Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 VG 14/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 2. Januar 2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24. April 2006 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen Spätfolgen einer Vergewaltigung vom 26.05.1976. Die Klägerin ist 1945 geboren. Sie beantragte erstmals am 18.08.1976 beim beklagten Land (Versorgungsamt Köln) eine solche Versorgung wegen der Folgen dieser Vergewaltigung. Der Täter hatte die ihm zuvor nur vom Sehen bekannte Klägerin, die im selben Haus wie er lebte, unter einem Vorwand in seine Wohnung gelockt und dort vergewaltigt. Die Klägerin war zu dieser Zeit mit ihrem heutigen Ehemann verlobt und studierte in Köln Sozialpädagogik. Das Landgericht Köln verurteilte den 1951 geborenen Täter, der mehrfach, jedoch nicht die wegen Gewalttaten, vorbestraft war, mit Urteil vom 04.02.1977 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Das beklagte Land ließ die Klägerin zur Beurteilung der seelischen Folgen der Gewalttat nervenärztlich untersuchen. Ein Gutachten von Privatdozent Dr. G. und Dr. E. vom 21.06.1978 erfasste anamnestisch eine gewisse familiäre und persönliche Vorbelastung der Klägerin durch die bei zwei älteren Geschwistern aufgetretene Schizophrenie. Die Klägerin selbst hatte sich als im sozialen Kontakt sehr zurückhaltend beschrieben. Ihre erst spät begonnenen Beziehungen mit Männern seien sehr von den Erfahrungen mit den Brüdern geprägt gewesen. Bereits vor dem Gewaltverbrechen habe sie ernste seelische Krisen gehabt. Ihr erster Freund sei ein Asthmatiker und Trinker gewesen. Nach dem Scheitern der Partnerschaft habe sie mehrere Kuren in psychosomatischen Kliniken absolviert. Ihre seelische Beeinträchtigung durch die Gewalttat beschrieb sie als außerordentlich dramatisch mit den Folgen multipler Ängste und Angstphantasien und einer Krise in der gegenwärtigen Partnerschaft. Der Gutachter bilanzierte ein neurotisch strukturiertes Problem der negativen Grunderfahrung mit männlichen Bezugspersonen. Die vorgeprägte neurotische Entwicklung sei durch das Notzuchtverbrechen deutlich verstärkt worden. Aufgrund eines schädigungsbedingten Persönlichkeitswandels schlug das Gutachten vor, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 v.H. anzuerkennen. Mit Bescheid vom 20.09.1978 folgte das beklagte Land diesem Vorschlag, erkannte als Schädigungsfolge "Neurotische Symptomverstärkung mit Persönlichkeitswandel" an, bezifferte die MdE mit 25 v.H. und sprach der Klägerin für die Zeit ab 01.08.1976 die entsprechende Grundrente zu. Mit Bescheid vom 24.10.1978 wurden die Schädigungsfolgen mit der Formulierung "reaktive psychische Schädigung mit depressiven und phobischen Zügen" neu gefasst. Bei Nachuntersuchungen in den Jahren 1980 und 1981 jeweils durch Prof. Dr. H. wurde keine bedeutende Änderung im Sinne einer Verschlimmerung oder Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Klägerin festgestellt. 1985 brachte die Klägerin ihren Sohn zur Welt. Eine Begutachtung wiederum durch Prof. Dr. H. vom 15.07.1985 stellte die MdE bei unveränderter Bezeichnung der Schädigungsfolgen mit jetzt nur noch 10 v.H. fest. Ein darauf gestützter Bescheid vom 06.02.1986 beendete die Rentenzahlung an die Klägerin mit dem 31.03.1986.Ein Klageverfahren hiergegen endete am 06.05.1988 mit der Rücknahme der Klage erfolglos. Erst am 11.02.2005 wendete sich die Klägerin erneut an das Versorgungsamt Köln und beantragte neuerlich Versorgungsleistungen wegen einer Verschlimmerung ihrer gesundheitlichen Situation. Im einzelnen beschrieb sie Depressionen, die auf die Folgen des Überfalls zurückzuführen seien, eine posttraumatische Belastungsstörung mit Symptomen der Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und einer negativen Einstellung in allen Lebensbereichen sowie vielfache Angstzustände. All dies habe sich in den letzten beiden Jahren verschlimmert. Das beklagte Land zog ärztliche Unterlagen bei, von denen am aussagekräftigsten ein Bericht der medizinisch-psychosomatischen Klinik Roseneck vom 23.06.2004 über eine dortige Behandlung der Klägerin vom 11.03.2004 bis zum 13.05.2004 war. Darin wurde eine rezidivierende depressive Störung mit schwer ausgeprägter Symptomatik beschrieben. Man hatte versucht, mit der Klägerin Strategien zur Meisterung des Gefühls ständiger Bedrohung zu erarbeiten und ihre Tendenz zu Vermeidungsverhalten, Selbstabwertung und negativem Denken zu begrenzen. Das beklagte Land ließ die Klägerin am 16.11.2005 durch die Nervenärztin Frau Dr. M. untersuchen. Das Gutachten schrieb die Anamnese der Klägerin fort mit der Langzeitbilanz einer spannungsreichen und "schlechten" Ehe mit dem Mann, der bereits seit 1974 und mithin auch zur Zeit der Gewalttat ihr Partner gewesen war. Die Beziehung habe erst nach Jahren eine sexuelle Komponente erhalten. Der mit der beruflichen Situation des Ehemanns motivierte Umzug von Köln nach Garmisch-Partenkirchen 1991 habe massive Probleme der Eingewöhnung und starke Schulprobleme des legasthenischen Sohnes hervorgerufen. 