L 1 R 379/08

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 1 R 561/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 R 379/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zurückverweisung, gesetzlicher Richter, Gerichtsbescheid
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 04. November 2008 wird aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Dessau-Roßlau zurückverwiesen. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zahlung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die im Juni 19xx geborene Klägerin erlangte den Schulabschluss der 10. Klasse, absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Kinderpflegerin und schloss sodann eine weitere Ausbildung als examinierte Altenpflegerin ab. Sie war ab 2002 als Altenpflegerin in der ambulanten Pflege tätig und ist wegen sich verstärkenden und auf einer Bandscheibendegeneration beruhenden Schmerzen in der Region der Lendenwirbelsäule (LWS), im Kreuz-, Oberschenkel- und Leistenbereich seit Juli 20xx arbeitsunfähig. Sie war seither nicht mehr berufstätig und bezog zunächst Krankengeld, sodann Arbeitslosengeld und schließlich Arbeitslosengeld II.

Einen Antrag der Klägerin vom 20. September 2006 auf Zahlung einer Erwerbsminderungsrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. Januar 2007 ab und führte zur Begründung und unter Bezugnahme auf ein von ihr eingeholtes und vom Dezember 20xx datierendes Gutachten des Orthopäden Dr. M. aus, die Klägerin sei in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich im Rahmen einer 5-Tage-Woche tätig zu sein. Hiergegen legte sie am 09. März 2007 Widerspruch ein, den sie insbesondere mit den Bewegungseinschränkungen im LWS-Bereich und den damit einhergehenden Schmerzen und Schlafstörungen und einer "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" begründete. Nachdem ein weiteres von der Beklagten eingeholtes Gutachten des Orthopäden S. vom Juni 20xx für die Zeit nach Abschluss des Heilungsprozesses nach einer Wirbelsäulenoperation erneut die vollschichtige Leistungsfähigkeit der Klägerin für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten bestätigt hatte, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 12. November 2007 zurück.

Hiergegen hat sich die am 14. November 2007 erhobene Klage gerichtet, mit der die Klägerin unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens vorgetragen hat, die ständige akute Schmerzbelastung und die Einnahme von starken Medikamenten führe zu erheblichen Konzentrationsschwächen, so dass schon die Grundvoraussetzungen für die Ausübung jedweder Tätigkeit nicht mehr gegeben seien. Darüber hinaus sei die vorgetragene Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen nicht gewürdigt und zu Unrecht ihre Wegefähigkeit bejaht worden.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch die Einholung mehrerer Befundberichte und eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. W ... In seinem Gutachten vom Mai 20xx hat dieser die Diagnosen • chronische Lumboischialgie • Schmerzchronifizierung • rezidivierendes Cervikalsyndrom • endgradige Beugehemmung linkes Kniegelenk gestellt. Im Ergebnis könne die Klägerin noch vollschichtig eine leichte körperliche Tätigkeit im ständigen Wechsel aller 20 bis 30 Minuten zwischen Sitzen, Stehen und Gehen ausüben. Insbesondere sei die Ausübung einer leichten Beschäftigung (z. B. leichte Büroarbeiten überwiegend im Sitzen mit den üblichen Ruhepausen) für die Dauer von mehr als sechs Stunden täglich möglich, wenn alle 20 bis 30 Minuten Stehen und Umhergehen zwischengeschaltet werden könnten.

Nachdem die Klägerin in Reaktion auf dieses Gutachten eine neurologische Begutachtung angeregt hatte, teilte das Sozialgericht der Klägerin mit, dass die Einholung eines weiteren Gutachtens von Amts wegen nicht beabsichtigt sei. Mit Schriftsatz vom 12. September 2008 nahm die Beklagte zu einer entsprechenden Anfrage des Sozialgerichts Stellung und führte aus, dass von ihrer Seite eine weitere Begutachtung der Klägerin nicht befürwortet werde. Sodann wies das Sozialgericht die Beteiligten mit Schreiben vom 01. Oktober 2008 darauf hin, dass eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in Betracht gezogen werde.

