S 30 R 1783/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 1783/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.03.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2011 verpflichtet, den Kläger für die Zeit ab 01.10.2010 von der Versicherungspflicht zu befreien.

II. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen der Beteiligten ist die Befreiung des Klägers von der Versicherungspflicht. Der 1963 geborene Kläger teilte der Beklagten am 27.10.2010 mit, dass er bei inhaltlich unveränderter Tätigkeit zum 01.10.2010 seinen Arbeitgeber gewechselt habe. Er erwarte die Fortsetzung seiner schon bisherigen Befreiung von der Versicherungspflicht aufgrund anwaltlicher Tätigkeit. Es folgte die vom Arbeitgeber B. Consulting gelieferte Beschreibung dieser Tätigkeit als Senior Partner und Managing Director. Der Kläger werde seine Geschäftsführerkollegen innerhalb des Unternehmens sowie die Kunden in Rechtsfragen beraten durch die fundierte und unabhängige Analyse von betriebsrelevanten Rechtsfragen und die Erarbeitung, Darstellung und Bewertung von Lösungsmöglichkeiten. Dabei stehe ihm eine umfassende Entscheidungsbefugnis im Kontakt mit den Kunden zu. Zu-dem habe er durch seine Tätigkeit als Geschäftsführer im partnerschaftlich geführten Unternehmen einen wesentlichen Anteil an den Entscheidungsprozessen innerhalb des Unternehmens. Als Geschäftsführer werde er auch im Wege der Rechtsgestaltung tätig wer-den, indem er Vertragsverhandlungen mit Kunden führen und etwa bei der Schließung von Arbeits- und Aufhebungsverträgen für das Unternehmen auftreten werde. Durch die schriftliche Ausarbeitung abstrakter Regelungskomplexe und durch die Erstellung von Präsentationen für Kunden oder interne Gremien sowie durch mündliche Darstellung vor einem signifikanten Zuhörerkreis werde er auch rechtsvermittelnd tätig werden. Nach Eingang dieses Textes bei der Beklagten wurden die jeweils für Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung maßgeblichen Absätze per Bleistift mit den Vermerken "RB", "RE", "RG" und "RV" versehen. Auf Anforderung der Beklagten wurde am 23.12.2010 noch eine ausführlicher gehaltene Fassung der Tätigkeitsbeschreibung nachgereicht. Hierbei wurde die Spezialisierung des Klägers auf das Versicherungs- und Versicherungsaufsichtsrecht herausgearbeitet. Der Kläger sei an der Entwicklung neuer Standortkonzepte mit weitreichenden Personalum-baumaßnahmen beteiligt und nehme an Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen über die rechtliche Umsetzbarkeit bestimmter Restrukturierungsschritte bei Unternehmen und an der Entscheidung über die arbeitsrechtlichen Konsequenzen der ermittelten Vorgehensalternativen wesentlich teil. Je nach Fallgestaltung werde er als Volljurist und Geschäftsführer auch selbstständig durch Führen von Vertrags- und Einigungsverhandlungen tätig. Im Rahmen der internen Weiterbildung und Wissensvermittlung zähle es zu den Aufgaben des Klägers, rechtliche Grundfragen und komplexe Zusammenhänge aufzua-beiten und anschaulich darzustellen. Dies geschehe schriftlich, mündlich und telefonisch. Daraufhin erließ die Beklagte am 07.03.2011 einen Bescheid, mit dem die weitere Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) entsprechend dem schon ergangenen Bescheid vom 15.12.1993 abgelehnt wurde. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger übe bei seinem Arbeitgeber keine anwaltliche Tätigkeit aus. Sie setze nicht objektiv zwingend die Qualifikation als Volljurist voraus. Der Kläger sei ein GmbH-Geschäftsführer und erfülle die entsprechenden Pflichten nach dem GmbH-Gesetz. Außerdem bestehe seine Aufgabe vornehmlich in der wirtschaftlichen Be-ratung von Versicherungen und Finanzdienstleistern. Für beide Bereiche sei eine umfangreiche juristische Ausbildung zwar vielfach nützlich, doch sei die Tätigkeit als Geschäftsführer einer GmbH nach objektiven Maßstäben nicht ausschließlich für Juristen mit der Befähigung zum Richteramt zugänglich. Wenn aber eine Tätigkeit objektiv nicht zwingend eine Qualifikation als Volljurist voraussetze, könne es sich nicht um eine anwaltliche Tätigkeit handeln. Der Kläger erhob hiergegen am 17.03.2011 Widerspruch. Er berief sich auf ein Befreiungsrecht von Rechtsanwälten auch dann, wenn diese bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber beschäftigt sind, wenn sie dort eine für einen Rechtsanwalt typische Tätigkeit ausüben. Die Tätigkeitsfelder Rechtsberatung, Rechtsentscheidung, Rechtsgestaltung und Rechtsvermittlung seien bei ihm wie gefordert kumulativ erfüllt. Er wiederholte und erläuterte die Ausfüllung dieser vier Merkmale durch seine konkreten beruflichen Aufgaben. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.06.2011 zu-rück. Darin wurde im wesentlichen der Wortlaut des Ausgangsbescheides wiederholt. Die Klage trägt weiterhin vor, der Kläger sei ab 01.10.2010 weiterhin von der Versicherungspflicht zu befreien. Zur beruflichen Biografie des Klägers wurde erläutert, dass er Volljurist und Diplomkaufmann ist und seit 22.09.1993 als Rechtsanwalt zugelassen ist. Er sei seit 1993 bei unterschiedlichen vergleichbaren Unternehmensberatungen mit identi-schem Tätigkeitsbereich angestellt gewesen und jeweils von der Rentenversicherungspflicht befreit worden. Inzwischen seien 20 bis 25 % der zugelassenen Rechtsanwälte bei nichtanwaltlichen Arbeitgebern anwaltlich beschäftigt. Unter anwaltlicher Tätigkeit sei eine berufstypische Tätigkeit als Rechtsanwalt zu verstehen. Hierbei müsse heutzutage von einer Vielzahl anwaltlicher Tätigkeiten ausgegangen werden, die nicht mehr nur den forensisch, also vor Gericht, auftretenden Rechtsanwalt umfassen. Ein einheitliches Berufsbild anwaltlicher Tätigkeit sei heute kaum mehr festzustellen. Die Anforderungen an die vier Merkmale Rechtsberatung, Rechtsgestaltung, Rechtsvermittlung und Rechtsentscheidung dürften nicht überspannt werden. Zu beachten sei auch, dass ein angestellter Rechtsanwalt in einer Kanzlei in der Regel nicht alle Merkmale erfülle. Er werde überwiegend rechtsberatend und rechtsgestaltend tätig, selten jedoch trete er rechtsvermittelnd auf und die Befugnis zur Rechtsentscheidung habe er in der Regel überhaupt nicht. Das Sozialgericht München wird mit dem rechtskräftigen Urteil vom 30.09.2011 Az. S 12 R 370/11 zitiert: "Der Vortrag der Beklagten, die Tätigkeit des Klägers erfordere die Eigen-schaft als Volljurist nicht, wurde weder nachvollziehbar begründet noch ist dieses Kriterium ein anerkannter Ausschlussgrund für die Befreiung." Die beigeladene C. bekundete, es sei allein auf den gesetzlichen Tatbestand sowie die "vier Kriterien" anwaltlicher Tätigkeit abzustellen. Die Forderung, dass die gegenständliche Angestelltentätigkeit ausschließlich und vollständig nur von einem Rechtsanwalt aus-geübt bzw. ausgefüllt werden kann, finde weder im Gesetz noch in den vier Kriterien eine Stütze. Die Beklagte hielt entgegen, als zur Befreiung berechtigende berufsspezifische Beschäftigungen kämen nur solche in Betracht, für die die durch das zweite juristische Staatsexamen erlangte Befähigung zum Richteramt objektiv unabdingbare Einstellungsvorausset-zung sei. Formal könnten die geschilderten Aufgaben des Klägers den vier Kriterien zu-geordnet werden. In der Gesamtschau könne jedoch nicht mehr von einer anwaltlichen