1992 habe die Klägerin einen Herzinfarkt erlitten, daraufhin ihr 1981 begonnenes Psychologiestudium aufgegeben und mit zunehmendem sozialen Rückzug reagiert. Die Klägerin berichtete über die Verstärkung der bereits vor der Gewalttat bestehenden Ängste etwa vor nächtlichem Verlassen der Wohnung. Als Besonderheit der Beziehung der Klägerin mit ihrem Sohn berichtete sie über eine über zehn Jahre hinweg täglich dreistündige Hilfe bei seinen schulischen Hausaufgaben. Beruflich habe die Klägerin wegen ihrer Ängste nie Fuß fassen können. Seit 1978 habe sie nicht mehr gearbeitet. Es bestünden starke finanzielle Probleme nebst bautechnischen Sorgen mit dem 1854 erbauten Haus in Garmisch-Partenkirchen. Aus den Jahren 2003 und 2004 berichtete die Klägerin über zunehmende depressive Symptome in Form von Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen und gelegentlichen Suizidgedanken. Großen Raum nahm die Schilderung aktueller Ängste beispielsweise vor nächtlichem Verlassen des Hauses ein. Aus dieser Zeit wertete Frau Dr. M. einen Bericht des behandelnden praktischen Arztes und Arztes für Psychotherapie Dr. T. aus. Die Sachverständige kam zur Beurteilung der Klägerin als einer neurotisch strukturierten Persönlichkeit mit Ängsten und Kontaktschwierigkeiten, wobei vorbestehende Ängste durch die schwere Gewalttat vorübergehend erheblich verschlimmert worden seien. Die neurotische Störung der Ehe der Klägerin könne nicht überwiegend auf die 30 Jahre zurückliegende Gewalttat zurückgeführt werden. Die schädigungsabhängigen Ängste seien in ihrer Intensität in etwa gegenüber dem letzten Gutachten von Prof. Dr. H. vom 15.07.1985 gleich geblieben. Frau Dr. M. schlug vor, mit der Leidensbezeichnung "reaktive psychische Schädigung mit depressiven und phobischen Zügen" eine MdE von 10 v.H. beizubehalten. Daraufhin lehnte das beklagte Land (Versorgungsamt Münster) mit Bescheid vom 02.01.2006 die Aufhebung des Bescheides vom 06.02.1986 wegen geänderter Verhältnisse ab. Ihrem Widerspruch hiergegen fügte die Klägerin ein ausführliches Attest von Dr. T. bei. Der Arzt beanspruchte eine spezielle Kompetenz zur Beurteilung posttraumatischer Belastungsstörungen als Mitglied von Kommissionen zur Formulierung der medizinischen Normsysteme ICD-10 und DSM-IV. Er hielt von gedanklicher Einengung auf die Gewalttat über Distanziertheit im Kontakt bis zu vegetativer Übererregung bei der Klägerin alle Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sowie auch eine andauernde Persönlichkeitsveränderung und rezidivierende depressive Episoden für gegeben und erklärte eine Bewertung der Schädigungsfolgen mit einer MdE von weniger als 25 v.H. für "in keinster Weise nachvollziehbar". Nach ausführlicher Auseinandersetzung mit diesen Einwänden wies das beklagte Land den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2006 zurück. Mit ihrer Klage hält die Klägerin an dem Begehren fest, ihr wegen einer höheren MdE wieder Leistungsansprüche zuzuerkennen. Das Gericht eröffnete die Beweiserhebung mit der Einholung eines Befundberichtes wiederum von Dr. T ... Um Ursachen und Ausmaß der seelischen Störung der Klägerin feststellen zu lassen, ernannte das Gericht die Diplompsychologin (Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin) Frau Z. zur gerichtlichen Sachverständigen und beauftragte sie mit der Fertigung eines Gutachtens über die bei der Klägerin vorhandenen Schädigungsfolgen und ihre Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit. Das Gutachten von Frau Z. vom 27.05.2007 rekapitulierte nochmals die Lebensgeschichte und die Dokumentation psychiatrischer Begutachtungen der Klägerin. Nach Erfassung von Anamnese und Beschwerden sowie fachbezogener Untersuchung gelangt die Sachverständige zum Ergebnis einer depressiven Grundstruktur bereits vor der Gewalttat und einer massiven Schädigung durch diese. Wie in mehreren Gutachten dargestellt habe sich diese jedoch in den achtziger Jahren gelindert. Es seien mehrere schädigungsunabhängige belastende Ereignisse gefolgt, so der Umzug nach Garmisch-Partenkirchen in eine soziale Isolation und der als