S 30 R 3213/08

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 3213/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 24.07.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2008 zur Begründung von Pflegebeitragszeiten für die Klägerin für die Zeit vom 01.05.2008 bis 30.06.2010 verurteilt.

II. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung von Beitragszeiten wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege eines Familienangehörigen. Die Klägerin ist geboren 1963. Sie betreut ihre Tochter A., geboren 1995. Das Mädchen leidet an Mukoviszidose. Die Beigeladene lehnte mit Bescheid vom 10.07.2008 eine Beitragszahlung für die Zeit ab 01.05.2008 ab, weil der Pflegeaufwand nunmehr unter 14 Stunden pro Woche liege. Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin eine Pflegetätigkeit von mehr als 120 Minuten pro Tag einschließlich Behandlungspflege geltend. Für ist seit April 2006 die Pflegestufe I anerkannt. Ein strittiges Detail war die von der Pflegekasse nicht mit eingerechnete Medikamentengabe. Mit Bescheid vom 24.07.2008 lehnte die Beklagte die Anerkennung von Pflichtbeiträgen wegen Pflege für die Zeit ab 01.05.2008 ab und bezog sich auf den zitierten Bescheid der Beigeladenen. Hiergegen erhob die Klägerin am 30.07.2008 Widerspruch und fügte nachstehende Aufschlüsselung des zeitlichen Aufwands für die Pflege bei: Grundpflege 49 Minuten Hauswirtschaft 60 Minuten Medikamentengabe 6 Minuten Nicht berücksichtigte Zeit der Inhalation 115 Minuten. Beigefügt waren Urteile der Landessozialgerichte Sachsen-Anhalt, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, wonach ein ganzheitlicher Pflegebegriff (so LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.06.2005, Az. L 4 RJ 58/04) zugrundezulegen sei, der außer Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung auch Behandlungspflege, ergänzende Pflege und hauswirtschaftliche Versorgung zu umfassen habe. Wörtlich: "Der einzubeziehende Pflegeaufwand kann damit sehr viel weiter gehen als der für die Feststellung der Pflegebe-dürftigkeit und ihre Stufe maßgebliche Bedarf. Er muss jedoch noch krankheits- oder behinderungsbedingt sein." Das LSG Hamburg zitiert in seinem Urteil vom 28.09.2005 L 3 R 202/05 hierzu auch das Bundessozialgericht (BSG) mit seinem Urteil vom 19.02.1998 (BSGE Bd. 82, Seite 27), wonach der Aufwand für ergänzende Pflege und Betreuung zu berücksichtigen sei. Die Beklagte berief sich demgegenüber auf die bindende Entscheidung der beigeladenen Pflegekasse. Am 10.09.2008 bekundete eine Stellungnahme des medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK), dass bei die Pflegestufe I nur noch grenzwertig erfüllt sei. Fahrten zum Arzt und zur Therapie sowie das morgendliche Inhalieren seien in den pflegerischen Zeitaufwand bereits eingerechnet. Das Inhalieren im Tageslauf stehe in keinem Zusammenhang mit einer Verrichtung der Grundpflege. Der Gesamtpflegeaufwand reduziere sich außerdem bei zunehmender Selbstständigkeit von laufend. Der Widerspruchsbescheid vom 08.12.2008 wies den Widerspruch zurück. Über den Umfang der geleisteten wöchentlichen Pflegetätigkeit entscheide ausschließlich die Pflegekasse. Der Rentenversicherungsträger sei bei seiner Entscheidung zwingend an deren Entscheidung gebunden. Er liege unter 14 Stunden. Die am 18.12.2008 erhobene Klage verfolgt das Begehren weiter, Versicherungspflicht wegen nicht erwerbsmäßiger Pflegetätigkeit nach § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a SGB VI über den 30.04.2008 hinaus anzuerkennen. Mit dreimal täglicher Bronchialtoilette zu je 45 Minuten erhöhe sich der Hilfebedarf von 115 auf 230 Minuten. In einem Termin zur mündlichen Verhandlung am 26.01.2012 ersuchte das Gericht um eine Zusendung von Ergebnissen eines bevorstehenden Untersuchungstermins vom 15.02.2012 und kündigte eine Begutachtung von an. Das Klinikum der Ludwig-Maximilians Universität teilte am 10.02.2012 ausführlich den aktuellen Gesundheitszustand von mit. Das angekündigte Gutachten gab das Gericht nicht bei einem Pflegesachverständigen in Auftrag, sondern bei dem Internisten und Pulmologen Dr. C ... Es wurde am 13.08.2012 gefertigt. Es referiert zunächst den allgemeinen Wissensstand über die Mukoviszidose als chronisch-progredient verlaufender Stoffwechselerkrankung mit zähem Sekret aus den schleimbildenden Drüsen des Körpers als Hauptsymptom. Den täglichen Therapiemaßnahmen komme eine große Bedeutung zu, um