L 1 RA 74/00

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 4 RA 260/98
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 RA 74/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das erstinstanzliche Verfahren zu 4/5 und für das Berufungsverfahren in vollem Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Klägerin einen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer hat.

Die 19 ... geborene Klägerin arbeitete nach ihrer Ausbildung zur Fachverkäuferin bis zum Beginn ihrer Arbeitsunfähigkeit (23. Juli 1997) als Verkäuferin. Am 24. Oktober 1997 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit. Zur Begründung gab sie einen Bandscheibenschaden sowie Bluthochdruck als Gesundheitsstörungen an. Die Beklagte veranlasste zunächst Gutachten von Dr. S ..., Facharzt für Innere Medizin, Chefarzt der Inneren Klinik II im Kreiskrankenhaus A ..., sowie von Dipl.-Med. A ..., Facharzt für Orthopädie in Sondershausen.

Dr. S ... stellte in seinem Gutachten vom 20. Januar 1998 die Diagnosen essentielle Hypertonie Stadium II mit hypertensiven Herzveränderungen, chronische Lumbo-Ischialgie bei mäßiggradig degenerativen Veränderungen der LWS sowie ein Verdacht auf Nephrolithiasis (Nierensteinkrankheit) links. Im Vordergrund des Beschwerdekomplexes stehe eine chronische Lumbo-Ischialgie mit deutlichen Einschränkungen der statischen und dynamischen Belastungsfähigkeit. Im EKG seien Hinweise für coronar-ischämische Veränderungen vorhanden. In der Fahrradergometrie sei eine Belastung bis 100 Watt erfolgt, wobei es im Sinne einer paradoxen Reaktion zu einer Normalisierungstendenz des vorher hochpathologischen Linksherzhypertrophie-EKG‘s gekommen sei. Die pauschale cardio-pulmonale Leistungsgrenze sei oberhalb um 100 Watt angesiedelt, auch wenn eine ausgeprägte hypertensive Reaktion zu verzeichnen gewesen sei. In ihrem erlernten Beruf als Verkäuferin sei die Klägerin nur noch maximal 5 – 6 Stunden einsetzbar. Auf einem Arbeitsplatz mit überwiegend sitzender Tätigkeit ohne Zwangshaltungen bzw. mit nur leichter körperlicher Arbeit ohne häufiges Bücken, Stehen und Gehen sei eine vollschichtige Einsatzmöglichkeit gegeben. Dipl.-Med. A ... stellte in seinem Gutachten vom 23. Januar 1998 die Diagnosen chronisches lumbales sowie zervikales Schmerzsyndrom ohne neurologische Auffälligkeiten. Bei der klinischen Untersuchung habe sich im wesentlichen ein unauffälliger orthopädischer Status gezeigt. Nach orthopädischen Gesichtspunkten könne die Klägerin leichte, zeitweise mittelschwere Tätigkeiten vollschichtig verrichten. Zu vermeiden seien grundsätzlich durchgehendes Stehen sowie schweres Heben und Tragen. In ihrer letzten Tätigkeit als Verkäuferin sei die Klägerin noch vollschichtig leistungsfähig. Daraufhin lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit Bescheid vom 24. Februar 1998 mit der Begründung ab, die Klägerin sei noch in der Lage, in ihrem bisherigen Berufsbereich sowie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig tätig zu sein.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch: Sie habe 3 Jahre mit Schmerzen gearbeitet, bis es gar nicht mehr gegangen sei. Durch die ständige Belastung der Arme bei ihrer letzten Tätigkeit am Backstand seien starke Schmerzen und Gelenkentzündungen aufgetreten. Darüber hinaus seien ihre Arthrose am Hüftgelenk sowie die geschädigte Niere nicht berücksichtigt worden. Im Rahmen der Begutachtung bei Dr. S ... seien ihr zusätzliche Tropfen verabreicht worden, wodurch das Belastungs-EKG zu Stande gekommen sei. Ihre chronischen Rückenbeschwerden könnten nur gelindert, aber nicht geheilt werden.

