S 4 KN 8/11

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 4 KN 8/11
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid der Beklagten vom 1.10.2010 in der Gestalt des Wi-derspruchsbescheids vom 11.1.2011 wird abgeändert.

II. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger über den 31.10.2010 hinaus bis 31.10.2013 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Weitergewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der 1959 geborene Kläger ist gelernter Maurer und war zuletzt von 1975 bis 2007 als Maurer beschäftigt.

Im Februar 2007 erfolgte eine Reanimation des Klägers bei Kammerflimmern. Im gleichen Monat wurde ein implantierbarer Defibrillator bei ihm implantiert. Mit Bescheid vom 27.7.2009 gewährte die Beklagte dem Kläger befristet Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.10.2009 bis 31.10.2010. Sie ging von einem Leistungsfall mit Rentenantragstel-lung am 17.3.2009 aus.

In der Folge eines Weiterzahlungsantrags vom 14.4.2010 gewährte die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 1.10.2010 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach Aufgabe der knappschaftlich versicherten Beschäftigung ab 1.11.2010 auf Dauer. Die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung über den Wegfallzeitpunkt hinaus lehnte sie ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 11.1.2011 zurück. Grundlage für die Verwaltungsentscheidun-gen waren zwei Gutachten des Internisten und Sozialmediziners Dr. B. und ein Gutachten aus der Praxis des Neurologen und Psychiaters Dr. V ... Dr. B. attestierte nach einer Untersuchung am 17.6.2009 wegen einer vorliegenden koronaren 1-Gefäßerkrankung und Panikstörung ein unter dreistündiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Nach einer erneuten Untersuchung am 18.5.2010 ging er davon aus, dass keine Koronarinsuffizienz mehr vorliege und auch keine Traumaerlebnisse wegen fehlerhaften Auslösungen des Defibrillators in den Jahren 2007 bis 2009 mehr vorhanden sei-en. Auch die orthopädischen Leiden hätten sich gebessert. Der Kläger könne deshalb leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mehr als sechs Stunden täglich verrichten. Die Ärzte der Praxis Dr. V. untersuchten den Kläger am 23.6.2010. Sie attestier-ten ein zu Dr. B. vergleichbares Leistungsbild.

Gegen die Bescheide hat der Kläger am 20.1.2011 Klage zum Sozialgericht München er-hoben. Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte beigezogen, sowie den Internisten und Kardiologen Dr. C. und den Neurologen und Psychiater Dr. D. nach § 106 SGG wie auch den Oberarzt der medizinischen Klinik und Poliklinik I der LMU, Prof. Dr. H., nach § 109 SGG mit der Erstellung von medizinischen Gutachten beauftragt.

Dr. C. hat den Kläger am 26.5.2011 untersucht. Das EKG lag im Normbereich. Der Kläger war bis 75 W belastbar. Die Ergometrie wurde wegen Ermüdung abgebrochen. Der Lungenbefunde war normal. Der Gutachter hat eine gute Funktion des linken Ventrikels fest-gestellt. Er ist der Ansicht gewesen, dass leichte Tätigkeiten vollschichtig mit qualitativen Einschränkungen möglich seien.

Bei der Untersuchung durch Dr. D. am 28.7.2011 hat der Kläger angegeben, dass das letztmalige wahrgenommene Auslösen des Defibrillators circa zwei Jahre zurückliege. Er gehe täglich circa 30 Min mit seinem Hund spazieren und erledige den gesamten Haus-halt und Garten. Der Gutachter hat einen im Wesentlichen unauffälligen neurologischen Befund erhoben mit Ausnahme nur teilweise auslösbarer Reflexe und Gefühlstörungen im linken Bein, rechten Oberschenkel und den Fußinnenknöcheln. Der psychopathologische Befund ist unauffällig gewesen. Dr. D. hat ausgeführt, dass sich aus seinem Fachgebiet keine quantitative Leistungsminderung ergebe.