extreme Erschütterung beschriebene Herzinfarkt. Mit dem Übertritt des Sohnes von der Schule in die Lehre sei für die Klägerin eine wichtige Aufgabe weggefallen. Daraufhin sei es zu einer Zunahme der depressiven Symptomatik mit verstärktem Bewusstsein der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Ehemann gekommen. Die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung lägen nicht mehr vor. Eine schädigungsbedingte Verschlimmerung sei nicht zu erkennen, die in den angefochtenen Bescheiden getroffene Feststellung einer MdE von 10 v.H. sei nicht zu beanstanden. Ihren umfangreichen Gegenvorstellungen fügte die Klägerin die Kopie einer bereits vor Jahrzehnten verfassten Generalabrechnung mit staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen bei. In der mündlichen Verhandlung beschrieb die Klägerin sehr detailliert ihre Ängste insbesondere im Wald und in der Dunkelheit und die dadurch bedingte Beeinträchtigung ihrer Aktivitätsmöglichkeiten und trug ausführlich ihre Überzeugung vor, wonach alle gegenwärtigen wesentlichen Beeinträchtigung ihres Lebens durch die Gewalttat des Jahres 1976 verursacht worden seien.
Die Klägerin beantragt, das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 02.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2006 zu verurteilen, seinen Bescheid vom 06.02.1986 wegen geänderter Verhältnisse aufzuheben und ihr erneut Leistungen der Opferentschädigung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gibt demjenigen einen Anspruch auf staatliche Versorgung, der infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) wird verwiesen. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG gebietet zur Prüfung des Anspruchs auf Beschädigtenrente die Beurteilung der MdE nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG sind vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt nach § 30 Abs. 1 Satz 4 BVG ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. § 31 BVG lässt einen Rentenanspruch ab einer MdE von 30 v.H. zu. Die Folgen der 1976 gegen die Klägerin verübten Gewalttat sind nach mehr als 30 Jahren nicht so erheblich, dass für die Klägerin gegenwärtig (und tendenziell lebenslang!) wieder ein Anspruch auf Rente nach den genannten Bestimmungen zu begründen wäre. Zweifellos leidet die Klägerin unter erheblichen körperlichen und psychischen Gesundheitsstörungen. Zu dem Zustand nach Herzinfarkt kommen seelische Beeinträchtigungen mit breiten Folgen für Selbstwertgefühl, Beziehungsfähigkeit, soziale Integration, berufliche Entfaltungsmöglichkeit und Aktivitätsradius. Hierfür sind aber die Geschehnisse von 1976 nur zu einem kleinen Teil ursächlich. Die Lebensgeschichte der Klägerin verrät schon vor der Gewalttat ein erhebliches Maß von Unsicherheiten und Orientierungsmängeln, aber auch von klinisch relevanten und behandlungsbedürftigen Depressionen und Ängsten. Ein entspanntes Verhältnis zum anderen Geschlecht, getragen einerseits von Selbstbewusstsein und gesundem Sinn für eigene Bedürfnisse und Schutz der eigenen Person und andererseits von Zuwendungsfähigkeit gegenüber einem Partner, konnte die Klägerin in ihrer Jugend und ihrem frühen Erwachsenenalter nicht entwickeln. Muss also von der auch noch für die Gegenwart postulierten schweren Traumatisierung der Klägerin aus dem Jahr 1976 schon ein deutlicher seelischer Vorschaden abgezogen werden, so müssen aus dem jetzt intensiv gefühlten und präsentierten Zustandsbild außerdem diejenigen Belastungen herausgerechnet werden, die in den Jahrzehnten seither aufgetreten sind. Hohes Gewicht haben hiervon jedenfalls der Herzinfarkt, der Umzug nach Bayern und die Eheprobleme. Die seit 1974 bestehende Beziehung der Klägerin zu ihrem jetzigen Ehemann beruht wie jede langjährige Partnerbeziehung auf einer vielfältigen und von der aktuellen Lebensgeschichte immer wieder neu veränderten Dynamik. Keine solche Beziehung wird allein von einem einzigen Ereignis wie der Vergewaltigung der Klägerin am 26.05.1976 ausschließlich, dauerhaft und unabänderbar determiniert. Ebensowenig kann als zwingend anerkannt werden, dass nach dem Erleiden einer Gewalttat jede berufliche Tätigkeit bereits im Alter von 33 Jahren eingestellt werden muss. Mit solchen und ähnlichen Überzeugungen wird das Sozialgericht von nahezu allen durch Gewalttat, historisches Unrecht oder Unfall traumatisierten Menschen konfrontiert, die um ihre Leistungsansprüche kämpfen. Diese Überzeugungen (in vergleichbaren Fällen geht es beispielsweise um die angebliche Unvermeidbarkeit einer Suchterkrankung oder einer extremen Gewichtszunahme) haben