Die Beklagte holte daraufhin Befundberichte der behandelnden Ärzte Dipl.-Med. E ..., Facharzt für Orthopädie, sowie Dr. K ..., Facharzt für Urologie ein. Dipl.-Med. E ... stellte in seinem Befundbericht vom 17. April 1998 die Diagnosen rezidivierende akute Ischialgien rechts bei Osteochondrose LWS sowie Zustand nach Bandscheibenvorfall im Bereich der unteren LWS. Dr. K ... führte in seinem Befundbericht vom selben Datum aus, es bestünden zur Zeit keine urologischen Beschwerden. Die Gesamtnierenfunktion sei nicht eingeschränkt. Daraufhin wies die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1998 den Widerspruch zurück: Auch die zusätzlich eingeholten Befundberichte hätten keine weitere Einschränkung des festgestellten Leistungsvermögens ergeben.

Dagegen hat die Klägerin mit einem am 29. Juli 1998 beim Sozialgericht Halle eingegangenen Schriftsatz Klage erhoben. Sie sei erwerbsunfähig, weil sie eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben könne. Sie leide an Hypertonie, chronischer Lumbo-Ischialgie und Wirbelsäulenbeschwerden sowie an einer Schrumpfniere.

Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte eingeholt. Der Facharzt für Innere Medizin Dr. D ... hat in seinem Bericht vom 12. Februar 1999 auf seinen Arztbericht vom 14. August 1998 verwiesen. Danach sei ein Belastungs-EKG bei 75 Watt wegen hypertensiver Dysregulation abgebrochen worden. Der Blutdruck habe sich in der Erholungsphase nicht völlig normalisiert, das Frequenzverhalten sei gleichfalls tachydynam gewesen. Die Belastbarkeit sei etwas vermindert. Dipl.-Med. E ... hat in seinem Befundbericht vom 9. März 1999 darauf hingewiesen, dass die Klägerin zuletzt am 15. April 1998 in seiner orthopädischen Sprechstunde gewesen sei. Die behandelnde Hausärztin Frau Dipl.-Med. P ... hat in ihrem Befundbericht vom 30. März 1999 erklärt, unter Belastung träten verstärkt Kopfschmerzen, Schwindel, Stenokardien (synoym für Angina pectoris: akute Koronarinsuffizienz mit plötzlich einsetzenden, Sekunden bis Minuten anhaltenden Schmerzen im Brustkorb) und Belastungsdyspnoe auf. Im Ruhe-EKG hätten sich deutlich pathologische Veränderungen gezeigt. Frau Dipl.-Med. P ... hat u.a. einen Arztbericht von Dr. S ... vom 20. Januar 1998 beigefügt. Darin hat dieser ausgeführt, in der für das Gutachten durchgeführten Belastungsfahrradergometrie hätten sich ausgeprägte hypertensive Reaktionen und unter Lastbedingungen eine paradoxe Reaktion der Endteilveränderungen mit fast Normalisierungstendenzen gezeigt. Zu dieser Reaktion sei es nach Verabreichung von Nitrangin-Spray gekommen. Dieses sei zur Anwendung gekommen, um die Klägerin zumindest mit 100 Watt zu belasten, denn sie habe bei 25 Watt schon eine exzessive Blutdruckerhöhung gehabt.

Sodann hat das Sozialgericht ein Sachverständigengutachten durch Prof. Dr. W ... von der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin III der Martin-Luther-Universität (MLU) Halle-Wittenberg veranlasst. Der Sachverständige stellte in seinem Gutachten vom 11. September 1999 folgende Diagnosen auf internistischem Gebiet: Schwere arterielle Hypertonie mit begleitender linksventrikulärer Hypertrophie (Organvergrößerung durch Zunahme des Zell-volumens bei gleichbleibender Zellzahl), Verdacht auf koronare Herzkrankheit bei szintigraphischem Nachweis einer belastungsinduzierten linksventrikulären Ischämie (mangelnde arterielle Blutzufuhr) sowie Nierensteine links. Eine berufliche Tätigkeit sei der Klägerin aktuell nicht zuzumuten, da auf Grund der drohenden Komplikationen der Bluthochdruckkrankheit (Hirnblutung, koronare Herzkrankheit) von einem erhöhten Morbiditätsrisiko ausgegangen werden müsse. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 18. März 2000 hat der Sachverständige ausgeführt, zu einer bleibenden Besserung des Befindens und zu einer Zunahme der körperlichen Leistungsfähigkeit könnten therapeutische Maßnahmen wie Ballondehnung, Stentimplantation, Bypassoperation oder auch die alleinige Optimierung der medikamentösen Therapie führen.

