S 2 KR 722/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 2 KR 722/09
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Bescheide vom 20.1.2009 und 25.3.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.7.2009 verurteilt, den Kläger familienversichert in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 1.8.2008 bis 31.1.2010 zu führen.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger über seine Schwester auf Grund einer Kafala nach marokkanischem Recht familienversichert in der gesetzlichen Krankenversi-cherung bei der Beklagten ist. Der 1994 geborene Kläger ist marokkanische Staatsangehörige und Bruder von Frau A., geboren, marokkanische und italienische Staatsangehörige. Sie nimmt die gesetzlichen Vertretung des nach deutschem Recht Minderjährigen Klägers wahr. Frau A. hat am 12.12.2008 durch das Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt B-Stadt eine Daueraufenthaltserlaubnis für Deutschland erhalten und hat zusätzlich als italienische Staatsangehörige das Recht der Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union.

Am 31.7.2008 haben die Notare M. L. und M. T., beide in der Familienrechtsabteilung des Amtsgerichts in C-Stadt, Königreich Marokko tätig, eine Kafala entgegengenommen, die Frau A. M., Witwe, Marokkanerin, gegenüber ihrer Tochter Frau S. A., Marokkanerin, ansässig in Deutschland, anwesend zur Zeit in C-Stadt, über den Kläger ausgesprochen hat. Die Urkunde des Amtsgerichts C-Stadt, die mit einem Legalisationsvermerk der Konsularabteilung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland im Königreich Marokko in D-Stadt vom 11. August 2008 gemäß § 13 Abs. 2 Konsulargesetz versehen war, bestätigt, dass der Vater des Klägers am 24.5.2007 verstorben ist und die Mutter ihrer Tochter S. A. die Kafala ihres Kindes übergibt, da sie Witwe ist und nicht fähig ist, die Lebenskosten des Kindes zu übernehmen. Die Schwester und gesetzliche Vertreterin des Klägers hat der Kafala zugestimmt und sie übernommen. Ausweislich der Urkunde des Amtsgerichts von C-Stadt wird sie sich um ihn völlig kümmern. Sie verpflichtet sich weiter, ebenfalls alle amtlichen Unterlagen zu beantragen und darf den Kläger inner- und außerhalb Marokkos besonders nach Deutschland mitnehmen. Die Urkunde trägt die Unterschriften der "Ehe-partner (sic), beiden Notare und die Beglaubigung des Gerichtsnotars von C-Stadt vom 8.4.2000". Die Kafala liegt in amtlich beglaubigter Übersetzung vom 7.8.2008 aus dem Arabischen vor. Am 19.11.2009 hat die Schwester und gesetzliche Vertreterin des Klägers Antrag auf Familienversicherung unter Vorlage der Kafala ab dem 15.1.2009 gestellt. Im Rahmen der Vorbereitung der Verwaltungsentscheidung hat die Beklagte die hausinterne Auskunft per Mail erhalten, dass die Kafala keine Verwandtschaftsbeziehung und elterliche Personensorge für Kinder begründet. Es werde lediglich eine Unterhalts- und Beistandsverpflichtung eingegangen. Der Teamleiterkundenservice bei der Beklagten schlage vor, dass sich die gesetzliche Vertreterin zum Jugendamt begebe und dort prüfen und bestätigen lasse, ob der Kläger als Adoptivkind gemäß § 1741 BGB oder als Pflegekind gemäß § 58 Abs. 2 Nr. 2 SGB I angesehen werde.

Mit Bescheid vom 20. Januar 2009 hat die Beklagte die Familienversicherung aufgrund der vorliegenden Unterlagen abgelehnt und auf den fehlenden Status eines Adoptivkindes oder Fehlen der Pflegschaft verwiesen. Die Beklagte hat eine Beratung beim Jugendamt der Landeshauptstadt B-Stadt empfohlen.