irreversible Schädigungen an der Lunge weitestgehend hinauszuzögern. Aufgrund der intensiven Therapie und nachhaltigen Pflege durch die Klägerin habe ihre Lungenfunktion relativ stabil halten können. Der krankheitsspezifische Mehrbedarf an Pflege wurde erläutert mit - Motivation zum vermehrten Waschen, Duschen und Baden (inklusive Haarewaschen) infolge der pathologischen Salzausscheidung, - regelmäßiges Eincremen der dadurch strapazierten Haut, - erhöhte Zahn- bzw. Mundhygiene, - Überprüfung der Stuhlbeschaffenheit, - Einhalten eines an Mukoviszidose angepassten Ernährungsplanes (hochkalorische Nahrung), - Anhalten und Motivieren zum ausreichenden Essen sowie Anhalten und Erinnern, mehrere Mahlzeiten verteilt über den gesamten Tag einzunehmen, - Motivation zur ausreichenden Aufnahme von Flüssigkeit, - aktive Unterstützung bei der täglichen Atemtherapie, - Anleitung zum witterungsbedingt richtigen und zudem dem krankheitsbedingten Schwitzen angepassten Anziehen durch häufiges Umziehen mit Teilkörperwäsche, - regelmäßige Arzt- und Krankengymnastikbesuche, - Beschaffung und Bevorratung der erforderlichen Medikamente, - häufiges Einkaufen infolge des erhöhten Nahrungsmittelbedarfs, - Extrakochen von Mahlzeiten wegen des erhöhten Kalorienbedarfs, wodurch mehr Geschirr anfällt, - spezielle Reinigungs- und Desinfektionsmaßnahmen im Hinblick auf Staub, As-pergillen, Pseudomonaskeime, - vermehrtes Wechseln, Waschen und Bügeln der Wäsche aufgrund der pathologischen Schweißabsonderung. Aktuell befand sich A. im 2. Lehrjahr als Bürokauffrau. Am Arbeitsplatz wurde auf die notwendigen Inhalationen und die Erkrankung als solche so weit wie möglich Rücksicht genommen. Eine intensive Medikation wurde aufgelistet. Der Sachverständige erstellte eine Tabelle zum Hilfebedarf für unter Zugrundelegung der Angaben der Klägerin mit den aus seiner Sicht jeweils notwendigen Korrekturen. Er gelangte für die Zeit von 01.05.2008 bis 30.06.2010 zu einem täglichen Aufwand von 130 und für die Zeit ab 01.07.2010 zu einem Aufwand von täglich 95 Minuten. Die Beigeladene wollte sich diesem Gutachten nicht anschließen. Ein zusätzlicher Hilfe-bedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind gelte nur für Kinder bis zum voll-endeten 10. Lebensjahr. Der Hilfebedarf beim Desinfizieren von Decken, Abflüssen und Badewanne sei der hauswirtschaftlichen Versorgung zuordnen. Die Häufigkeit der mit Zeitaufwand angesetzten Arztbesuche sei aus dem Gutachten nicht ersichtlich. Das Stellen von Medikamenten sei der Behandlungspflege zuzuordnen und könne bei der Ermittlung des Grundpflegebedarfs zeitlich nicht berücksichtigt werden. Das Gericht holte deshalb eine ergänzende Stellungnahme von Dr. C. ein. Sie wurde am 08.05.2013 erstellt. Der Sachverständige teilte hierin zur fraglichen Altersgrenze 10. Lebensjahr mit, er habe die entsprechende Gutachtensfrage objektiv beantwortet. Er belegte mit Fachliteratur, dass für Mukoviszidosekranke ein erhöhter Betreuungsbedarf durchaus auch bis zum 10. und sogar bis zum 18. Lebensjahr postuliert wird. Die Erfüllung eines erhöhten Hygienebedarfs sei ihrem Wesen nach der hauswirtschaftlichen Versorgung zu-zurechnen. Die regelmäßigen Hausarzt- und Zahnarztbesuche habe er in seinem Gutachten nicht veranschlagt, sondern nur den einmal pro Monat fälligen Besuch in der Mukoviszidoseambulanz in München, den er auf 8 Minuten täglich herunterdividiert habe. Das Stellen der Medikamente habe er nicht einzeln aufgeführt und bewertet; von den veranschlagten 40 Minuten für Bronchialtoilette und Desinfektion der Hilfsmittel würden 10 Minuten auf die Tätigkeit des Medikamentenstellens entfallen. Am 05.09.2013 nahm die Beigeladene zum Begutachtungsergebnis Stellung. Sie verwies auf die gültigen Richtlinien des GKV-Spitzenverbandes zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI. Bereits im Gutachten des MDK vom 20.05.2010 sei darauf hingewiesen worden, dass die Tochter der Klägerin im Vergleich zum Vorgutachten von 2008 in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität überwiegend selbstständig sei. Lediglich noch am Morgen vor dem Aufstehen sei noch eine Hilfe zur Sekreteliminati-on durch die Mutter erforderlich. Die sich anschließende Behandlungspflege könne nicht den nach dem SGB XI relevanten Verrichtungen zugerechnet werden. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin mitgeteilt, dass inzwischen ihre Ausbildung abgeschlossen hat ...