Mit Urteil vom 23. Juni 2000 hat das Sozialgericht die Beklagte verpflichtet, ab 1. Oktober 1997 Berufsunfähigkeitsrente und ab 1. September 1999 Erwerbsunfähigkeitsrente zu gewähren und die Klage im übrigen – wegen der bereits ab Oktober 1997 begehrten Erwerbsunfähigkeitsrente – abgewiesen. Die Erwerbsunfähigkeit beruhe auf der schweren arteriellen Hypertonie. Die Rente sei nicht zu befristen, denn aus dem Gutachten der MLU Halle-Wittenberg lasse sich nicht entnehmen, dass begründete Aussicht bestehe, die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit zu beheben. Es sei von einem schwer einstellbaren Bluthochdruckleiden mit ständig schwankenden Werten auszugehen. Die Sachverständigen hätten zwar ausgeführt, dass bestimmte therapeutische Maßnahmen zu einer Besserung des Zustandes führen könnten. Sie hätten aber keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür festgestellt, dass das Leiden in den nächsten drei Jahren behoben werden könne.

Gegen das ihr am 5. Juli 2000 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit einem am 2. August 2000 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt, soweit das Sozialgericht sie zur Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer verpflichtet hat. Die Leistungsminderung der Klägerin führe zwar zu einer derzeitigen Erwerbsminderung, jedoch nicht auf Dauer, da eine Besserungsaussicht bestehe. Der Argumentation einer fehlenden Besserungsaussicht des Bluthochdrucks und daraus folgender andauernder Leistungsminderung könne nicht gefolgt werden. Es resultiere vielmehr eine vor-übergehende Arbeitsunfähigkeit, die durch eine intensivierte Behandlung beseitigt werden könne. In dem vom Sozialgericht eingeholten internistischen Gutachten sei nur von einer momentanen Unzumutbarkeit einer beruflichen Tätigkeit, aber von einer möglichen Therapieoptimierung die Rede. Noch im August 1998 sei vom behandelnden Arzt ein stabiler, gut eingestellter arterieller Bluthochdruck festgestellt worden. Es sei medizinisch nicht begründet, weshalb nicht eine veränderte medikamentöse Behandlung zu einer Verbesserung führen sollte. Es sei auch darauf hinzuweisen, dass der maximale Blutdruck unter Belastung im Rahmen der Myokardszintigraphie ausweislich des Gutachtens der MLU Halle-Wittenberg nur 170/90 mmHg betragen habe. Dass die Klägerin im Fragebogen zur Klageerhebung ein verschlechtertes EKG angegeben habe, könne nicht entscheidend sein. Prof. Dr. W ... habe die bekannten Zeichen einer Linksherzhypertrophie beschrieben und habe keine Hinweise auf eine belastungsinduzierte Ischämie im Rahmen der Ergometrie gefunden.

Der Verdacht einer koronaren Herzkrankheit könne nicht mit einer andauernden Leistungsminderung gleichgesetzt werden. Sicher bestehe auf Grund der auf einen kleinen Bezirk beschränkten belastungsindizierten Ischämie-Zeichen in der Myokardszintigraphie eine Notwendigkeit zur weiteren Abklärung, am ehesten durch eine Koronarangiographie, wenngleich diese nicht duldungspflichtig sei. Andererseits sei aber auch zu bedenken, dass szintigraphisch nachweisbare Speicherdefekte nicht gleichbedeutend mit einem funktionell wirksamen Durchblutungsnot-Areal seien und hämodynamisch wirksame Wandbewegungsstörungen oder Einschränkungen der linksventrikulären Funktionen bisher nicht nachgewiesen worden seien. Zusätzlich sei darauf hinzuweisen, dass es auch nicht-invasive Behandlungsmöglichkeiten einer koronaren Herzerkrankung gebe, wie zum Beispiel die medikamentöse Behandlung mit Nitraten. Die Möglichkeiten einer medikamentösen Therapie seien bislang nicht ausgeschöpft.