Mit Gerichtsbescheid vom 04. November 2008 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich zur Begründung maßgeblich auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. W. gestützt. Dieses Gutachten sei schlüssig, in sich widerspruchsfrei und weise keine logischen Brüche auf. Anhaltspunkte dafür, dass der Sachverständige Krankheiten oder Funktionsbeeinträchtigungen übersehen bzw. unterbewertet haben könnte, bestünden nicht. Von einer neurologisch-psychiatrischen Zusatzbegutachtung habe abgesehen werden können, da Dr. W. keine weiteren Ermittlungen bei fehlenden neurologischen Ausfällen für erforderlich gehalten habe. Aufgrund des Gutachtens von Dr. W. stehe fest, dass die Klägerin nicht gemäß § 43 Abs. 3 SGB des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches–Gesetzliche Rentenversicherung erwerbsgemindert sei, denn sie sei in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mehr als sechs Stunden täglich zu verrichten. Bei den vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen handele es sich weder um eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch ergebe sich daraus eine schwere spezifische Leistungseinschränkung.

Gegen den ihr am 10. November 2008 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 24. November 2008 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, die seit Jahren bestehende gesundheitliche Beeinträchtigung habe bei ihr zu einer depressiven Grundstimmung geführt. Da sämtliche gesundheitlichen Beeinträchtigungen summarisch zu betrachten seien, sei sie insoweit nicht im Stande, jedweder Beschäftigung nachzugehen.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 04. November 2008 den Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. November 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung zu zahlen; hilfsweise, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 04. November 2008 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Dessau-Roßlau zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Nach einem Hinweis des Berichterstatters vom 17. März 2009 hat sie einer Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht zugestimmt.

Die Klägerin und die Beklagte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Gerichts- und des Verwaltungsverfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten und die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die bei der Beratung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 04. November 2008 war aufzuheben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne dieser Norm ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 159 Rdnr. 3, 3a m. w. N.). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet an mehreren wesentlichen Verfahrensmängeln.

1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 S. 2 SGG) entschieden, obwohl die dafür erforderlichen Voraussetzungen nicht vorlagen. Gemäß § 105 Abs. 1 S. 1 SGG ist eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nur möglich, wenn der Sachverhalt geklärt ist. Dies war hier nicht der Fall.

a) Die Ausführungen im vom Sozialgericht eingeholten Sachverständigengutachten sind hinsichtlich eines für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentlichen Fragenkreises widersprüchlich und bedürfen insoweit weiterer Aufklärung. In seinem Gutachten vom Mai 20xx führt der Sachverständige zunächst aus, dass der Klägerin noch leichte Tätigkeiten in ständigem Wechsel aller 20 bis 30 Minuten zwischen Gehen, Stehen und Sitzen möglich wären. An anderer Stelle führt er aus, dass leichte Sortier- oder Bürotätigkeiten möglich wären, wenn alle 20 bis 30 Minuten Stehen und Umhergehen "zwischengeschaltet" werden könnten. Angesichts dieser durchaus im Widerspruch zueinander stehenden Angaben wäre durch die Einholung einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme des Sachverständigen Dr. W. oder durch dessen Anhörung in einem Termin zur mündlichen Verhandlung zu klären gewesen, inwieweit die Klägerin tatsächlich nur solche Büroarbeiten ausführen kann, bei denen sie im Anschluss an eine sitzende Tätigkeit mit einer Dauer von 20 bis 30 Minuten eine Tätigkeit im Stehen oder Gehen mit gleicher Dauer auszuführen hat. Denn sofern die Klägerin tatsächlich nur in einem genau bestimmten Wechselrhythmus zwischen Sitzen und Stehen bzw. Gehen mit Arbeitsphasen von jeweils 20 bis 30 Minuten arbeiten könnte, würde dies ihre betriebliche Einsatzfähigkeit womöglich so stark einschränken, dass durchgreifende Zweifel an der vom Sachverständigen und – daran anknüpfend – vom Sozialgericht festgestellten Einsatzfähigkeit der Klägerin auch für leichtere Tätigkeiten bestehen. Das im Sachverständigengutachten festgestellte Erfordernis, einen genau bestimmten Wechselrhythmus einzuhalten, könnte insoweit eine schwere spezifische Leistungsbehinderung der Klägerin darstellen, die zur konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit zwingt und bei deren Fehlen eine Erwerbsminderung der Klägerin in Betracht kommt (vgl. eingehend BSG, Urteil vom 28. August 1991 – 13/5 RJ 4790 – SozR 3-2200 § 1247 Nr. 8; BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996; GS 2/95; zitiert nach Juris). Im Ergebnis sind die festgestellten Widersprüche in den Ausführungen des Sachverständigengutachtens entscheidungserheblich, und es ist deshalb eine ergänzende Befragung des Sachverständigen geboten. Damit ist der Sachverhalt nicht geklärt.

