang ist der Erhalt der Funktionsfähigkeit des allgemeinen gesetzlichen Rentenversicherungssystems von hervorragender Bedeutung und der Nachteil, den bei einem umlagefinanzierten System der Alterssicherung Versicherte mit Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern erleiden, weil sie zu ihren Beitragszahlungen noch zusätzliche generative Beiträge leisten, besteht bei der Klägerin nicht. Seit ihrer Befreiung von der Versicherungspflicht ab 1. November 2001 hat die Klägerin über den generativen Beitrag hinaus keine weiteren Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt. Ihr generativer Beitrag ist als Konsequenz der Entscheidung für ein alternatives Versorgungssystem allein ist nicht ausreichend, dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, im Wege des Familienlastenausgleichs die Kindererziehung durch Kindererziehungszeiten bzw. Berücksichtigungszeiten im Rentenversicherungssystem zu honorieren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Der Senat hat die Revision zugelassen, da er der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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