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 24.07.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2008 zur Begründung von Pflegebeitragszeiten für die Zeit vom 01.05.2008 bis 30.06.2010 zu verurteilen.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsverfahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist in der Sache für den in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Übergangszeitraum begründet. Die Klägerin hat ihre Tochter noch über den 30.04.2008 hinaus und bis zum 30.06.2010 mit einem Aufwand von mehr als 14 Stunden pro Woche gepflegt und daher Anspruch auf entsprechende Berücksichtigung von Beitragszeiten in ihrer künftigen Rente. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 a SGB VI begründet eine Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für Zeiten, in denen jemand einen Pflegebedürftigen im Sinne des § 14 SGB XI nicht erwerbsmäßig wenigstens 14 Stunden wöchentlich in seiner häuslichen Umgebung pflegt, wenn der Pflegebedürftige Anspruch auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung hat. Die Tochter der Klägerin war der Pflegestufe I zugeordnet. Damit ist die gesetzliche Voraussetzung des Leistungsbezuges aus der Pflegeversicherung erfüllt, so dass nur noch der zeitliche Pflegeaufwand strittig blieb. Die Frage der Überschreitung der vorgeschriebenen Grenze von 14 Stunden pro Woche unterliegt der freien Beweiswürdigung. Die zitierte rentenrechtliche Vorschrift verweist zwar auf den Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung, nicht jedoch auf den Begriff der Pflege nach § 14 Abs. 4 SGB XI. Diese Vorschrift definiert Pflegeleistungen im Sinne eines Ausgleichs von mentalen und körperlichen Defiziten, wie sie insbesondere bei abnehmenden intellektuellen Kapazitäten und schwindender körperlicher Mobilität und Koordination im hohen Alter oder bei Erkrankungen des Zentralnervensystems typisch sind. Unstrittig handelt es sich bei der für geleisteten Hilfe eine von dieser Vorschrift kaum erfasste Betreuung im Spektrum zwischen medizinisch-technischer Unterstützung, motivierender und ermutigender Überwachung und krankheitsbedingt intensivierter hauswirtschaftlicher Versorgung. Die Klägerin hat offensichtlich diese Kombination von Aufgaben hervorragend gemeistert. Sie war als Mutter insoweit auch nicht ersetzbar, weil nur die gemeinsame Wohnsituation im Zusammenwirken mit der emotionalen Nähe zwischen Mutter und Kind die Garantie geboten haben, dass die von Dr. C. eindrucksvoll aufgelistete Vielzahl von geduldigen Interventionen, Ermahnungen, mechanischen Hilfeleistungen, zuwendenden Ermutigungen und Begleitungen bei auswärtigen Terminen in der notwendigen Regelmäßigkeit eingehalten wurden. Unter dem für das Rentenrecht maßgeblichen Aspekt der sozial wertvollen und wirtschaftlich relevanten Dienstleistung mit der Folge einer weitgehenden Verhinderung an gleich-zeitiger versicherungspflichtiger Berufstätigkeit ist diese Gesamtleistung an pflegerischer Zuwendung genauso beachtenswert wie die Pflege eines alten Menschen, der beim Essen und Trinken, An- und Ausziehen und bei Ausscheidungen und Hygiene ständiger Hilfe bedarf. Deshalb wendet das Gericht den vom LSG Nordrhein-Westfalen in seinem von der Klägerseite zitierten Urteil vom 03.06.2005 gefundenen ganzheitlichen Pflegebegriff an. Verbleibende Zweifel verlieren an Bedeutung, weil es sich um einen abgelaufenen Zeitraum handelt. In den Bereich der Vergangenheit konnte die intensive Zuwendung für auch genau deshalb rücken, weil die Klägerin ihr in Kindheit und Jugend so entscheidend und überlebenswichtig geholfen hat. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Rechtskraft
Aus
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