b) Darüber hinaus musste sich das Sozialgericht auch im Hinblick auf die von der Klägerin dargelegten psychischen Beeinträchtigungen infolge der jahrelangen Rückenbeschwerden zu weiteren Ermittlungen gedrängt sehen und hätte eine neurologisch–psychiatrische Begutachtung der Klägerin anordnen müssen (vgl. § 103 SGG). Denn es ist durchaus möglich, dass sich lang dauernde Schmerzen und etwaige daraus folgende psychische Beeinträchtigungen ungünstig auf das Konzentrationsvermögen, die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin und damit auf die Möglichkeit einer Berufsausübung auswirken. Darauf hat auch der beratungsärztliche Dienst der Beklagten in seiner vom April 20xx datierenden Stellungnahme hingewiesen. Die Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen Dr. W. machen die Einholung eines nervenfachärztlichen Gutachtens nicht entbehrlich. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Sachverständige Dr. W. als Facharzt für Orthopädie über die erforderliche Sachkunde für eine nervenfachärztliche Begutachtung verfügt. Darüber hinaus fehlen in dem von Dr. W. erstellten Gutachten ohnehin detaillierte Ausführungen dazu, inwieweit die lang dauernden Rückenbeschwerden und die chronische Schmerzsymptomatik zu psychischen Folgewirkungen geführt haben oder führen können, die die Konzentrationsfähigkeit und das Umstellungsvermögen der Klägerin beeinträchtigen können. Auch von daher ist der Sachverhalt nicht geklärt. c) Das Sozialgericht hat damit verfahrensfehlerhaft nur durch den Kammervorsitzenden durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entschieden, obwohl die Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 S. 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin ihren gesetzlichen Richter im Sinne des Artikel 101 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz entzogen, nämlich der Kammer in voller Besetzung (vgl. auch: BSG, Urteil vom 16. März 2006 – B 4 RA 59/04 R –, NZS 2007, 51 ff.). Dieser Mangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kammer in der gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

2. Weiterhin ist eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid nur zulässig, wenn die Beteiligten zuvor gemäß § 105 Abs. 1 S. 2 SGG ordnungsgemäß angehört worden sind. Dies gewährleistet der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG; Art. 103 Abs. 1 GG). Die hier vorgenommene Anhörung ist verfahrensfehlerhaft. Denn sie muss klarstellen, dass das Gericht im konkreten Fall vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 SGG ausgeht und eine mündliche Verhandlung nicht beabsichtigt ist. Nur auf diese Weise versetzt die Anhörung die Beteiligten in die Lage, sachgerechte Einwendungen gegen die Entscheidung durch Gerichtsbescheid zu erheben und erfüllt damit ihre Funktion (vgl. auch Kühl in: Breitkreuz/Fichte, SGG, § 105 SGG Rz. 4). Die Voraussetzungen des § 105 SGG werden in dem Anhörungsschreiben des Sozialgerichts vom 01. Oktober 2008 jedoch nicht erwähnt. Es ist vorstellbar, dass bei einer ordnungsgemäßen Anhörung überzeugende Gründe für eine Entscheidung mit ehrenamtlichen Richtern vorgetragen worden wären und die Entscheidung mit diesen anders ausgefallen wäre.

3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat der Senat das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits einerseits mit den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits miteinander abgewogen. Angesichts der Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens und der fehlenden Entscheidungsreife hat sich der Senat für eine Zurückverweisung entschieden. Das Sozialgericht wird auch über die Kosten zu entscheiden haben. Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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