Tätigkeit ausgegangen werden, sondern müsse von einer juristisch-sachbearbeitenden Tätigkeit ausgegangen werden, sofern bei einem Arbeitgeber abstrakt-generelle Vorgaben zur Lösung bestimmter Rechtsfragen bestünden bzw. die Tätigkeit aufgrund der in dem jeweiligen Rechtsgebiet existierenden Kodifizierung weitgehend formenstreng und standardisiert sei. Auch könne man von einem Organ der Rechtspflege im Sinne von § 2 Bundesrechtsanwaltsordnung nicht sprechen, wenn nicht mehr die Rechtsanwendung den deutlichen Schwerpunkt der Tätigkeit bilde, sondern diese durch personalführende und kaufmännische Aufgaben geprägt werde. Entsprechend einem Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 22.06.2011 Az. S 11 R 1277/10 sei zur Vorbeugung gegen Manipulationen in der Tätigkeitsdarstellung eine Inhaltskontrolle dahingehend unabdingbar, die objektiven Anhaltspunkte bei der Gesamtbeurteilung heranzuziehen. Nur damit könne einer nachträglichen Ausgestaltung im Rahmen des Vortrags zur Stellenbeschreibung mit dem Ziel der Befreiung von der Rentenversicherungspflicht entgegengewirkt werden. Der Vertreter des Klägers verweist auf eine dem zitierten Urteil zu Grunde liegende völlig andere Sachverhaltsgestaltung, in der das Merkmal der Rechtsentscheidung gerade nicht als erfüllt angesehen wurde.

Der Kläger beantragt, der Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 07.03.2011 in der Fas-sung des Widerspruchsbescheids vom 10.06.2011 wird aufgehoben. Ferner wird beantragt, dass der Antragsteller – Herr Rechtsanwalt Dr. A. – für seine anwaltliche Tätigkeit bei der B. Consulting GmbH gem. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI vom 01.10.2010 an von der Versicherungspflicht in der Deutschen Rentenversicherung befreit wird.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist auch begründet. § 6 Absatz 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI gebietet auf Antrag die Befreiung derjenigen Beschäftigten und selbstständig Tätigen von der Versicherungspflicht, die wegen ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit kraft Gesetzes Mitglied einer öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung ihrer Berufsgruppe und zugleich kraft Gesetzes Mitglied einer berufsständischen Kammer sind. Mit weiteren vorliegend unstrittigen Anforderungen hat der Gesetzgeber eine in den neunziger Jahren beobachtete Tendenz beschränkt, immer weiteren Berufsgruppen durch Schaffung oder Ausweitung von Versorgungswerken außerhalb der Rentenversicherung die Befreiung hiervon zu ermöglichen. Ein Rentenversicherungsträger hat sich bei der Prüfung einer kraft Gesetzes eintretenden Versicherungsfreiheit nach § 5 SGB VI und einer auf Antrag einzuräumenden Befreiung von der Versicherungspflicht nach § 6 SGB VI zunächst bei mehreren Varianten in hohem Maße an den Entscheidungen eines jeweils anderen Rechtsträgers zu orientieren. So hat die Rentenversicherung keine Prüfungskompetenz über das für § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 maßgebliche Beamtenverhältnis oder über die Rechtmäßigkeit der Gewährleistungsentscheidung nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI. Auch die Aufnahme eines Volljuristen in die Rechtsanwaltskammer und das ihr zugeordnete Versorgungswerk hat eine erhebliche Tatbestandswirkung. Der Rentenversicherungsträger darf und muss angesichts solcher Aufnahmeentscheidungen zunächst durch-aus annehmen, dass es sich bei der entsprechenden Person um einen Rechtsanwalt handelt. Gleichwohl ist vom Gesetz gedeckt und von der Rechtsprechung anerkannt, dass durch den Rentenversicherungsträger geprüft werden muss, ob die Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung auf genau jener Beschäftigung oder selbst-ständigen Tätigkeit beruht, für die eine Befreiung von der Versicherungspflicht begehrt wird. Eine solche Prüfung könnte im Einzelfall zu dem abweichenden Ergebnis führen, dass beispielsweise eine subalterne Mitarbeit in der Personalabteilung oder der Buchhal-tung eines Unternehmens unter lediglich beiläufiger Nutzung von Rechtskenntnissen ohne berufsspezifischen Zusammenhang mit der zur Mitgliedschaft im Versorgungswerk führenden und nur nachrangig ausgeübten Anwaltstätigkeit bleibt. Für den dem Rentenversicherungsträger erlaubten Beweis einer nichtanwaltlichen Tätig-keit hat die Beklagte selbst die von der Rechtsprechung bestätigten Merkmale erarbeitet, die für eine anwaltliche Tätigkeit bei einem nichtanwaltlichen Arbeitgeber die Merkmale rechtsberatender, rechtsentscheidender, rechtsgestaltender und rechtsvermittelnder Funktionen verlangen. Es muss sich nach diesen Merkmalen um eine Arbeit handeln, - die den beratenden Dialog in schriftlicher und/oder mündlicher Form in Bezug auf konkrete Rechtsangelegenheiten enthält, - die mit Entscheidungskompetenzen etwa zum Abschluss von Verträgen, zu einseitigen Rechtsgeschäften und/oder zur Verhängung von Sanktionen im Rahmen gegebener Vertragssysteme versehen ist, - die sich auf die Formulierung von Regelwerken wie Verträgen oder Satzungen er-streckt - und die ein didaktisches Element mit der Vermittlung von rechtlichem Wissen in den heute zur Verfügung stehenden mündlichen, schriftlichen oder elektronischen Methoden der Weitergabe enthält. Im Sinne einer Negativabgrenzung vom klassischen Anwaltsberuf darf also lediglich der forensische Auftritt mit der Antragstellung in der mündlichen Verhandlung von Gerichten fehlen. Eine solche Breite der juristischen Arbeit wurde für den Kläger mehr als ausreichend dargelegt. Nach der Prüfung der vier Merkmale zur anwaltlichen Qualität juristischer Arbeit hat die Beklagte den Ausweg gesucht, ein fünftes und ein sechstes Merkmal zu prüfen und zu verneinen. "Fünftes Merkmal" war vorliegend die Forderung, dass ein Arbeitgeber für die dem Juri-ten übertragenen Aufgaben überhaupt einen solchen und insbesondere einen zugelassenen Rechtsanwalt benötigt. Die Beklagte überspannt ihre Anforderungen an ein anwaltliches Berufsbild, wenn sie beim Fehlen des forensischen Auftrittes zusätzlich fordert, dass die zu prüfende Tätigkeit zwingend nur von einem Juristen mit beiden Staatsexamen aus-geübt werden kann. Gerade die der Beklagten aus dem eigenen Hause bestens vertraute Struktur eines Rentenversicherungsträgers lässt erkennen, dass beispielsweise Beamte des gehobenen Dienstes ohne universitäre juristische Ausbildung eine ganze Skala ty-pisch juristischer und auch typisch anwaltlicher Tätigkeiten ausüben können und dürfen. Die vorliegende Streitsache ist ein gutes Beispiel: der angegriffene Bescheid wurde nach Sachverhaltsermittlung und Subsumtion von Beamtinnen und Beamten des gehobenen Dienstes oder gleichrangigen Angestellten verfertigt, geprüft und unterzeichnet. Noch nicht einmal für die Widerspruchsbescheide eines Rentenversicherungsträgers ist zwingend ein Jurist verantwortlich. Sogar den für den Rechtsanwalt so typischen Auftritt vor Gericht mit der Antragstellung auf Abweisung der Klage nahm vorliegend ein Beamter des gehobenen Dienstes wahr. Auch auf der Klägerseite hätte nach § 73 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht unbedingt ein Rechtsanwalt auftreten müssen, sondern wäre auch ein Rentenberater oder der Sekretär eines Verbandes hierzu befugt gewesen. Im Hinblick auf diese Beobachtung stellt sich die Aussage