L 4 P 9/09 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stendal (SAN)
Aktenzeichen
S 4 P 5/09 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 4 P 9/09 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Pflegestufe I nach dem SGB XI
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stendal vom 20. April 2009 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten

Gründe:

I.

Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragstellerin) begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen der Pflegeversicherung.

Die am ... 1962 geborene Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Antragsgegnerin) pflegeversichert. Im August 2008 stürzte sie vom Balkon der im 4. Stock gelegenen Wohnung ihres Sohnes. Danach wurde sie in der unfallchirurgischen Klinik der Hochschule H. bis zum 9. September 2008 stationär behandelt. Festgestellt wurden ein Schädel-Hirn-Trauma I. Grades, eine Maxillafraktur (Fraktur des Oberkiefers) mit Ausbruch mehrerer Zähne, Lendenwirbelsäulenkompressionsfrakturen 2 und 3 sowie eine vordere Beckenringfraktur rechts mit Einstrahlen in das Azetabulum rechts. Des Weiteren erlitt sie Schnittverletzungen, Prellungen und Hämatome. Vom 23. September bis 28. Oktober 2008 durchlief sie zur Anschlussheilbehandlung eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme der Deutschen Rentenversicherung in der MEDIAN-Klinik K ... Im Entlassungsbericht ist ausgeführt, die Antragstellerin gehe an zwei Unterarmgehstützen mit Teilbelastung des linken Beines in aufrechter Körperhaltung. Sie gebe bei allen Körperbewegungen Schmerzen an, das An- und Auskleiden sei aber selbständig möglich. Auch der Nacken- und der Schürzengriff seien zwar schmerzhaft, aber vollständig ausführbar. Bewegungen in der Lendenwirbelsäule würden wegen Schmerzen nahezu gemieden. Das Kreislaufverhalten sei insgesamt stabil gewesen. Sie sei arbeitsunfähig entlassen worden und bedürfe weiterhin intensiver Diagnostik und medizinischer Behandlungen. Ein Ende der Arbeitsunfähigkeit sei deshalb nicht absehbar. Empfohlen wurde eine weitere intensive Schmerztherapie und eventuell eine schmerztherapeutische Mitbehandlung, eine weitere psychologische Betreuung und Psychotherapie zur Verarbeitung des Unfallhergangs und der Unfallfolgen sowie eine intensive physiotherapeutische Behandlung. Bei der Teilnahme an einem allgemein aktivierenden Gedächtnistraining seien keine mentalen Auffälligkeiten erkennbar gewesen.

Am 3. November 2008 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin Leistungen bei häuslicher Pflege. Die Antragsgegnerin veranlasste ein Gutachten beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Sachsen-Anhalt (MDK), der nach einer häuslichen Untersuchung der Antragstellerin am 26. November 2008 durch die Gutachterin S. N. ausführte, das Gangbild sei langsam und leicht hinkend, mit den Unterarmgehstützen aber sicher und selbständig möglich. Treppensteigen sei erschwert, die Pflegeperson sei sichernd anwesend. Positionswechsel erfolgten unter Abstützen selbständig, nur die Badewanne könne sie nicht allein besteigen. Der Nackengriff erfolge rechts bis zur Ohrenhöhe, links vollständig, der Schürzengriff sei beidseits erschwert durchführbar. Mit der Hand reiche sie nur bis zu den Waden, die grobe Kraft sei rechts vorhanden und links gemindert, der Faustschluss beidseits intakt. Greiffunktion und Koordination seien ebenfalls beidseits intakt. Die Intimpflege und die Toilettengänge erfolgten selbständig. Die Leistungsfähigkeit sei gemindert, so dass Liegepausen nach Bedarf nötig seien. Sie habe traumatische Angstträume, Schmerzen im gesamten Körper und Schwindel angegeben. Die Gedächtnisleistung sei eingeschränkt, sie antworte aber auf gestellte Fragen freundlich, ausgeglichen und adäquat. Auffälligkeiten hätten sich auch im Bereich des Wahrnehmens sozialer Bereiche des Lebens gezeigt. Die Alltagskompetenz sei aber nicht eingeschränkt. Zur Körperpflege bedürfe die Antragstellerin der Hilfe von 4 Minuten täglich beim Duschen. Die Körperpflege erfolge im Sitzen in der Wanne auf einem Hocker, wobei die Pflegeperson lediglich Rücken, Beine und Füße wasche und der Antragstellerin beim Haare waschen helfe. Bei der Ernährung benötige sie keine Hilfe. Sie bereite ihre Brotmahlzeiten selber zu und belege die Brote allein. Bei der Mobilität habe sie einen Hilfebedarf von 4 Minuten täglich für das Ankleiden und 2 Minuten für das Entkleiden, da sie Hilfe benötige, um die Kleidung über den Rücken und Strümpfe und Schuhe an die Füße zu ziehen. Eine Transferhilfe von 2 Minuten sei für das Besteigen der Dusche erforderlich. Ein nächtlicher Grundpflegebedarf bestehe nicht. Daraus ergebe sich im Bereich der Grundpflege ein Pflegebedarf von 12 Minuten täglich, im Bereich der Hauswirtschaft betrage der Pflegebedarf 45 Minuten täglich.