Der Senat hat zunächst Befundberichte eingeholt. Dr. D ... hat auf einen ärztlichen Bericht vom 8. November 2002 verwiesen, in dem ausgeführt ist, der arterielle Hypertonus sei gut geführt. Eine relevante koronare Herzkrankheit liege nicht vor. Dr. R ... hat in seinem Befundbericht vom 2. November 2003 erklärt, die Befunde aus den urologischen Kontrollen seien gleichbleibend. Die orthopädische Gemeinschaftspraxis Dr. L ... hat in ihrem Befundbericht vom 19. November 2003 die Diagnosen chronisches lumbales Schmerzsyndrom, Spondylose L5/S1, initiale Coxarthrose (Hüftarthrose) rechts sowie Plattfuß beidseits mitgeteilt. Dipl.-Med. P ... hat in ihrem Befundbericht vom 26. März 2004 ausgeführt, in den letzten Jahren hätten die vertebragen bedingten (wirbelsäulenbedingten) Beschwerden deutlich zugenommen. Außerdem leide die Klägerin unter starken Schmerzen am rechten Hüftgelenk bei bekannter Coxarthrose. Im März 2004 sei der Blutzuckerwert mit 6,7 erhöht gewesen, so dass ein Verdacht auf Diabetes mellitus bestehe. Dipl.-Med. P ... hat Arztberichte von Dr. D ... vom 18. Mai 1999, 17. Juli 2000 sowie 8. November 2002 über das Bluthochdruckleiden beigefügt.

Sodann hat der Senat ein Gutachten von Prof. Dr. K ... von der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg veranlasst. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 31. August 2004 ausgeführt, es bestehe unverändert eine belastungsabhängige arterielle Hypertonie mit Blutdruckspitzen bei geringer körperlicher Anstrengung. Eine Besserung der Befunde sei nicht zu erkennen. Die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit habe in der Spiroergometrie (Messung von Herz-Kreislauf-Parametern, Atemvolumina und Atemgasen während einer dosierten Arbeitsbelastung) nicht eindeutig beurteilt werden können, da ein frühzeitiger Untersuchungsabbruch wegen Beschwerden in den Füßen erfolgt sei. Die auch hier nachweisbare Erhöhung der Blutdruckwerte bei leichter körperlicher Belastung spreche jedoch dafür, dass der Klägerin eine berufliche Tätigkeit auf Grund der drohenden Komplikationen der arteriellen Hypertonie auch weiterhin nicht zugemutet werden könne. Die Klägerin sei deshalb weiterhin erwerbsunfähig. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin seien von dauernder Natur. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 21. März 2005 hat Prof. Dr. K ... ausgeführt, eine Befundbesserung sei nicht eingetreten. Es bestehe eine diastolische Dysfunktion, die einen Leistungsmangel erkläre. Es gehe nicht darum, dass vor 5 Jahren gefällte Urteil aufzuheben, sondern er könne jetzt lediglich den Zustand als gleichbleibend bezeichnen. Er glaube nicht, dass durch Rehabilitationsmaßnahmen eine Erwerbsfähigkeit wieder hergestellt werden könne. Dies bedeute nicht, dass eine bessere Blutdruckeinstellung notwendig sei, um Sekundärschäden bei Hypertonie zu verhindern.

Die Beklagte hält das Gutachten von Prof. Dr. K ... für unzureichend. Es bestünden weitere Therapiemöglichkeiten, um die internistischen Gesundheitsstörungen zu bessern. Die therapeutischen Möglichkeiten seien nicht ausgeschöpft. Diesbezüglich werde dem Gericht anheim gestellt, zum Beispiel einen Vertreter der "Hochdruckliga" zu den therapeutischen Möglichkeiten einer besseren Einstellung der arteriellen Hypertonie und der diastolischen Relaxationsstörung zu befragen.