der Beklagten als abwegig dar, wonach es sich bei einer Tätigkeit dann nicht um eine anwaltliche Tätigkeit handeln kön-ne, wenn eine Tätigkeit "objektiv nicht zwingend eine Qualifikation als Volljurist voraussetze". Dieser Satz im angegriffenen Widerspruchsbescheid begnügt sich wohlgemerkt nicht mit der Einschätzung, es handele sich bei solchen Tätigkeiten dann möglicherweise um nicht typische oder nicht klassische anwaltliche Tätigkeiten, sondern bestreitet den anwaltlichen Charakter des forensischen Auftritts schlechthin. Weil jedoch alle anderen anwaltlichen Arbeiten wie Studium von Gesetzen, Abfassung rechtlich fundierter Briefe, Verhandlungen mit Arbeitnehmern und sonstigen Vertragspartnern, Formulierung schriftlicher Verträge, Unterricht über Rechtsgebiete und Klageerhebungen unterhalb der Instanzen mit Vertretungszwang ohnehin allen Laien offen stehen, unternimmt es die Beklagte offensichtlich, jede Besonderheit des Berufes des Rechtsanwalts mit dem Hinweis wegzu-definieren, dass jeder einzelne Teilbereich dieses Berufes auch durch nicht universitär ausgebildete Beamte, Betriebswirte oder Fachhochschulabsolventen wahrgenommen werden kann. Es liegt auf der Hand, dass eine Vielzahl von Tätigkeiten sowohl des klassischen Anwalts als auch des Unternehmensanwalts wie übrigens auch des Richters nicht die typisch juristische Qualifikation erfordern, sondern Kenntnisse und Fähigkeiten etwa in den Bereichen von Betriebswirtschaft, Familienpsychologie, Kriminologie und Psychiatrie, Zeitgeschichte, Politik und Medientechnik. Es wäre jedoch absurd, etwa die Kritik des Verteidigers an einem über den Angeklagten im Strafprozess erstellten psychiatrischen Gutachten aus dem Bereich anwaltlicher Tätigkeit mit dem Argument auszugrenzen, dass zu dieser Kritik ein erfahrener Gerichtsreporter genauso gut oder ein ebenfalls forensisch tätiger Psychiater noch besser in der Lage sei. Ebenso abwegig wäre es, die Tätigkeit des Anwalts im Zivilprozess um die Wahrung von Persönlichkeitsrechten gegenüber Medien deshalb als nicht anwaltlich zu bezeichnen, weil beispielsweise ein Historiker oder Politologe die journalistische Polemik gegen das Verhalten des Klägers mit schärferem Hintergrundwissen zurückweisen könnte als der Jurist. Die Beklagte übersieht, dass in vielen Bereichen von Wirtschaftsleben und Gesellschaft rechtliche Regelwerke gestaltet und erklärt werden müssen, erheblichen Beratungsbedarf generieren und auch im Wege der Rechtsentscheidung umgesetzt werden müssen, ohne dass typischerweise oder auch nur häufig gerichtliche Hilfe in Anspruch genommen wird und demgemäß im Sitzungssaal plädiert wird. Man denke an die hoch differenzierten Systeme des "Franchising" und "Branding" im milliardenschweren Wirtschaftszweig der Vermarktung von Markenzeichen, Patenten oder persönlicher Berühmtheit oder an moderne Systeme des internetgestützten Versandhandels. In diesen Bereichen kommt der Ausarbeitung von Muster- und Einzelverträgen, der verlässlichen Beratung und der Wissensvermittlung gegenüber Vertragspartnern mit gegensätzlicher Interessenlage sowie schließlich der Verhängung von Vertragsstrafen oder äußerstenfalls dem Ausschluss aus lukrativen Geschäftsbeziehungen sehr große Bedeutung zu, ohne dass es auch nur in gewisser Regelmäßigkeit zu einem gerichtlichen Streit käme. Einem Arbeitgeber muss es überlassen bleiben, ob er für eine komplexe Tätigkeit mit juristischem Kern einen Rechtsanwalt, einen juristischen Sachbearbeiter, einen Fachhochschulabsolventen oder einen Betriebswirt einstellt. Die Zugehörigkeit zur jeweiligen Berufsgruppe entscheidet sich nach der erworbenen Qualifikation, nach dem