Mit Bescheid vom 4. Dezember 2008 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag ab.

Hiergegen legte die Antragsstellerin am 17. Dezember 2008 Widerspruch ein und machte geltend: Sie benötige Hilfe beim Säubern ihrer Wohnung, beim Waschen der Wäsche, beim Einkaufen und beim Kochen. Da bei dem Unfall das gesamte Gebiss herausgeschlagen und noch nicht ersetzt worden sei, müsse jedes Gericht püriert werden. Sie könne sich auch nicht selber waschen, da sie die Badewanne nicht allein besteigen könne. Eine Dusche sei nicht vorhanden. Sie müsse aber zweimal täglich Duschen, da sie – wahrscheinlich auf Grund des Morphiumpflasters – ständig schwitze. Das Morphiumpflaster müsse zweimal wöchentlich gewechselt werden. Ferner benötige sie Hilfe beim An- und Ausziehen von Schuhen, Strümpfen, Unterwäsche sowie Hose, Rock oder Kleid. Sie könne auch kein Kraftfahrzeug selber führen oder öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Sie müsse aber zweimal wöchentlich zur Krankengymnastik nach Möser fahren und ca. alle zwei Wochen zum Gesichtschirurgen nach M ... Außerdem müsse sie die Hautärztin in Lostau, ihren Zahnarzt und die chirurgische Abteilung der Hochschule H. sowie nunmehr auch den Rechtsanwalt aufsuchen, Außerdem seien noch Behördengänge zu erledigen.

Am 26. Februar 2009 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Stendal den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Übernahme der Kosten der Pflegeleistungen beantragt. Zur Begründung hat sie auf ihren Widerspruch verwiesen und vorgetragen, die Situation habe sich nicht gebessert und die Hilfe sei für sie lebensnotwendig. Den gelegentlich helfenden Personen könnten die Hilfeleistungen nicht länger zugemutet werden und die Zustände im Haushalt seien unzumutbar geworden.

Der Antragstellerin ist mit gerichtlichem Schreiben vom 27. Februar 2009 empfohlen worden, beim zuständigen Sozialamt Hilfe zur Pflege gemäß §§ 61 ff. Zwöftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII) und bei der Krankenkasse Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) zu beantragen. Physiotherapeutische Maßnahmen könnten auch durch Hausbesuche erbracht werden. Des Weiteren ist sie gebeten worden, eine Woche lang ein Pflegetagebuch zu führen und dieses dem Gericht zu übersenden. Der Prozessbevollmächtigte hat darauf zunächst eine erneute schwere Erkrankung mit Bettlägerigkeit der Antragstellerin und einen Krankenhausaufenthalt zur Notoperation mitgeteilt. Trotz zahlreicher Versuche sei kein Kontakt mehr zur Antragstellerin zustande gekommen. Es sei nicht bekannt, wo sie sich derzeit aufhalte.