Es sei wahrscheinlich, dass die Leistungsfähigkeit für eine leichte körperliche Tätigkeit ohne Nachtschicht durch eine adäquate Therapie in einer insternistisch-kardiologischen Reha-Klinik wieder hergestellt werden könne. Zusätzlich sei darauf hinzuweisen, dass Prof. Dr. K ... angegeben habe, zu der Erwerbsunfähigkeit habe seinerzeit sicher auch die ausgeprägte Beschwerdesymptomatik im Bericht der Wirbelsäule beigetragen, woraus abgeleitet werden könne, dass seiner Meinung nach nicht allein der Hypertonus die Leistungsbeurteilung beeinflusst habe. Wesentliche Funktionsstörungen im Bericht der Wirbelsäule oder Gelenke würden im Rahmen seiner Begutachtung im August 2004 jedoch nicht beschrieben. Durch die Möglichkeiten einer multimodalen Behandlung in einer Reha-Klinik könnten auch die Beschwerden im Bereich des Stütz- bzw. Bewegungsapparates behandelt werden. Im übrigen habe auch Prof. Dr. W ... nur "momentan" eine berufliche Tätigkeit für nicht zumutbar gehalten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 23. Juni 2000 insoweit aufzuheben, als das Sozialgericht sie über die Zahlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit hinaus zur Zahlung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vor Februar 2000 und über November 2005 hinaus auf Dauer verurteilt hat.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie sieht sich in ihrer Rechtsauffassung durch die Ausführungen der gerichtlichen Sachverständigen bestätigt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte (zwei Bände) sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten (Vers.-Nr ...) verwiesen. Die Akten haben bei der mündlichen Verhandlung sowie bei der Beratung vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Berufung hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist zulässig, jedoch nicht begründet, denn die Klägerin hat einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer.

Gegenstand des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ist allein der Anspruch der Klägerin auf zeitlich unbefristete Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Denn die Beklagte begehrt nach ihrem Berufungsantrag eine Aufhebung des angefochtenen Urteils lediglich insoweit, als sie verpflichtet worden ist, der Klägerin wegen Erwerbsunfähigkeit eine Dauerrente zu gewähren. Darauf hat die Klägerin jedoch auch nach Überzeugung des Senats Anspruch.

Nach § 102 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 Sechstes Buch des Sozialgesetzbuches ¬– Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) in der hier gemäß § 302b Abs. 1 SGB VI weiter geltenden Fassung v. 18.12.89 (BGBl. I S. 2261) werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet, wenn begründete Aussicht besteht, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein kann.

Durch die Verwendung des Begriffs "Aussicht" wird zum Ausdruck gebracht, dass die Entscheidung über die Bewilligung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit eine in die Zukunft gerichtete Prognose über die voraussichtliche Dauer der verminderten Erwerbsfähigkeit erfordert. Dabei genügt die bloße Möglichkeit einer Behebung der verminderten Erwerbsfähigkeit als Voraussetzung der Bewilligung einer Rente auf Zeit bei dem hier weiter anzuwendenden § 102 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI in der Fassung des Gesetzes v. 18.12.89 nicht. Vielmehr besteht im Sinne des § 102 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGB VI die Aussicht, dass die verminderte Erwerbsfähigkeit der Klägerin in absehbarer Zeit behoben sein kann, wenn die Behebung der verminderten Erwerbsfähigkeit wahrscheinlich ist. Wahrscheinlich ist diejenige Möglichkeit, der nach sachgerechter und vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt; es muss sich unter Würdigung des Ergebnisses der Sachaufklärung ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden (zur insoweit gleichlautenden Vorgängervorschrift § 1276 RVO: BSG, Urt. v. 17.2.82 – 1 RJ 102/80, SozR 2200 § 1276 Nr. 6, BSGE 53, 100).