eine wichtige Funktion zur Aufrechterhaltung des Selbstbildes und zur Entlastung der gegenwärtigen Lebenssituation. Wenn der Schädiger des Jahres 1976 die ausschließliche Verantwortung für die Lebensgestaltung der Klägerin seither trägt, sind sowohl sie als auch ihr Ehemann von dieser Verantwortung freigestellt. Diese bedeutsame Funktion von Glaubenssätzen über die Grundlagen der eigene Biografie kann aber keinesfalls dazu führen, dass diese subjektiven Glaubenssätze zum medizinischen Nachweis einer Kausalität geeignet wären und vom Gericht als "Wahrheit" anerkannt werden könnten. Kein Psychiater oder Psychotherapeut hilft seinem Patienten, wenn er dessen eigenes Theoriegebäude einschließlich aller selbstbeschränkenden Fixierungen übernimmt, bekräftigt und etwa gar auf ein wissenschaftliches Niveau hebt. Die vom Berufsethos gebotene Wertschätzung des Patienten enthebt den Therapeuten nicht seiner ihm bereits von Sigmund Freud zugewiesenen Funktion als "Vertreter des Realitätsprinzips" und darf demgemäß nicht seiner Pflicht entgegenstehen, das Selbst- und Weltbild des Patienten mit aller Sensibilität zu neuer Erfahrung und größerem Lebensspielraum zu öffnen. Schon Prof. Dr. H. hat vor mehr als 20 Jahren in größerer zeitlicher Nähe zum schädigenden Ereignis die posttraumatische Belastungsstörung (der Begriff war damals noch nicht üblich) der Klägerin sowohl anerkannt als auch in ihrem jahrelangen Fortbestand und späterem Abklingen plausibel quantifiziert. Die von der Versorgungsverwaltung und vom Gericht veranlassten Begutachtungen haben keinen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass sich das Gewicht der Schädigungsfolgen gegenüber den damaligen Feststellungen wieder vergrößert hätte. Die von der Klägerin mit großer Eindringlichkeit in den Vordergrund ihrer Symptomatik gestellten Ängste stehen in auffällig geringem Zusammenhang mit dem einstigen Trauma. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung außerordentlich detailreich dargestellt, in welcher Form und unter welchen Bedingungen bei Waldspaziergängen, nächtlichem Verlassen des Hauses oder in dunklen Straßen ihre Ängste auftreten. Indes: die Vergewaltigung 1976 fand keineswegs in einer solchen Situation statt, sondern in einer geschlossenen Wohnung. Nachdem bei der Klägerin entsprechende Ängste bereits vor 1976 aufgetreten sind und vor dem bekannten Hintergrund, dass das von den Medien immer wieder mit Material versorgte Angstmotiv "als Frau allein im dunklen Park" überaus weit verbreitet ist und sogar in der politischen Diskussion ("früher konnte man jedenfalls nachts noch über die Straße gehen") seine feste Funktion hat, ist die Beschreibung der Ängste keineswegs geeignet, die Vermutung eines wesentlichen Zusammenhangs mit dem Trauma zu stützen. Der behandelnde Arzt übersieht bei der Zuschreibung einer posttraumatischen Belastungsstörung, dass diese als ein Syndrom von Gesundheitsstörungen anerkannt sind, die jeweils für sich genommen häufig und keineswegs nur nach einem Trauma vorkommen. Lediglich die Kombination und Intensität der Gesundheitsstörungen sind für den Zustand nach dem Trauma so typisch, dass sich die Zusammenfassung unter einem speziellen Begriff durchgesetzt hat. Wie oben schon die Ängste der Klägerin als unspezifisch erkannt wurden, ist auch die Depression eine "Volkskrankheit", mit der die Sozialmedizin auch von Millionen Rentenbewerbern ohne Gewalt- oder Unfallerfahrung konfrontiert wird. Und etwa gar eine vegetative Übererregtheit kann bereits durch eine Untersuchungssituation bedingt sein und drei Jahrzehnte nach einem traumatisierenden Ereignis nicht mehr als Ausdruck eines immer noch anhaltenden Schreckens angesehen werden. Systematisch fehlerhaft ist es im Übrigen, bei Diagnose und Gewichtung von Gesundheitsstörungen zu einer posttraumatischen Belastungsstörung noch Ängste und Depressionen hinzu zu addieren, nachdem diese gerade als Bestandteile der posttraumatischen Belastungsstörung erkannt wurden. Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vergeblich versucht, die Klägerin für eine offenere Betrachtung ihrer Lebensgeschichte zu gewinnen, aus der sie selbst mit einer Verbesserung ihrer Lebensqualität einen weit höheren Gewinn ziehen würde als den finanziell messbaren Vorteil einer Versorgungsleistung. Auf eine solche besteht nach sorgfältiger Sachverhaltsermittlung kein Anspruch. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist eine Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen Spätfolgen einer Vergewaltigung vom 26.05.1976. Die Klägerin ist 1945 geboren. Sie beantragte erstmals am 18.08.1976 beim beklagten Land (Versorgungsamt Köln) eine solche Versorgung wegen der Folgen dieser Vergewaltigung. Der Täter hatte die ihm zuvor nur vom Sehen bekannte Klägerin, die im selben Haus wie er lebte, unter einem Vorwand in seine Wohnung gelockt und dort vergewaltigt. Die Klägerin war zu dieser Zeit mit ihrem heutigen Ehemann verlobt und studierte in Köln Sozialpädagogik. Das Landgericht Köln verurteilte den 1951 geborenen Täter, der mehrfach, jedoch nicht die wegen Gewalttaten, vorbestraft war, mit Urteil vom 04.02.1977 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Das beklagte Land ließ die Klägerin zur Beurteilung der seelischen Folgen der Gewalttat nervenärztlich untersuchen. Ein Gutachten von Privatdozent Dr. G. und Dr. E. vom 21.06.1978 erfasste anamnestisch eine gewisse familiäre und persönliche Vorbelastung der Klägerin durch die bei zwei älteren Geschwistern aufgetretene Schizophrenie. Die Klägerin selbst hatte sich als im sozialen Kontakt sehr zurückhaltend beschrieben. Ihre erst spät begonnenen Beziehungen mit Männern seien sehr von den Erfahrungen mit den Brüdern geprägt gewesen. Bereits vor dem Gewaltverbrechen habe sie ernste seelische Krisen gehabt. Ihr erster Freund sei ein Asthmatiker und Trinker gewesen. Nach dem Scheitern der Partnerschaft habe sie mehrere Kuren in psychosomatischen Kliniken absolviert. Ihre seelische Beeinträchtigung durch die Gewalttat beschrieb sie als außerordentlich dramatisch mit den Folgen multipler Ängste und Angstphantasien und einer Krise in der gegenwärtigen Partnerschaft. Der Gutachter bilanzierte ein neurotisch strukturiertes Problem der negativen Grunderfahrung mit männlichen Bezugspersonen. Die vorgeprägte neurotische Entwicklung sei durch das Notzuchtverbrechen deutlich verstärkt worden. Aufgrund eines schädigungsbedingten Persönlichkeitswandels schlug das Gutachten vor, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 v.H. anzuerkennen. Mit Bescheid vom 20.09.1978 folgte das beklagte Land diesem Vorschlag, erkannte als Schädigungsfolge "Neurotische Symptomverstärkung mit Persönlichkeitswandel" an, bezifferte die MdE mit 25 v.H. und sprach der Klägerin für die Zeit ab 01.08.1976 die entsprechende Grundrente zu. Mit Bescheid vom 24.10.1978 wurden die Schädigungsfolgen mit der Formulierung "reaktive psychische Schädigung mit depressiven und phobischen Zügen" neu gefasst. Bei Nachuntersuchungen in den Jahren 1980 und 1981 jeweils durch Prof. Dr. H. wurde keine bedeutende Änderung im Sinne einer Verschlimmerung oder Verbesserung der gesundheitlichen Situation der Klägerin festgestellt. 1985 brachte die Klägerin ihren Sohn zur Welt. Eine Begutachtung wiederum durch Prof. Dr. H. vom 15.07.1985 stellte die MdE bei unveränderter Bezeichnung der Schädigungsfolgen mit jetzt nur noch 10 v.H. fest. Ein darauf gestützter Bescheid vom 06.02.1986 beendete die Rentenzahlung an die Klägerin mit dem 31.03.1986.Ein Klageverfahren hiergegen endete am 06.05.1988 mit der Rücknahme der Klage erfolglos. Erst am 11.02.2005 wendete sich die Klägerin erneut an das Versorgungsamt Köln und beantragte neuerlich Versorgungsleistungen wegen einer Verschlimmerung ihrer gesundheitlichen Situation. Im einzelnen beschrieb sie Depressionen, die auf die Folgen des Überfalls zurückzuführen seien, eine posttraumatische Belastungsstörung mit Symptomen der Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und einer negativen Einstellung in allen Lebensbereichen sowie vielfache Angstzustände. All dies habe sich in den letzten beiden Jahren verschlimmert. Das beklagte Land zog ärztliche Unterlagen bei, von denen am aussagekräftigsten ein Bericht der medizinisch-psychosomatischen Klinik Roseneck vom 23.06.2004 über eine dortige Behandlung der Klägerin vom 11.03.2004 bis zum 13.05.2004 war. Darin wurde eine rezidivierende depressive Störung mit schwer ausgeprägter Symptomatik beschrieben. Man hatte versucht, mit der Klägerin Strategien zur Meisterung des Gefühls ständiger Bedrohung zu erarbeiten und ihre Tendenz zu Vermeidungsverhalten, Selbstabwertung und negativem Denken zu begrenzen. Das beklagte Land ließ die Klägerin am 16.11.2005 durch die Nervenärztin Frau Dr. M. untersuchen. Das Gutachten schrieb die Anamnese der Klägerin fort mit der Langzeitbilanz einer spannungsreichen und "schlechten" Ehe mit dem Mann, der bereits seit 1974 und mithin auch zur Zeit der Gewalttat ihr Partner gewesen war. Die Beziehung habe erst nach Jahren eine sexuelle Komponente erhalten. Der mit der beruflichen Situation des Ehemanns motivierte Umzug von Köln nach Garmisch-Partenkirchen 1991 habe massive Probleme der Eingewöhnung und starke Schulprobleme des legasthenischen Sohnes hervorgerufen. 