Der Kläger hat am 13.2.2009 durch seinen Bevollmächtigten vorgetragen, dass das Sorgerecht nach deutschem Recht dem Kläger eine weitaus stärkere rechtliche Stellung ein-räume als die bloße Pflegschaft, die die Beklagte offensichtlich für den Abschluss einer Familienversicherung genügen lasse. Die geforderte Pflegschaft könne die gesetzliche Vertreterin nicht übernehmen, da die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen wür-den. Eine Pflegschaft könne entweder über Volljährige errichtet werden oder über einen Minderjährigen im Wege einer Ergänzungspflegschaft für die Abwicklung bestimmter Geschäfte, bei denen die Geschäftsfähigkeit des Minderjährigen unmittelbar betroffen sei. Beide Voraussetzungen lägen aber nicht vor.

Der Kläger hat durch seinen Bevollmächtigten weiter eine Ausarbeitung wissenschaftlichen Mitarbeitern I. R. einer AG über das internationale Privatrecht im Wintersemester 2003/2004 (ohne Namensnennung der Universität) vorgelegt.

Mit Bescheid vom 25.3.2009 hat die Beklagte erneut eine Familienversicherung abgelehnt und festgestellt, dass die Kafala ein Familienrechtsverhältnis nicht begründen würde. Ein Rechtsverhältnis, das gemäß internationalem Privatrecht dem Recht eines anderen Staates unterliegt und nach diesem Recht bestehe reiche nur aus, wenn es dem Rechtsverhältnis im Geltungsbereich dieses Gesetzes entspräche (§ 34 Abs. 1 SGB I). Die Kafala begründe keine Verwandtschaftsbeziehung zwischen Kindern und dem Annehmenden. Es werde lediglich eine Unterhalts- und Beistandsverpflichtung eingegangen.

Der Bevollmächtigte hat am 23.3.2009 förmlich Widerspruch eingelegt. Mit Widerspruchsbescheid vom 1.7.2009 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass im Rahmen der Familienversicherung unter bestimmten Voraussetzungen neben dem Ehegatten auch Pflegekinder gemäß § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I versichert werden können, wenn auf Dauer der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland bestehe. Die Kafala finde jedoch keine Anwendung auf Vorschriften des Sozialgesetzbuchs.

Der Kläger hat am 3.8.2009 Klage zum Sozialgericht München eingereicht und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger als marokkanischer Staatsangehöriger im Juli 2008 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sei und seitdem bei seiner Schwester und gesetzlichen Vertreterin in B-Stadt lebe. In der Kafala werde das Recht der Personensorge für den Kläger auf die Schwester übertragen. Ein der Kafala entsprechendes Rechtsinstitut gebe es nach deutschem Recht nicht. Die Kafala erfülle aber den Zweck einer Pflegschaft über ein noch minderjähriges Kind. Art. 21 EGBGB spreche zwar von Adoption, erfasse aber auch vergleichbare Tatbestände bezüglich eines Pflegeverhältnisses zu einem Kind. Die Kafala wirke adoptionsähnlich und in rechtlicher Ausgestaltung stärker als eine bloße Pflegschaft. Beim Kläger würde es sich um ein Pflegekind gemäß § 56 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 SGB I handeln. Der Bevollmächtigte hat weiter den Reisepass des Klägers vorgelegt. Dieser enthält ein Schengenvisum vom 16.7.2008, das von der deutschen Botschaft in Casablanca ausgestellt worden ist, sowie eine Aussetzung der Abschiebung (Duldung) des Kreisverwaltungsreferats der Landeshauptstadt B-Stadt, die gültig bis zum 23.2.2010 ist.

Nach Aufforderung des Gerichts hat die Beklagte eine Stellungnahme des GKV-Spitzenverbandes vom 27.1.2010 (Bl. 95/96 der Gerichtsakte) vorgelegt. Der GKV-Spitzenverband hat am 19.10.2010 zur Anwendung des deutsch-marokkanischen Sozial-versicherungsabkommens eine Stellungnahme der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland in 53177 Bonn vom 23.3.2010 eingeholt, die aus dem Französischen übersetzt wurde und sich auf Bl. 67 der Gerichtsakte befindet. Danach ist das Gesetz 115/01 des Königreichs Marokko über verlassene Kinder einschlägig, das die Kafala als Verpflichtung definiert, den Schutz, die Erziehung und den Unterhalt eines verlassenen minderjährigen Kindes so zu übernehmen, wie es ein Vater für seine Kinder täte. Im Gegensatz zu der nach Koran verbotenen Adoption, begründet die Kafala keinen Anspruch auf Kindschaft oder Erbschaft (Art. 2 des Gesetzes Nr. 15/01 des Königreichs Marokko).