Diese Wahrscheinlichkeit ist hier nicht gegeben. Diese Prognose beruht auf dem schweren Bluthochdruckleiden der Klägerin. Wegen dieses Leidens ist die Klägerin seit vielen Jahren in fachärztlicher Behandlung, ohne dass sich ein durchgreifender Behandlungserfolg ergeben hat. Bereits im August 1996 überwies die Hausärztin Dipl.-Med. P ... die Klägerin an die kardiologische Gemeinschaftspraxis Dres. M ..., Sch ... und W ... Zwar fanden die Kardiologen seinerzeit keine Anhaltspunkte für eine relevante koronare Herzerkrankung, aber schon damals diagnostizierten sie eine essentielle arterielle Hypertonie mit hypertensiven Herzveränderungen (Arztbericht vom 26. September 1996). Im weiteren Verlauf diagnos-tizierte der Sachverständige Prof. Dr. W ... von der MLU Halle-Wittenberg in seinem Gutachten vom 11. September 1999 eine schwere arterielle Hypertonie mit begleitender linksventrikulärer Hypertrophie und meinte, eine berufliche Tätigkeit sei der Klägerin aktuell nicht zuzumuten. Dieser Schlussfolgerung schließt sich der Senat an, weil nach der Beurteilung des Sachverständigen auf Grund der drohenden Komplikationen der Bluthochdruckkrankheit (Hirnblutung, koronare Herzkrankheit) von einem erhöhten Morbiditätsrisiko auszugehen ist. Soweit die Beklagte darauf abstellt, Prof. Dr. W ... habe nur "momentan" eine berufliche Tätigkeit für nicht zumutbar gehalten, ist darauf hinzuweisen, dass der Sachverständige gerade in diesem Zusammenhang betont hat, dass bei der Klägerin in Anlehnung an die Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation / Internationalen Gesellschaft für Hypertonie mit einem deutlich erhöhten Risiko für ein akutes Koronarsyndrom bzw. für einen Schlaganfall zu rechnen ist. Dieses Risiko ist aber nicht auf den Zeitpunkt der Begutachtung begrenzt, d.h. "momentan", sondern besteht für einen unbestimmten Zeitraum weiter. Prof. Dr. W ... hat – auch in seiner ergänzenden Stellungnahme – nicht erklärt, dass dieses Gesundheitsrisiko in absehbarer Zeit wahrscheinlich behoben werden kann. Hinzu kommt, dass die in der ergänzenden Stellungnahme vorgeschlagenen therapeutischen Maßnahmen im Anschluss an die Frage der Feststellbarkeit einer koronaren Herzkrankheit behandelt werden. Sie beziehen sich dem Zusammenhang nach also auf diese – bei der Klägerin nicht nachgewiesene – Krankheit. Für das herabgesunkene berufliche Leistungsvermögen ist aber in erster Linie das schwere Bluthochdruckleiden mit den daraus resultierenden Risiken verantwortlich.

Die berufliche Leistungsfähigkeit hat sich in der Folgezeit nicht verbessert, wie das Gutachten von Prof. Dr. K ... von der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg verdeutlicht. Ausweislich seines Gutachtens vom 31. August 2004 bestand unverändert eine belastungsabhängige arterielle Hypertonie mit Blutdruckspitzen bei geringer körperlicher Anstrengung. Eine Besserung der Befunde war nicht zu erkennen. Der Senat schließt sich der Einschätzung des Sachverständigen an, weil während der Untersuchung eine Erhöhung der Blutdruckwerte bei leichter körperlicher Belastung nachweisbar war. Dies spricht dafür, dass der Klägerin eine berufliche Tätigkeit auf Grund der drohenden Komplikationen der arteriellen Hypertonie auch weiterhin nicht zugemutet werden kann und ihre Gesundheitsstörungen von dauernder Natur sind.

Ob eine relevante koronare Herzkrankheit nachgewiesen werden kann, ist hier nicht entscheidend, weil bereits der Sachverständige Prof. Dr. W ... darauf nicht entscheidend abgestellt hat. Schon das schwere Bluthochdruckleiden führt zu der Einschätzung, dass das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin aufgehoben ist und deshalb Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer zu gewähren ist. Deshalb ist eine weitere Abklärung im Hinblick auf eine mögliche koronare Herzkrankheit durch eine – ohnehin nicht duldungspflichtige – Koro-narangiographie für die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung nicht erforderlich.

Der Senat folgt Prof. Dr. K ... nicht, soweit dieser die Einschätzung der Erwerbsunfähigkeit der Klägerin jedenfalls so, wie sie Prof. Dr. W ... beurteilt hat, erkennbar in Zweifel zieht. Denn einen medizinischen Ansatz für seine Meinung, eine Erwerbstätigkeit der Klägerin wäre wahrscheinlich für einige Stunden täglich möglich gewesen, benennt er nicht. Vielmehr be-stätigt er den für Prof. Dr. W ... maßgeblichen Befund einer sofortigen Blutdruckentgleisung schon bei leichten Belastungen. Dieser Befund steht auch einer Erwerbstätigkeit für wenige Stunden entgegen, weil er Folgeschäden befürchten lässt, die der Klägerin nicht zuzumuten sind. Gegen diese Argumentationskette Prof. Dr. W ... wendet sich Prof. Dr. Kl ... nicht.