1992 habe die Klägerin einen Herzinfarkt erlitten, daraufhin ihr 1981 begonnenes Psychologiestudium aufgegeben und mit zunehmendem sozialen Rückzug reagiert. Die Klägerin berichtete über die Verstärkung der bereits vor der Gewalttat bestehenden Ängste etwa vor nächtlichem Verlassen der Wohnung. Als Besonderheit der Beziehung der Klägerin mit ihrem Sohn berichtete sie über eine über zehn Jahre hinweg täglich dreistündige Hilfe bei seinen schulischen Hausaufgaben. Beruflich habe die Klägerin wegen ihrer Ängste nie Fuß fassen können. Seit 1978 habe sie nicht mehr gearbeitet. Es bestünden starke finanzielle Probleme nebst bautechnischen Sorgen mit dem 1854 erbauten Haus in Garmisch-Partenkirchen. Aus den Jahren 2003 und 2004 berichtete die Klägerin über zunehmende depressive Symptome in Form von Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen und gelegentlichen Suizidgedanken. Großen Raum nahm die Schilderung aktueller Ängste beispielsweise vor nächtlichem Verlassen des Hauses ein. Aus dieser Zeit wertete Frau Dr. M. einen Bericht des behandelnden praktischen Arztes und Arztes für Psychotherapie Dr. T. aus. Die Sachverständige kam zur Beurteilung der Klägerin als einer neurotisch strukturierten Persönlichkeit mit Ängsten und Kontaktschwierigkeiten, wobei vorbestehende Ängste durch die schwere Gewalttat vorübergehend erheblich verschlimmert worden seien. Die neurotische Störung der Ehe der Klägerin könne nicht überwiegend auf die 30 Jahre zurückliegende Gewalttat zurückgeführt werden. Die schädigungsabhängigen Ängste seien in ihrer Intensität in etwa gegenüber dem letzten Gutachten von Prof. Dr. H. vom 15.07.1985 gleich geblieben. Frau Dr. M. schlug vor, mit der Leidensbezeichnung "reaktive psychische Schädigung mit depressiven und phobischen Zügen" eine MdE von 10 v.H. beizubehalten. Daraufhin lehnte das beklagte Land (Versorgungsamt Münster) mit Bescheid vom 02.01.2006 die Aufhebung des Bescheides vom 06.02.1986 wegen geänderter Verhältnisse ab. Ihrem Widerspruch hiergegen fügte die Klägerin ein ausführliches Attest von Dr. T. bei. Der Arzt beanspruchte eine spezielle Kompetenz zur Beurteilung posttraumatischer Belastungsstörungen als Mitglied von Kommissionen zur Formulierung der medizinischen Normsysteme ICD-10 und DSM-IV. Er hielt von gedanklicher Einengung auf die Gewalttat über Distanziertheit im Kontakt bis zu vegetativer Übererregung bei der Klägerin alle Merkmale der posttraumatischen Belastungsstörung sowie auch eine andauernde Persönlichkeitsveränderung und rezidivierende depressive Episoden für gegeben und erklärte eine Bewertung der Schädigungsfolgen mit einer MdE von weniger als 25 v.H. für "in keinster Weise nachvollziehbar". Nach ausführlicher Auseinandersetzung mit diesen Einwänden wies das beklagte Land den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2006 zurück. Mit ihrer Klage hält die Klägerin an dem Begehren fest, ihr wegen einer höheren MdE wieder Leistungsansprüche zuzuerkennen. Das Gericht eröffnete die Beweiserhebung mit der Einholung eines Befundberichtes wiederum von Dr. T ... Um Ursachen und Ausmaß der seelischen Störung der Klägerin feststellen zu lassen, ernannte das Gericht die Diplompsychologin (Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin) Frau Z. zur gerichtlichen Sachverständigen und beauftragte sie mit der Fertigung eines Gutachtens über die bei der Klägerin vorhandenen Schädigungsfolgen und ihre Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit. Das Gutachten von Frau Z. vom 27.05.2007 rekapitulierte nochmals die Lebensgeschichte und die Dokumentation psychiatrischer Begutachtungen der Klägerin. Nach Erfassung von Anamnese und Beschwerden sowie fachbezogener Untersuchung gelangt die Sachverständige zum Ergebnis einer depressiven Grundstruktur bereits vor der Gewalttat und einer massiven Schädigung durch diese. Wie in mehreren Gutachten dargestellt habe sich diese jedoch in den achtziger Jahren gelindert. Es seien mehrere schädigungsunabhängige belastende Ereignisse gefolgt, so der Umzug nach Garmisch-Partenkirchen in eine soziale Isolation und der als extreme Erschütterung beschriebene Herzinfarkt. Mit dem Übertritt des Sohnes von der Schule in die Lehre sei für die Klägerin eine wichtige Aufgabe weggefallen. Daraufhin sei es zu einer Zunahme der depressiven Symptomatik mit verstärktem Bewusstsein der wirtschaftlichen Abhängigkeit vom Ehemann gekommen. Die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung lägen nicht mehr vor. Eine schädigungsbedingte Verschlimmerung sei nicht zu erkennen, die in den angefochtenen Bescheiden getroffene Feststellung einer MdE von 10 v.H. sei nicht zu beanstanden. Ihren umfangreichen Gegenvorstellungen fügte die Klägerin die Kopie einer bereits vor Jahrzehnten verfassten Generalabrechnung mit staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen bei. In der mündlichen Verhandlung beschrieb die Klägerin sehr detailliert ihre Ängste insbesondere im Wald und in der Dunkelheit und die dadurch bedingte Beeinträchtigung ihrer Aktivitätsmöglichkeiten und trug ausführlich ihre Überzeugung vor, wonach alle gegenwärtigen wesentlichen Beeinträchtigung ihres Lebens durch die Gewalttat des Jahres 1976 verursacht worden seien.
Die Klägerin beantragt, das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 02.01.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2006 zu verurteilen, seinen Bescheid vom 06.02.1986 wegen geänderter Verhältnisse aufzuheben und ihr erneut Leistungen der Opferentschädigung zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten des Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist jedoch in der Sache nicht begründet. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gibt demjenigen einen Anspruch auf staatliche Versorgung, der infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs gegen seine oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) wird verwiesen. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG gebietet zur Prüfung des Anspruchs auf Beschädigtenrente die Beurteilung der MdE nach der körperlichen und geistigen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben; dabei sind seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen zu berücksichtigen. Nach § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG sind vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht zu berücksichtigen. Als vorübergehend gilt nach § 30 Abs. 1 Satz 4 BVG ein Zeitraum bis zu sechs Monaten. § 31 BVG lässt einen Rentenanspruch ab einer MdE von 30 v.H. zu. Die Folgen der 1976 gegen die Klägerin verübten Gewalttat sind nach mehr als 30 Jahren nicht so erheblich, dass für die Klägerin gegenwärtig (und tendenziell lebenslang!) wieder ein Anspruch auf Rente nach den genannten Bestimmungen zu begründen wäre. Zweifellos leidet die Klägerin unter erheblichen körperlichen und psychischen Gesundheitsstörungen. Zu dem Zustand nach Herzinfarkt kommen seelische Beeinträchtigungen mit breiten Folgen für Selbstwertgefühl, Beziehungsfähigkeit, soziale Integration, berufliche Entfaltungsmöglichkeit und Aktivitätsradius. Hierfür sind aber die Geschehnisse von 1976 nur zu einem kleinen Teil ursächlich. Die Lebensgeschichte der Klägerin verrät schon vor der Gewalttat ein erhebliches Maß von Unsicherheiten und Orientierungsmängeln, aber auch von klinisch relevanten und behandlungsbedürftigen Depressionen und Ängsten. Ein entspanntes Verhältnis zum anderen Geschlecht, getragen einerseits von Selbstbewusstsein und gesundem Sinn für eigene Bedürfnisse und Schutz der eigenen Person und andererseits von Zuwendungsfähigkeit gegenüber einem Partner, konnte die Klägerin in ihrer Jugend und ihrem frühen Erwachsenenalter nicht entwickeln. Muss also von der auch noch für die Gegenwart postulierten schweren Traumatisierung der Klägerin aus dem Jahr 1976 schon ein deutlicher seelischer Vorschaden abgezogen werden, so müssen aus dem jetzt intensiv gefühlten und präsentierten Zustandsbild außerdem diejenigen Belastungen herausgerechnet werden, die in den Jahrzehnten seither aufgetreten sind. Hohes Gewicht haben hiervon jedenfalls der Herzinfarkt, der Umzug nach Bayern und die Eheprobleme. Die seit 1974 bestehende Beziehung der Klägerin zu ihrem jetzigen Ehemann beruht wie jede langjährige Partnerbeziehung auf einer vielfältigen und von der aktuellen Lebensgeschichte immer wieder neu veränderten Dynamik. Keine solche Beziehung wird allein von einem einzigen Ereignis wie der Vergewaltigung der Klägerin am 26.05.1976 ausschließlich, dauerhaft und unabänderbar determiniert. Ebensowenig kann als zwingend anerkannt werden, dass nach dem Erleiden einer Gewalttat jede berufliche Tätigkeit bereits im Alter von 33 Jahren eingestellt werden muss. Mit solchen und ähnlichen Überzeugungen wird das Sozialgericht von nahezu allen durch Gewalttat, historisches Unrecht oder Unfall traumatisierten Menschen konfrontiert, die um ihre Leistungsansprüche kämpfen. Diese Überzeugungen (in vergleichbaren Fällen geht es beispielsweise um die