Die Antragsgegnerin hat ein weiteres Gutachten des MDK durch die Gutachterin C. S. vom 3. März 2009 veranlasst. Darin ist ausgeführt, die Pflegeperson pflege die Antragstellerin auf Grund privater Streitigkeiten nicht mehr. Pflegeperson sei nunmehr ihr Ehemann, mit dem sie in Scheidung lebe. Das Einfamilienhaus werde aber noch gemeinsam bewohnt. Für einmal täglich notwendiges Duschen benötige die Antragstellerin Hilfeleistungen in einem zeitlichen Umfang von 10 Minuten, für zweimal tägliches Kämmen 2 Minuten. Dreimal tägliches Duschen sei aus gutachterlicher Sicht nicht nachvollziehbar, da die Antragstellerin sich nach eigenen Angaben Gesicht, Hände, Halsbereich und den vorderen Oberkörper selbständig waschen könne. Der zeitliche Hilfebedarf für dreimaliges Haare waschen in der Woche sei berücksichtigt worden. Ein Nachkämmen am Hinterkopf sei erforderlich. Ansonsten erfolge die Körperpflege selbständig. Im Bereich der Ernährung habe die Antragstellerin einen Hilfebedarf von 8 Minuten täglich, da die Nahrungsmittel durch die Pflegeperson püriert werden müssten. Im Bereich der Mobilität sei ein Hilfebedarf von 10 Minuten erforderlich, 5 Minuten für das Ankleiden und 3 Minuten für das Entkleiden, da sie Hilfe benötige, um die Kleidung über die rechte Körperseite zu streifen und Hose, Slip und Strümpfe an- bzw. auszuziehen. Für das Besteigen der Dusche benötige sie für 2 Minuten Hilfe, ansonsten seien Fortbewegung und Positionswechsel selbständig möglich. Daraus ergebe sich ein zeitlicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 30 Minuten täglich und im Bereich der Hauswirtschaft von 45 Minuten täglich. Der Hilfebedarf sei mit der Antragstellerin besprochen und von dieser bestätigt worden. Im Vergleich zum Vorgutachten habe sich der Hilfebedarf auf Grund der Bewegungseinschränkungen der rechten Schulter erhöht. Die hauswirtschaftliche Versorgung, Behördengänge und die Medikamentenversorgung könnten zeitlich nicht berücksichtigt werden, da dieses keine Leistungen der Pflegeversicherung seien.

Im einstweiligen Rechtschutzverfahren hat die Antragsgegnerin ausgeführt, der Hilfebedarf liege überwiegend im Bereich der Hauswirtschaft. Das Wechseln des Morphiumpflasters sei dem Bereich der Behandlungspflege zuzurechnen und könne bei der Ermittlung des Hilfebedarfs im Bereich der Pflegeversicherung keine Berücksichtigung finden. Nach dem ärztlichen Entlassungsbericht aus der Anschlussheilbehandlung sei die Selbstversorgung, insbesondere das An- und Auskleiden selbständig möglich, auch wenn hierfür ein erhöhter Zeitaufwand benötigt werde.