Prof. Dr. H. hat den Kläger am 15.3.2012 untersucht. Der klinische Befund war mit dem bei Dr. C. und Dr. D. vergleichbar. In der Ergometrie ist der Kläger bis 100 Watt belastbar gewesen. Hinweise auf eine Myokardischämie haben sich nicht ergeben. Der Gutachter hat erstmals im Verfahren den Speicher des implantierten Defibrillators ausgelesen. Aus den klinischen Daten hat sich ergeben, dass seit der Implantation in den Jahren 2007 bis 2009 acht Schocks abgegeben wurden. Im Speicher haben sich zudem Angaben zu ins-gesamt 107 vom Defibrillator als nicht anhaltende ventrikuläre Tachykardien (nsVT) klas-sifizierte Rhythmusereignisse befunden, von denen aufgrund der maximalen Speicherkapazität lediglich die letzten 50 mit zusätzlichen Angaben zu Datum, Uhrzeit, Dauer und Zykluslänge gespeichert worden sind. Diese 50 Rhythmusereignisse sind in den Zeitraum vom 11.5.2010 bis 27.8.2011 gefallen. Der Gutachter hat ausgeführt, dass die vom Defibrillator als nsVT interpretierten Episoden nicht definitiv eingeordnet werden können. Es sei zwar nicht sicher auszuschließen dass tatsächlich nsVT aufgetreten seien. Insgesamt spreche jedoch mehr dagegen als dafür. Grund für diese Unklarheit sei, dass bei dem implantierten Defibrillator nur die Meldung über die klassifizierte Herzrhythmusstörung abrufbar ist, ein gespeichertes zugehöriges EKG aber nicht. Eine abschließende Aussage über das weitere Vorliegen von eventuell bedrohlichen ventrikulären Rhythmusstörungen könne erst nach Wechsel des Defibrillators in ein geeignetes Aggregat mit EKG Speicherung solcher Episoden erfolgen. Bis dahin sei der Kläger zur Vermeidung einer Eigen- und Fremdgefährdung als nicht arbeitsfähig einzustufen. Eine Neubewertung dieser Einschätzung könne frühestens nach einer sechsmonatigen Beobachtungungszeit nach Umrüstung erfolgen. Zusätzlich sei nach Implantation eines Defibrillators beim Kläger zu den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine Erwerbsfähigkeit von mehr als drei Stunden nicht mehr realisierbar, insbesondere im Hinblick auf die erheblichen psychiatrischen Einschränkungen mit inzwischen angstneurotischer Verarbeitung der Defibrillator-Trägerschaft unter stattgehabten Fehlschocks.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 23.11.2012 hat Dr. C. sich den Ausführungen von Prof. Dr. H. bezüglich der Arbeitsunfähigkeit bis zur definitiven Klärung der Rhythmusstörungen angeschlossen. Darüber hinaus hat er grundsätzlich daran festgehalten, dass der Kläger unter Berücksichtigung der internistisch-kardiologischen Probleme noch fähig sei, leichte körperliche Tätigkeiten vollschichtig mit qualitativen Einschränkungen zu verrichten.

Der Kläger beantragt den Bescheid vom 1.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.1.2011 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm über den 31.10.2010 hinaus Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Rechtsstreits wird auf die Gerichtsakte, sowie die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 1.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.1.2011, soweit die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung über den 31.10.2010 hinaus abgelehnt worden ist. Der Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ist nicht Gegenstand des Rechtstreits. Insoweit besteht unstreitig ein Anspruch.

Die Bescheide sind rechtswidrig, soweit eine Rente wegen voller Erwerbsminderung versagt worden ist und verletzen den Kläger insoweit in seinen Rechten. Die Voraussetzungen zur befristeten Weitergewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.10.2010 hinaus liegen beim Kläger vor.