Die lange Dauer des schweren Bluthochdruckleidens ohne durchgreifenden Behandlungserfolg spricht gegen die Auffassung der Beklagten, dass die verminderte Erwerbsfähigkeit der Klägerin in absehbarer Zeit wahrscheinlich behoben werden kann. Außerdem sind die erwähnten Behandlungsmaßnahmen überwiegend ebenfalls nicht duldungspflichtig, da sie mit massiven körperlichen Eingriffen verbunden sind. Das gilt für die Maßnahmen Ballondehnung, Stentimplantation und Bypassoperation. Abgesehen davon ist zweifelhaft, ob diese Maßnahmen überhaupt der Therapie der Bluthochdruckkrankheit dienen können.

Was die vorgeschlagene Optimierung der medikamentösen Therapie anbelangt, ist nicht erkennbar, warum diese angesichts des langjährigen, offensichtlich schlecht einstellbaren schweren Bluthochdruckleidens jetzt zu einer baldigen durchgreifenden Verbesserung des beruflichen Leistungsvermögens führen können soll. Dafür genügt es nicht, dass eine bessere Blutdruckeinstellung Sekundärschäden bei Hypertonie verhindern kann. Denn rechtlich kommt es hier nicht auf die Wahrscheinlichkeit der Verhinderung von weiteren Gesundheitsschäden an, sondern darauf, ob das berufliche Leistungsvermögen in absehbarer Zeit durchgreifend verbessert werden kann. Dass das – ausgehend von dem Ende der Befristung mit dem Tag der mündlichen Verhandlung – in sehr naher Zukunft wahrscheinlich sein muss, ergibt sich hier schon daraus, dass die Befristung wegen des weiter anzuwendenden § 102 Abs. 2 S. 4 SGB VI (vgl. § 302b Abs. 1 SGB VI) die Gesamtdauer von sechs Jahren nicht überschreiten darf. Das bedeutet, dass die Befristung ausgehend von Februar 2000 – dieser Monat ergibt sich aus dem Berufungsantrag der Beklagten – bis maximal Januar 2006 zulässig ist. Angesichts dieser zeitlichen Zwänge könnte auch eine stationäre Reha-Maßnahme mit Überprüfung der medikamentösen Therapie nicht mehr rechtzeitig eine wesentliche Verbesserung des beruflichen Leistungsvermögens der Klägerin erbringen. Hinzu kommt, dass der behandelnde Internist Dr. D ... ausweislich seines Arztberichts vom 17. Juli 2000 mit Metoprolol bereits eines der Medikamente verordnet hat, die in einem von der Beklagten übermittelten Fachaufsatz als Mittel der ersten Wahl für eine antihypertensive Therapie bezeichnet sind. Der weitere Krankheitsverlauf bei der Klägerin zeigt, dass dennoch keine durchgreifende Besserung eingetreten ist. Ob und warum die anderen in dem Fachaufsatz genannten Medikamente wahrscheinlich besser helfen würden, hat die Beklagte nicht näher dargelegt.

Nach alledem kommt der Möglichkeit einer durchgreifenden Verbesserung der beruflichen Leistungsfähigkeit nach sachgerechter und vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit kein deutliches Übergewicht zu, so dass die Behebung der verminderten Erwerbsfähigkeit nicht als wahrscheinlich angesehen werden kann. Angesichts der vorliegenden gerichtlichen Sachverständigengutachten mit im wesentlichen übereinstimmenden Einschätzungen hat sich der Senat nicht gedrängt gesehen, weitere medizinische Sachaufklärungsmaßnahmen zu veranlassen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG, wobei berücksichtigt wurde, dass die Klage in erster Instanz in zeitlicher Hinsicht nicht in vollem Umfang erfolgreich war.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1, 2 SGG nicht, weil die Rechtslage durch die angeführte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geklärt ist.
Rechtskraft
Aus
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