Arbeitsvertrag und nach der konkreten Tätigkeit, nicht jedoch nach der theoretischen Ersetzbarkeit durch einen Vertreter einer anderen Berufsgruppe. Angesichts der traditionellen Erfahrung eines Rentenversicherungsträgers mit Fragen der Berufskunde muss eine solche Argumentationslinie als eigentümlich bezeichnet werden. Das Sozialrecht und das Arbeitsrecht sprechen einem gelernten bzw. studierten Maurer, Gärtner, Koch, Fotografen, Journalisten, Kaufmann oder Psychotherapeuten auch nicht ihrer Qualifikation aufgrund der Erfahrung ab, dass in all den genannten Berufszweigen auch begabte Amateure erfolgreich tätig sind und ein Arbeitgeber jeweils die Wahl zwischen der Fachkraft und einem solchen Amateur hat. Als "sechstes Merkmal" fordert die Beklagte schließlich abseits jeder üblichen und aner-kannten Praxis, dass der Kläger nicht als Geschäftsführer einer GmbH zu einem großen Teil der Tätigkeiten verpflichtet sein dürfe, deren Eigenschaft als "anwaltlich" zu diskutieren ist. Auch hierzu findet die Beklagte kein gerichtliches Verständnis. Ob die Befugnis zu der zweifellos mit einem hohen Vertrauensvorschuss verbundenen Bündelung rechtsbera-tender, rechtsgestaltender, rechtsvermittelnder und rechtsentscheidender Funktionen im Einzelfall ganz oder teilweise auf einem Arbeitsvertrag, einer Mitunternehmerschaft in der Kapitalgesellschaft, einer Stellung als deren Geschäftsführer, einer Mitgliedschaft in der Personengesellschaft, einer Aufgabenzuweisung im Rahmen bestehender Hierarchie oder auf einer durch eine persönliche Beziehungen erlangten Stellung im Unternehmen beruht, kann für die Eigenschaft als Rechtsanwalt keinerlei Rolle spielen. Auch bei der Bewertung von Tätigkeiten von Rechtsanwälten in einer Anwaltssozietät spielt selbstverständlich keine Rolle, ob der einzelne Anwalt im Innenverhältnis Angestellter, Sozius oder Sohn des Seniorchefs ist. Die Beklagte hat nach alledem die begehrte Befreiung von der Versicherungspflicht aus-zusprechen. Sie wird zur Vermeidung einer Vielzahl weiterer gerichtlicher Niederlagen akzeptieren müssen, dass die von ihr selbst angewendeten "vier Merkmale" für mehr Bereiche der Rechtsdienstleistung zutreffen als von ihr bislang wahrgenommen wurden. Dass die Abgrenzung zwischen typischer hergebrachter Advokatur und modernen Formen einer außerhalb von Gerichtsgebäuden angesiedelten Anwaltstätigkeit stets aufs Neue aktualisiert werden muss, liegt auf der Hand. So schwer verständlich wie rechtsstaatlich bedenklich ist eine Argumentation, die ein durch Abfrage von Tatbestandsmerkmalen erzieltes Ergebnis noch einer misstrauischen Überprüfung des "Gesamtbildes" unterzieht und auf dieser Basis ins Gegenteil verkehrt. In jedem Bereich der Rechtsanwendung besteht das Risiko einer Abkehr vom Gesetzestext und seiner anerkannten Auslegung, wenn man nach Bejahung aller Voraussetzungen für irgendeine Rechtsfolge etwa aus dem gesammelten Unbehagen über ihre jeweils nur knappe Erfüllung die Konsequenz einer gegenteiligen Entscheidung ziehen dürfte. Im übrigen führt vorliegend gerade der Blick auf das "Gesamtbild" zu einem eindeutigen Ergebnis. Der Kläger ist ersichtlich eine führende Persönlichkeit seines Unternehmens mit zentraler Verantwortung und ganz sicher nicht ein juristischer "Sachbearbeiter". Die Beklagte hätte gut daran getan, ihre endgültige Entscheidung bereits an den zutreffenden Bleistiftvermerken auszurichten, mit denen sie nach dem ersten Eingang einer Tätigkeitsbeschreibung zutreffend die Erfüllung der "vier Merkmale" durch den Kläger bejaht hat. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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