Das Sozialgericht Stendal hat den Antrag mit Beschluss vom 20. April 2009 abgewiesen, da die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Pflegeleistungen nicht erfüllt seien. Die Antragstellerin sei nicht in dem erforderlichen Mindestumfang von mehr als 45 Minuten täglich auf die Hilfe einer anderen Person bei der grundpflegerischen Versorgung angewiesen. Hierbei hat es sich auf das Gutachten der Gutachterin S. beim MDK bezogen. Möglicherweise sei im Rahmen der Grundpflege zusätzlich Hilfe für das Aufsuchen von Ärzten und Therapeuten zu berücksichtigen. Da der Aufenthaltsort der Antragsstellerin derzeit unbekannt sei, könne nicht geklärt werden, ob solche Hilfe derzeit erfolge. Die dreimal in der Woche durchgeführte Physiotherapie sei im Februar 2009 beendet worden. Das Wechseln des Morphiumpflasters gehöre als Behandlungspflege nicht zum Bereich der Grundpflege. Gegen den ihr am 22. April 2009 zugestellten Beschluss hat die Antragstellerin am 20. Mai 2009 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Beschwerde eingelegt. Sie trägt vor: Sie habe sich vom 9. März 2009 bis 14. März 2009 nach einer Notaufnahme im Krankenhaus zur Magenoperation befunden und sei von dort in die Psychiatrie eingeliefert worden. Nach Entlassung am 16. April 2009 habe sie sich bei ihrem Sohn aufgehalten, da sie nicht in der Lage gewesen sei, sich selbst zu versorgen. Sie sei erst am 12. Mai 2009 nach Hause zurückgekehrt. Die Ganzkörperwäsche sei ihr alleine nicht möglich. Sie könne lediglich den Oberkörper im vorderen Bereich selbst waschen, benötige aber für den Rückenbereich und für den gesamten Unterkörper Hilfe. Sie könne die Badewanne nicht selbst besteigen und sich auch nicht selbst abduschen. Ebenso benötige sie Hilfe beim Aufstehen von der Toilette und zur Intimpflege nach dem Toilettengang. Auch die Bekleidung könne sie nur im Oberkörperbereich selbst richten. Aufgrund des beschwerlichen Gehens schwitze sie stark und müsse sich zwei- bis dreimal am Tag duschen. Hierbei könne nicht nur auf das Ein- und Aussteigen abgestellt werden, weil die Pflegeperson die gesamte Zeit, auch während des An- und Entkleidens und der Durchführung der Körperwäsche anwesend sein müsse. Wegen der Behinderungen dauere der Duschvorgang länger als bei gesunden Menschen. Insgesamt ergebe sich daher für die Körperpflege ein Zeitansatz von mindestens 30 Minuten. Den Unterkörper könne sie nicht selbst An- und Entkleiden, beim Oberkörper benötige sie Unterstützung oder Teilübernahmen. Auch beim An- und Entkleiden könne die Pflegeperson nicht nur für einen Teil der hierfür benötigten Zeit zur Verfügung stehen. Aufgrund von Schmerzen im Beckenbereich und einer möglichen Veränderung des Knochenbaus könne sie inzwischen die Gehhilfen nicht mehr verwenden, so dass ihr das Gehen nicht immer möglich sei. Je nach Witterung könne sie teilweise die Wohnung nicht allein verlassen. Stehen sei ihr nicht möglich. Treppensteigen könne sie nur noch bis zu drei Stufen selbst. Im Bereich der Ernährung und der hauswirtschaftlichen Versorgung sei der Hilfebedarf korrekt angegeben. Die Fahrten zu den Ärzten erfolgten immer noch regelmäßig vom Wohnhaus der Antragstellerin aus nach H. bzw. M. und B ... Ferner hätte nicht auf den Ehemann als Pflegeperson zurückgegriffen werden dürfen, da dieser hierfür nicht geeignet und seine Inanspruchnahme auf Grund der Trennung unzumutbar sei. Zur Unterstützung ihres Vorbringens hat sie eine als eidesstattliche Versicherung bezeichnete Erklärung beigefügt.

Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

den Beschluss des Sozialgerichts Stendal vom 20. April 2009 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab 26. Februar 2009 Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI zu gewähren.

Die Antragsgegnerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie bezieht sich im Wesentlichen auf die von ihr für zutreffend gehaltenen Ausführungen der Gutachterinnen des MDK. Darüber hinaus ist sie der Ansicht, ein Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung für Arztbesuche sei nur zu berücksichtigen, wenn dieser Hilfebedarf regelmäßig, mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten anfalle. Ein solcher Bedarf sei hier nicht erkennbar. Hinsichtlich der Pflegeperson hätten die Gutachterinnen lediglich festgestellt, wer die Pflege erbringe. Es werde dagegen nicht vorgeschrieben, durch wen die Pflegebedürftigen zu pflegen seien.

Auf einen erneuten Hinweis des Gerichts auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII durch das zuständige Sozialamt (nachfolgend: Landkreis) hat die Antragstellerin am 9. Juli 2009 entsprechende Leistungen beantragt. Der Landkreis hat mit Schreiben vom 8. Januar 2010 mitgeteilt, die Antragstellerin habe bislang keinerlei Unterlagen eingereicht.

Die Antragstellerin hat daraufhin versichert, die vom Sozialamt abgeholten Unterlagen im November 2009 ausgefüllt zurückgeschickt zu haben. Außerdem sei am 18. Dezember 2009 ein Hausbesuch durch das Sozialamt erfolgt.

Der Landkreis hat mit Schreiben vom 2. Februar 2010 nochmals vorgetragen, es seien auch nach wiederholter Prüfung des Sachverhaltes keine Antragsunterlagen eingegangen. Das Sozialamt habe einen Hausbesuch vom 18. Dezember 2009 weder veranlasst noch durchgeführt.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Stendal vom 20. April 2009 ist nach § 172 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden.

Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, denn das Sozialgericht hat den Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung zu Recht abgelehnt.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 der genannten Vorschrift vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG).