angebliche Unvermeidbarkeit einer Suchterkrankung oder einer extremen Gewichtszunahme) haben eine wichtige Funktion zur Aufrechterhaltung des Selbstbildes und zur Entlastung der gegenwärtigen Lebenssituation. Wenn der Schädiger des Jahres 1976 die ausschließliche Verantwortung für die Lebensgestaltung der Klägerin seither trägt, sind sowohl sie als auch ihr Ehemann von dieser Verantwortung freigestellt. Diese bedeutsame Funktion von Glaubenssätzen über die Grundlagen der eigene Biografie kann aber keinesfalls dazu führen, dass diese subjektiven Glaubenssätze zum medizinischen Nachweis einer Kausalität geeignet wären und vom Gericht als "Wahrheit" anerkannt werden könnten. Kein Psychiater oder Psychotherapeut hilft seinem Patienten, wenn er dessen eigenes Theoriegebäude einschließlich aller selbstbeschränkenden Fixierungen übernimmt, bekräftigt und etwa gar auf ein wissenschaftliches Niveau hebt. Die vom Berufsethos gebotene Wertschätzung des Patienten enthebt den Therapeuten nicht seiner ihm bereits von Sigmund Freud zugewiesenen Funktion als "Vertreter des Realitätsprinzips" und darf demgemäß nicht seiner Pflicht entgegenstehen, das Selbst- und Weltbild des Patienten mit aller Sensibilität zu neuer Erfahrung und größerem Lebensspielraum zu öffnen. Schon Prof. Dr. H. hat vor mehr als 20 Jahren in größerer zeitlicher Nähe zum schädigenden Ereignis die posttraumatische Belastungsstörung (der Begriff war damals noch nicht üblich) der Klägerin sowohl anerkannt als auch in ihrem jahrelangen Fortbestand und späterem Abklingen plausibel quantifiziert. Die von der Versorgungsverwaltung und vom Gericht veranlassten Begutachtungen haben keinen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass sich das Gewicht der Schädigungsfolgen gegenüber den damaligen Feststellungen wieder vergrößert hätte. Die von der Klägerin mit großer Eindringlichkeit in den Vordergrund ihrer Symptomatik gestellten Ängste stehen in auffällig geringem Zusammenhang mit dem einstigen Trauma. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung außerordentlich detailreich dargestellt, in welcher Form und unter welchen Bedingungen bei Waldspaziergängen, nächtlichem Verlassen des Hauses oder in dunklen Straßen ihre Ängste auftreten. Indes: die Vergewaltigung 1976 fand keineswegs in einer solchen Situation statt, sondern in einer geschlossenen Wohnung. Nachdem bei der Klägerin entsprechende Ängste bereits vor 1976 aufgetreten sind und vor dem bekannten Hintergrund, dass das von den Medien immer wieder mit Material versorgte Angstmotiv "als Frau allein im dunklen Park" überaus weit verbreitet ist und sogar in der politischen Diskussion ("früher konnte man jedenfalls nachts noch über die Straße gehen") seine feste Funktion hat, ist die Beschreibung der Ängste keineswegs geeignet, die Vermutung eines wesentlichen Zusammenhangs mit dem Trauma zu stützen. Der behandelnde Arzt übersieht bei der Zuschreibung einer posttraumatischen Belastungsstörung, dass diese als ein Syndrom von Gesundheitsstörungen anerkannt sind, die jeweils für sich genommen häufig und keineswegs nur nach einem Trauma vorkommen. Lediglich die Kombination und Intensität der Gesundheitsstörungen sind für den Zustand nach dem Trauma so typisch, dass sich die Zusammenfassung unter einem speziellen Begriff durchgesetzt hat. Wie oben schon die Ängste der Klägerin als unspezifisch erkannt wurden, ist auch die Depression eine "Volkskrankheit", mit der die Sozialmedizin auch von Millionen Rentenbewerbern ohne Gewalt- oder Unfallerfahrung konfrontiert wird. Und etwa gar eine vegetative Übererregtheit kann bereits durch eine Untersuchungssituation bedingt sein und drei Jahrzehnte nach einem traumatisierenden Ereignis nicht mehr als Ausdruck eines immer noch anhaltenden Schreckens angesehen werden. Systematisch fehlerhaft ist es im Übrigen, bei Diagnose und Gewichtung von Gesundheitsstörungen zu einer posttraumatischen Belastungsstörung noch Ängste und Depressionen hinzu zu addieren, nachdem diese gerade als Bestandteile der posttraumatischen Belastungsstörung erkannt wurden. Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung vergeblich versucht, die Klägerin für eine offenere Betrachtung ihrer Lebensgeschichte zu gewinnen, aus der sie selbst mit einer Verbesserung ihrer Lebensqualität einen weit höheren Gewinn ziehen würde als den finanziell messbaren Vorteil einer Versorgungsleistung. Auf eine solche besteht nach sorgfältiger Sachverhaltsermittlung kein Anspruch. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
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