Im letzten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 14.3.2012 ha-ben die Beteiligten hinsichtlich der Pflegepflichtversicherung vergleichsweise vereinbart, dass die Pflegepflichtversicherung des Klägers entsprechend dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens wirkungsgleich nachvollzogen wird.

Der Klägerbevollmächtigte beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 20.1.2009 und 25.3.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.7.2009 zu verurteilen, den Kläger familienversichert in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 1.8.2009 bis 31.1.2010 zu führen. Der Beklagtenvertreter beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte widersetzt sich dem klägerischen Begehren unter Bezugnahme auf ihren Widerspruchsbescheid. Darüber hinaus hält sie die Kafala nicht für ausreichend, um ein Pflegekindverhältnis zu begründen. Weiter halte sie das deutsch-marokkanische Sozialversicherungsabkommen in Übereinstimmung mit dem GKV-Spitzenverband für nicht ein-schlägig.

Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren neben den Beklagtenakten die Akten des anhängigen Sozialgerichtsvefahrens. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – auf den gesamten Akteninhalt und insbesondere auf die gewechselten Schriftsätze sowie die Stellungnahmen des GKV-Spitzenverbandes und der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die zum sachlich (§ 51 SGG) und örtlich (§ 57 SGG) zuständigen Sozialgericht München form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig, erweist sich in vollem Umfang als begründet. Das Sozialgericht ist örtlich zuständig, da der Kläger rechtmäßig bei seiner Schwester zum Zeitpunkt der Klageerhebung lebt. Ein Schengenvisum und eine ausländerrechtliche Duldung durch das KVR der LH B-Stadt für den Kläger lagen vor. Die Schwester des Klägers konnte den Kläger auf Grund des durch die Kafala (letzter Satz) eingeräumten Aufenthaltsbestimmungsrechts rechtswirksam nach Deutschland mitneh-men. Die Klage ist als Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig. Das Familienversicherungsverhältnis ist ein Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten. Das besondere Feststellungsinteresse liegt vor, da zumindest für einen möglichen Zugang zur KVdR Vorversicherungszeiten in der GKV von Bedeutung sein können und Ansprüche aus der Pflegeversicherung entstehen können (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Zum anderen ist nicht auszuschließen ist, dass Versicherungszeiten, die in der gesetzlichen Krankenversicherung zurückgelegt werden, für andere Leistungsansprüche Grundlage sein können.

2. Die Bescheide der Beklagten vom 20.1.2009 und 25.3.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1.7.2009 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Es ist deshalb festzustellen, dass der Kläger familienversichert in der GKV vom 1.8.2009 bis 31.1.2010 bei der Beklagten zu führen ist. Streitgegenständlich ist der Zeitraum vom 3.8.2008 bis 31.1.2010 wie vom Klägerbevollmächtigten beantragt. Ab dem 1.2.2010 ist der Kläger weiter verzogen nach Belgien, so dass die Familienversicherung über die Schwester nicht mehr streitgegenständlich ist.