Hier kommt, da es um die Regelung eines vorläufigen Rechtszustandes geht, nur eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Eine solche Regelungsanordnung kann vom Gericht erlassen werden, wenn der Antragsteller glaubhaft macht (§ 920 Zivilprozessordnung [ZPO] i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG), dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und dass der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche, in § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG näher gekennzeichnete Nachteile erleidet (Anordnungsgrund). Der Anordnungsanspruch bezieht sich auf das materielle Recht des Antragsstellers. Eine einstweilige Anordnung kann nicht ergehen, wenn die Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, weil dann ein im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens schützenswertes Recht des Antragstellers nicht vorhanden ist. Der Anordnungsgrund setzt voraus, dass dem Antragsteller bei Abwägung seiner Interessen gegen die Interessen des Antragsgegners nicht zugemutet werden kann, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr verringern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund, wenn die Klage offensichtlich zulässig und begründet ist. Bei offenem Ausgang der Hauptsache ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich. Abzuwägen sind die Folgen, die auf der einen Seite entstehen, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erlässt und sich später im Hauptsacheverfahren der geltend gemachte Anspruch des Antragstellers herausstellt und auf der anderen Seite die Folgen, die entstehen, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erlässt, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht (vgl. zum Ganzen Keller in Meyer/Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., 2008, § 86 b Rd.-Nr. 29 ff. m. w. N.).

Die Antragstellerin hat weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht.

Der von ihr geltend gemachte Anspruch auf Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) voraus, dass der Pflegebedürftige bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Nach § 15 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.

Nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlungen erfüllt die Antragstellerin diese Voraussetzungen nicht. Insbesondere hat sie nicht hinreichend dargelegt, im Bereich der Grundpflege einen Pflegebedarf von mehr als 45 Minuten zu haben. Der vom MDK festgestellte Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege von 30 Minuten täglich bleibt deutlich hinter dem gesetzlich für die Zuerkennung der Pflegestufe I erforderlichen Maß von 45 Minuten täglich zurück. Das Gutachten müsste deshalb erhebliche Mängel aufweisen, wenn die Antragstellerin einen tatsächlich Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten täglich haben soll. Hierfür liegen keine Anhaltspunkte vor. Die Gutachterin hat den festgestellten Pflegebedarf aufgrund der körperlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin nachvollziehbar dargestellt und überzeugend begründet. Nach den Feststellungen der Gutachterin liegen die jeweils angesetzten Minutenzahlen für den Hilfebedarf geringfügig unterhalb der Werte der Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem XI. Buch Sozialgesetzbuch (Begutachtungs-Richtlinien – BRi, dort unter F. Orientierungswerte zur Pflegezeitbemessung für die in § 14 SGB XI genannten Verrichtungen der Grundpflege) in der Fassung vom 11. Mai 2006. Dies erscheint sachgerecht, da die Gutachterin jeweils nur Teilübernahmen für erforderlich hält, während bei der Festlegung der lediglich als Anhaltsgrößen dienenden Zeitorientierungswerte von einer vollständigen Übernahme der Verrichtungen durch eine Laienpflegekraft ausgegangen wurde. Lediglich für die mundgerechte Zubereitung der Nahrung hält die Gutachterin die volle Übernahme durch die Pflegeperson für nötig. Die Berücksichtigung von 8 Minuten für vier Mahlzeiten erscheint angesichts der Zeitorientierungswerte von 2 bis 3 Minuten für eine Hauptmahlzeit (einschließlich des Bereitstellens eines Getränkes) eher wohlwollend, da Zwischenmahlzeiten nur anteilig zu berücksichtigen sind und Getränke nicht bereitgestellt werden müssen. Bei der Antragstellerin geht es im Wesentlichen um das Pürieren der Nahrung. Unter Berücksichtigung der eigenen Angaben der Antragstellerin ist die Gutachterin zu Recht davon ausgegangen, dass die Pflegeperson die sonstigen Verrichtungen nicht vollständig übernehmen muss, sondern Teilübernahmen ausreichen. Wie dem Gutachten zu entnehmen ist, hatte die Antragstellerin angegeben, den Oberkörper im vorderen Bereich selbst waschen und auch die Intimpflege und das Richten der Bekleidung nach dem Toilettengang selbständig ausführen zu können. Aus diesem Grund erscheint ein mehr als einmal tägliches Duschen – auch bei erhöhtem Schwitzen – nicht notwendig. Die Antragstellerin nennt keine Gründe, aus denen die Pflegeperson während des gesamten Vorgangs der Körperwäsche oder des An- und Auskleidens anwesend sein muss. Nach den gesetzlichen Vorgaben kann nur der konkrete Pflegebedarf berücksichtigt werden. Auch unter Berücksichtigung der Ausführungen im Entlassungsbericht der Median-Klinik erscheinen die Feststellungen in diesem Gutachten insgesamt eher wohlwollend. In dem Entlassungsbericht ist nämlich ausgeführt, die Antragstellerin gebe zwar bei allen Körperbewegungen Schmerzen an, das An- und Auskleiden sei ihr aber selbständig möglich und der Nacken- und Schürzengriff seien vollständig ausführbar. Dies spricht eher für einen geringeren Pflegebedarf beim An- und Auskleiden.