Versicherte haben gemäß §§ 43 Abs. 1, Abs. 2 SGB VI bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweise Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Ar-beitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsge-mindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes min-destens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Ar-beitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die je-weilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Für das Gericht steht fest, dass der Kläger auch über den Wegfallzeitpunkt 31.10.2010 hinaus erwerbsgemindert war und immer noch ist. Dabei stützt sich die Kammer insbesondere auf das Gutachten von Prof. Dr. H. und die ergänzende Stellungnahme des er-fahrenen internistischen Gerichtssachverständigen Dr. C ... Beide Gutachter sind der An-sicht, dass bis zur definitiven Klärung, ob beim Kläger weiterhin nicht anhaltende ventriku-läre Tachykardien (nsVT) vorliegen, Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Arbeitunfähigkeit bezieht sich zur Überzeugung des Gerichts in diesem Fall nicht nur auf die letzte Tätigkeit als Mauer sondern auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Insoweit ist der Begriff der Arbeitsunfähigkeit, wie ihn Prof. Dr. H. verwendet, nur untechnisch zu verstehen. Das ist für die Kammer der einzig logische Schluss aus den Ausführungen der Gut-achter. Zwar unterscheiden sich die Beurteilungsmaßstäbe für Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsminderung. Jedoch liegt zumindest dann Erwerbsminderung im Sinne von § 43 SGB VI vor, wenn entweder rückblickend oder auch prognostisch über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten einem Versicherten keinerlei Arbeit mehr unter den normalen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zumutbar ist. Darauf hat zuletzt auch das Bundessozialgericht im Beschluss vom 31.10.2012, Az B 13 R 107/12 B, hingewiesen. So liegt der Fall auch hier. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass beim Kläger im Zeitraum Mai 2010 bis Februar 2012 nsVT tatsächlich vorlagen und gegebenenfalls auch wei-terhin auftreten, ist ihm bis zur abschließenden Klärung, ob Rhythmusstörungen tatsäch-lich vorliegen oder nicht, keine körperliche Arbeit unter betriebsüblichen Bedingungen zumutbar. Da eine solche Klärung aber erst frühestens sechs Monate nach Austausch des Defibrillators und Einbau eines Aggregats mit EKG-Speicherung medizinisch möglich ist, ist dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung befristet weiter zu gewäh-ren. Im Übrigen weist das Gericht darauf hin, dass der Kläger nicht verpflichtet ist, einen Austausch des Gerätes vorzeitig vornehmen zu lassen. Der Austausch ist ein nicht duldungspflichtiger Eingriff. Die Stellungnahme von Frau Dr. S. vom Sozialmedizinischen Dienst der Beklagten ändert daran nichts. Der Ärztin ist zwar grundsätzlich zuzustimmen, dass sich die sozialmedizinische Beurteilung am klinisch erhobenen Untersuchungsbefund orientieren muss. Auch ist richtig, dass der Kläger zum Zeitpunkt der Begutachtungen beschwerdefrei war und auch Atemnot in Ruhe verneint hat. Auch waren die Herz-Kreislaufverhältnisse ausgeglichen und der Kläger war bei der letzten Untersuchung immerhin bis 100 Watt belastbar. Den-noch lässt sich der ebenfalls objektiv vorliegende Befund aus der Auslesung des Defibrillators, der subjektiv nicht beeinflusst werden konnte und kann, damit nicht nivellieren. Denn die Einschätzung der Arbeitunfähigkeit und der Erwerbsminderung resultiert im vor-liegenden Fall nicht aus dem tatsächlichen Leistungsbild, wie es der Kläger bei den Untersuchungen gezeigt hat, sondern aus dem erheblichen Risiko von lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen bei Ausübung einer körperlichen Arbeit. Dies alleine reicht aus, um eine Erwerbsminderung zu begründen. Im vorliegenden Fall kommt nur eine befristete Weitergewährung der Rente in Betracht. Dies ergibt sich aus § 102 Abs. 2 SGB VI, nach dem Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit grundsätzlich auf Zeit geleistet werden. Ausnahmsweise werden Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass in Zukunft festgestellt wird, dass eine Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht mehr vorliegt. Insoweit folgt das Gericht nicht den Ausführungen von Prof. Dr. H., sondern der Einschätzung von Dr. C ... Denn zum einen ist es zutreffend, dass bei vorhandener Belastbarkeit des Klägers in der Ergometrie trotz der Implantation eines Defibrillators grundsätzlich leichte körperliche Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig verrichtet werden können. Zum anderen stellt Prof. Dr. H. bezüglich seiner unter dreistündigen Leis-tungseinschätzung stark auf psychiatrische Einschränkungen ab. Bezüglich dieser hat aber der erfahrene Gerichtsgutachter Dr. D. überzeugend dargestellt, dass sich daraus keine zeitliche Leistungseinschränkung ergibt. Eine Befristung ist gemäß § 102 Abs. 2 SGB VI längstens für drei Jahre möglich. Das Ende dieses Zeitraums fällt ihm vorliegen-den Fall ungefähr mit dem Zeitpunkt zusammen, in dem frühestens eine definitive Abklä-rung bezüglich der Rhythmusstörungen erfolgen kann, sollte bei der nächsten Kontrolluntersuchung im Februar 2013 ein Aggregatswechsel geplant werden. Insoweit hält es die Kammer für angemessen, eine Befristung bis 31.10.2013 vorzunehmen. Aus obigen Gründen hatte die Klage vollumfänglich Erfolg. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klage erfolgreich war.
Rechtskraft
Aus
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