3. Der Kläger hat einen Anspruch auf Aufnahme in der Familienversicherung über seine bei der Beklagten pflichtversicherte Schwester. Der Versichertenstatus der Schwester als Stammversicherte bei der Beklagten wird nicht geprüft, da er zu keiner Zeit von den Beteiligten bestritten wurde. Nach § 10 Abs. 1 SGB V sind in der Familienversicherung versichert der Ehegatte, der Lebenspartner und die Kinder von Mitgliedern, wenn diese Familienangehörigen ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben, nicht selbst gesetzlich oder frei-willig versichert sind, nicht versicherungsfrei oder hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind und kein monatliches Gesamteinkommen haben, das regelmäßig ein Siebtel der mo-natlichen Bezugsgröße überschreitet. Gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB V sind Kindern hierbei gleichgestellt die Pflegekinder im Sinne von § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I. Das Gesetz definiert Pflegekinder als Kinder, die mit den Berechtigten durch einen auf längere Zeit angelegtes Pflegeverhältnis in häuslicher Gemeinschaft die Kinder mit ihren Eltern ver-bunden sind.

4. Vorliegenden Rechtsstreit liegt zwischen Schwester und dem Kläger ein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne von § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB V i.V.m. § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I vermittelt über die Kafala vor. Die Kafala ist das familienrechtliche Institut gemäß Art. 24 Abs. 1 Satz 1 EGBGB i. V.m. § 34 Abs. 1 SGB I anzuerkennen ist. Art. 22 Abs. 1 S.1 EGBGB betrifft die Annahme als Kind, die hier wegen der Verweisung auf § 56 Abs. 2 Nr. 2 SGB I (Pflegekind) nicht einschlägig ist. Nachdem die gesetzliche Vertreterin und Schwester sowie der Kläger und Bruder beide marokkanische Staatsangehörige sind, un-terliegt die Entstehung, Änderung oder Beendigung einer Pflegschaft als Kind (= Pflege-kind im Sinne von § 56 Abs.2 Nr.2 SGB I) dem Recht des Staates dem die Annehmende bei der Annahme angehört. Das ist im vorliegenden Fall das Recht des Königreichs Marokko. Nach Art. 4 Abs. 1 S.1 EGBGB nimmt Marokko die Rückverweisung an. Hinsicht der Beschreibung der Kafala, der Rechtsgrundlagen und der Rechtswirkungen verweist das Gericht auf die Stellungnahme der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland in 53177 Bonn vom 23.3.2010, die aus dem Französischen übersetzt wurde und sich auf Bl. 67 der Gerichtsakte befindet. Die Stellungnahme der Deutschen Verbindungsstelle Krankenversicherung Ausland nach § 219a SGB V stellt für das Gericht ein antizipiertes, weil nicht vom Gericht in Auftrag gegebenes, Sachverständigengutachten zum Marokkanischen Recht dar. Das Gericht hat keine gesicherten Kenntnisse über das Recht des Königreichs Marokko.

5. Die Kafala ist wirksam begründet, da sie vor dem ersichtlich zuständigen Amtsgericht des Königreichs Marokko abgeschlossen wurde und die entsprechende Urkunde durch die deutsche Botschaft in D-Stadt nach den Bestimmungen des § 13 Abs. 2 Konsulargesetzes legalisiert wurde. Damit ist die legalisierte Urkunde, nachdem sie auch in amtlich beglaubigter Übersetzung in die deutsche Sprache vorliegt, im deutschen Rechtsverkehr vollumfänglich gültig und anzuerkennen. Unschwer lässt sich der Urkunde entnehmen, dass das Kafala ein Betreuungs- und Erziehungsverhältnis verbunden mit einem internationalen Aufenthaltsbestimmungsrecht darstellt und von einer familienähnlichen ideellen Bindung zwischen Bruder und Schwester getragen wird. Hinsichtlich der Dauer ist keine Befristung aus der Urkunde ersichtlich.