Es unterliegt auch keinen Bedenken, dass die Gutachterin die von der Antragstellerin angegebenen Fahrten zu den Ärzten im Rahmen des Pflegebedarfs zeitlich nicht berücksichtigt hat. Nach den oben genannten Begutachtungsrichtlinien (dort unter D.4.3 Mobilität 15. Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung) ist ein Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung nur für solche Maßnahmen außerhalb der Wohnung zu berücksichtigen, die unmittelbar für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause notwendig sind und das persönliche Erscheinen des Antragstellers erfordern. Hierzu kann zwar auch das Aufsuchen von Ärzten und Therapeuten gehören; ein solcher Hilfebedarf ist jedoch nur dann zu berücksichtigen, wenn dieser regelmäßig (mindestens einmal pro Woche) und auf Dauer (voraussichtlich mindestens 6 Monate) anfällt. Zudem muss eine Begleitung durch die Pflegeperson erforderlich sein, so dass Hilfen in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigungsfähig sind, wenn der Antragsteller noch öffentliche Verkehrsmittel oder auch Taxen benutzen kann. Die Antragstellerin ist nicht auf eine Begleitung durch die Pflegeperson bei Arzt- oder Therapeutenbesuchen angewiesen. Sie ist auch zu dem Erörterungstermin am 7. Juli 2009 lediglich in Begleitung ihres Rechtsanwaltes erschienen und benötigte dessen Hilfe nicht für die Fortbewegung. Sie hat nicht angegeben, auf eine Begleitung angewiesen zu sein. Vielmehr benötigt sie nach ihrem eigenen Vortrag die Hilfe ihres Ehemanns nur, weil sie nicht in der Lage sei, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen oder einen PKW selbst zu führen. Es spricht aber beispielsweise nichts gegen die Nutzung eines Taxis ohne Begleitung durch eine Pflegeperson. Dabei ist nicht zu klären, ob ggf. Ansprüche auf Fahrtkosten gegen die Krankenversicherung oder gegen das zuständige Sozialamt bestehen könnten. Eine Berücksichtigung im Rahmen der Pflegestufe scheidet jedenfalls aus.

Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der Hilfebedarf der Antragstellerin seit dem zweiten Gutachten erhöht haben könnte. Vielmehr ist aufgrund ihres Lebensalters (47 Jahre) davon auszugehen, dass sich die weitgehend auf den Unfallfolgen beruhenden körperlichen Beeinträchtigungen der Antragstellerin weiter gebessert haben. Zwar ist die Gutachterin S. von einer gegenüber dem Erstgutachten erhöhten Bewegungseinschränkung der rechten Schulter ausgegangen und hat damit den höheren Pflegebedarf begründet. Allerdings hat die Antragstellerin für eine weitere Verschlechterung, insbesondere im Bereich des Gehens durch eine mögliche Veränderung des Knochenbaus keinerlei nachvollziehbaren Anhaltspunkte dargelegt oder glaubhaft gemacht. Gegen eine Verschlechterung spricht auch, dass sie ohne Hilfe durch eine Pflegeperson am Erörterungstermin teilnehmen konnte. Für eine Entscheidung in der Hauptsache bedarf es zwar weiterer Ermittlungen, nach dem derzeitigen Erkenntnisstand sind aber die Erfolgesaussichten lediglich als gering zu bewerten. Dies wird insbesondere auch daran deutlich, dass der vom MDK festgestellte Pflegebedarf der Antragstellerin im Bereich der Grundpflege von 30 Minuten täglich ganz erheblich hinter dem gesetzlich für die Zuerkennung der Pflegestufe I erforderlichen Maß von 45 Minuten täglich zurückbleibt.

Auch für das Vorliegen eines Anordnungsgrundes fehlen hinreichende Anhaltspunkte. Nachdem der Pflegebedarf der Antragstellerin so deutlich hinter den gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch zurückbleibt, sind an den Anordnungsgrund schon erhebliche Anforderungen zu stellen. Ohne den Erlass der begehrten Anordnung müssen dem Antragsteller ganz erhebliche Nachteile drohen, um den Anspruch trotz der geringen Erfolgsaussichten der Hauptsache – wenn auch nur vorläufig – gewähren zu können. Dies setzt eine erhebliche Gefährdung von wesentlichen oder grundgesetzlich geschützten Rechtsgütern wie Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, Menschenwürde o. ä. voraus (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.2.2009 – 1 BvR 120/09, NZS 2009, 674, sowie LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 24.4.2003 – L 3 KN 1/03 P ER, zitiert nach juris). Eine solche Gefahrenlage ist nicht glaubhaft gemacht.

Soweit Hilfe zur Pflege erforderlich ist, die aus eigenen Mitteln nicht finanziert werden kann, können entsprechende Leistungen nach §§ 61 ff. SGB XII vom Sozialamt gewährt werden. Da die Antragstellerin die nach dem derzeitigen Erkenntnisstand erforderlichen Hilfeleistungen bei finanzieller Bedürftigkeit auf diese Weise beziehen kann, ist es auch nicht unzumutbar, sie auf die Inanspruchnahme dieser Hilfe zu verweisen.

Einen solchen Antrag hat die Antragstellerin am 9. Juli 2009 und damit erst über vier Monate nach dem entsprechenden Hinweisschreiben des Gerichts vom 24. Februar 2009 gestellt, ohne bislang die hierzu benötigten Unterlagen dort eingereicht zu haben. Angesichts der eindeutigen Auskünfte des Sozialamtes bezüglich der fehlenden Unterlagen reicht die entgegenstehende schriftliche Erklärung der Antragstellerin zur Glaubhaftmachung der Einreichung aller erforderlichen Unterlagen nicht aus, da nicht auszuschließen ist, dass sie Daten, Unterlagen oder verschiedene Leistungsträger verwechselt. Da sie offenbar das Verwaltungsverfahren beim zuständigen Sozialamt nicht betreibt, ist auf eine fehlende Eilbedürftigkeit bezüglich dieser Leistungen zu schließen.

Auf eine existenzgefährdende Lage der Antragstellerin kann auch aus der Art und Weise, wie sie bisher das einstweilige Rechtsschutzverfahren und das Hauptsacheverfahren betrieben hat, nicht gefolgert werden. Ein dringendes Ringen um Hilfe wird nicht erkennbar. So war sie über einen längeren Zeitraum nicht erreichbar, ohne ihrem Prozessbevollmächtigten Anschrift oder Telefonnummer zu hinterlassen oder sich ihrerseits regelmäßig mit ihm in Verbindung zu setzen. Selbst im Hauptsacheverfahren hat das Sozialgericht bereits angefragt, ob das Verfahren noch weiter betrieben werde. Insgesamt kann daher davon ausgegangen werden, dass sie über genügend eigene Ressourcen verfügt, um eine Entscheidung in der Hautsache abzuwarten. Schließlich sind auch von den Gutachterinnen keine Pflegedefizite festgestellt worden. Auch der Erörterungstermin erbrachte hierfür keine Anhaltspunkte. Eine Gefährdung grundrechtsgeschützter Rechtsgüter ist daher nicht ersichtlich.

Der Senat hat von einer Beiladung und möglichen Verpflichtung des zuständigen Sozialamtes im Wege der einstweiligen Anordnung abgesehen, da diesbezüglich die Durchführung des Verwaltungsverfahrens der einfachere und schnellere Weg ist (vgl. zum fehlenden Rechtsschutzbedürfnis vor Kontakt mit dem Leistungserbringer: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15.1.2009, L 7 B 398/08 AS, zitiert nach Juris). Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das zuständige Sozialamt bei entsprechender Mitarbeit der Antragstellerin dieser die ihr zustehenden Leistungen nicht bewilligen würde. Eine Leistungsgewährung durch das Sozialamt kann aber – auch im Wege der Beiladung – nicht ohne die entsprechende Mitarbeit der Antragstellerin erfolgen. Das Sozialamt stellt konkrete Hilfen für die einzelnen Verrichtungen zur Verfügung, für die der Antragsteller tatsächlich der Hilfe bedarf. Insbesondere die im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung erforderliche Hilfe der Antragstellerin ist bisher für eine Leistungsgewährung durch das Sozialamt nicht hinreichend konkret festgestellt worden.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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