6. Die deutsche Verwaltungsrechtsprechung hat sich im Rahmen der Wirksamkeit von internationalen Adoptionen oder bei der Erlangung von Aufenthaltstiteln mit dem Begriff und den Rechtswirkungen der Kafala befasst und eine Abgrenzung von der deutschrecht-lichen Adoption vorgenommen. Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Kafala nach marokkanischem Recht kein Verwandtschaftsverhältnis begründet. Das dortige Rechtssystem sieht eine Annahme an Kindesstatt mit ihren weitreichenden Rechtswirkungen nicht vor. Adoptionen werden vielmehr ausdrücklich als nichtig beurteilt. Vielmehr begründet die Kafala nur ein Pflegeverhältnis zwischen dem Kläger und seinen Pflegeeltern. Hinsichtlich des Aufenthaltsrechts begründet eine Kafala zwischen dem Klä-ger und seinen in Deutschland lebenden Pflegeeltern rechtfertigt aber nicht die Annahme eines begründeten Falles im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Zwar ist zum 1. Ja-nuar 2011 das Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) in Deutschland in Kraft getreten (BGBl II 2009, 602; 2010, 1527). Dieses sieht ein zwischenstaatliches Verfahren zur Betreuung eines Kindes durch Kafala in einem anderen Vertragsstaat vor (Art. 33 KSÜ). Es kann offenbleiben, ob sich daraus in Verbindung mit den entsprechenden Anpassun-gen im deutschen Recht (vgl. Gesetz zur Änderung des Internationalen Familienrechts-verfahrensgesetzes vom 25. Juni 2009, BGBl I S. 1594) eine Rechtsgrundlage für die Erteilung eines Visums ergibt. Selbst wenn dies der Fall wäre, liegen die Voraussetzungen nach Art. 33 KSÜ nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist nämlich - ähnlich wie bei der Adop-tion eines im Ausland lebenden Kindes - die Durchführung eines Verfahrens der zwischenstaatlichen Abstimmung erforderlich, das hier nicht durchgeführt worden ist. Nach Art. 33 KSÜ bedarf es bei der Betreuung eines Kindes durch Kafala in einer Pflegefamilie in einem anderen Vertragsstaat eines begründeten Vorschlags der zuständigen Behörde des ersuchenden Staates (hier: Marokkos) - Art. 33 Abs. 1 KSÜ - und der Zustimmung der zuständigen Behörde des ersuchten Staates (hier: Deutschlands) zur Betreuung - Art. 33 Abs. 2 KSÜ. An beiden Voraussetzungen fehlt es im vom BVerwG entschiedenen Fall (So zitiert aus BVerwG Urteil vom 10.3.11, Az.1 C 7/10 und BVerwG Urteil vom 26.10.2010, Az. 1 C 16/09 und VG B-Stadt Urteil vom 21.4.2010 Az. M 18 K 09.4652 alle nach juris).

7. Das Bayerische Landessozialgericht hat in seiner rechtkräftigen Entscheidung vom 9.3.2005, Az. L 4 KR 173/02 bei der Prüfung der Familienversicherung die Anwendung der Rechtsprechung des BSG in anderen Sozialversicherungszweigen zum Pflegekinder-recht eröffnet. Das Bundessozialgericht hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 14.11.1961 Az.: 11 RV 20/61 entschieden, dass der Begriff des Pflegekindes (im ent-schiedenen Fall allerdings für § 45 Abs. 2 Nr. 5 BVG) ein Verhältnis voraussetzt, das durch ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis gekennzeichnet ist, das von einer familienähnlichen ideellen Bindung getragen wird und auf die Dauer angelegt ist. Ein solches Verhältnis kann auch zwischen Geschwistern bestehen, setzt aber bei einem geistig gesunden Pflegekind einen erheblichen Altersunterschied zwischen den Ge-schwistern voraus und muss schon in der Kindheit des Pflegebefohlenen entstanden sein.

Der Kläger erfüllt uneingeschränkt die Voraussetzungen, wie sie das Bundessozialgericht festgelegt hat. Der Kläger wurde in den Haushalt der Schwester voll aufgenommen, wurde von seiner Schwester, die eine Arbeitsstelle in einem Biomarkt in der D-Straße / Ecke E-Straße in B-Stadt hatte, voll unterhalten und hat die Volksschule am F-Straße in B-Stadt (Sonderklasse für Ausländer) besucht, an die sie seine Schwester als gesetzliche Vertreterin angemeldet hatte. Die Schwester des Klägers hat durchgehend Kindergeld für den Kläger durch die zuständigen Behörden in Deutschland bezogen, was allein schon ein schwerwiegendes Indiz darstellt, das ein anderer Sozialleistungsträger die Kafala aner-kannt hat. Das BSG hat ausdrücklich zugelassen, dass Pflegekindsverhältnisse auch zwischen Ge-schwistern bestehen können, was im vorliegenden Fall gegeben ist. Weiter setzt das BSG voraus, dass der Altersunterschied zwischen den Geschwistern erheblich sein muss und das Pflegekindverhältnis schon in der Kindheit des Pflegebefohlenen entstanden sein muss. Beides liegt im vorliegenden Rechtsstreit unstreitig vor. Der Kläger ist 1994 geboren und war zum Zeitpunkt der Ausstellung der Kafala am 31.7.2008 14 Jahre alt, somit nach deutschem Recht minderjährig. Die Schwester des Klägers ist 1979 geboren und war zum Zeitpunkt der Übernahme der Kafala am 31.7.2008 knapp 29 Jahre alt. Im Sinne des o.a. BSG-Urteils ist der Altersunterschied von ca. 15 Lebensjahren als erheblich zu bezeichnen. Schon aus diesen Feststellungen ergibt sich ein An-spruch des Klägers auf Familienversicherung.

8. Darüber hinaus sieht das Sozialgericht aufgrund des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Marokko über soziale Sicherheit vom 25. März 1981 BGBl. 1986 II Seite 137 ff. (im Folgenden –SVAbk-) die Verpflichtung der Bun-desrepublik Deutschland und damit auch der Beklagten gegeben, die Entscheidungen des Königreichs Marokko in familienrechtlicher Hinsicht anzuerkennen (§ 30 Abs. 2 SGB I). Zum einen umfasst der Geltungsbereich des Abkommens gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a SVAbk die Krankenversicherung. Zum anderen statuiert Art. 4 Abs. 1 SVAbk die Gleichbehandlung von marokkanischen Staatsangehörigen mit Deutschen, die sich gewöhnlich im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Ausdrücklich sieht Art. 5 SVAbk vor, dass Ansprüche auf Geld- und Sachleistungen und deren Gewährung und Zahlung nicht für die in Art. 3 SVAbk genannten Personen, die sich gewöhnlich oder vorübergehend im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gilt. Hinsichtlich der Versicherungspflicht gibt Art. 13 SVAbk vor, dass die beiden Vertragsstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Leistung zusammenzu-rechnen sind, nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Das Abkommen sieht in seiner gesamten Wertung die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen beider Vertragsstaaten vor. Nachdem beispielsweise die familienrechtlichen Bestimmungen über die Ehe zwischen Deutschland und Marokko anerkannt werden (so BSG Urteil vom 30.8.2000, B 5 RJ 4/00 R), obwohl in Deutschland die Mehrehe verboten ist, aber nach islamischen Recht zulässig ist, kann nichts anderes für die Kafala gelten, die nach Auffassung des Gerichts dem deutschrechtlichen Pflegekindstatus entspricht. Die konkrete Ausgestaltung der Kafala in der notariellen Urkunde ist erheblich konkreter als es der allgemeine Rechtsbegriff des Pflegekindes oder der Pflegschaft umschreibt. Im übrigen wurde bereits ausgeführt, dass der deutsche ordre public (Art. 6 EGBGB) einer Anerkennung der Kafala nicht entgegen steht.

9. Das bereits unter 6. erwähnte Haager Kinderschutzabkommen (KSA) ist im vorliegen-den Rechtstreit nicht einschlägig, da es erst zum 1.1.2011 für Deutschland in Kraft getreten ist. Die Vorläuferregelung des Haager Minderjährigenschutzabkommens, die durch das KSA ersetzt wurde, ist in ihrem Anwendungsbereich nicht auf den vorliegenden Fall eröffnet, da die Soziale Sicherheit nicht Regelungsgegenstand ist.

10. Der Klage war deshalb vollumfänglich im beantragten Umfang stattzugeben.

11. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt der Tatsache Rechnung, dass die klägerische Seite in vollem Umfang obsiegt hat.
Rechtskraft
Aus
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