L 7 B 9/08 SB

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
7
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 1 SB 276/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 7 B 9/08 SB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Hinreichende Erfolgaussicht im PKH-Verfahren
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 20. August 2008 aufgehoben. Dem Kläger wird für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Halle ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt Dr. Eifert beigeordnet. Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer und Kläger (im Folgenden: Kläger) wendet sich gegen die Ablehnung des Antrages auf Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) in einem Schwerbehindertenverfahren, mit dem er die Feststellung eines Grades der Behinderung von 30 begehrt.

Der am ... 1965 geborene Kläger beantragte am 21. Februar 2006 beim Beklagten die Feststellung von Behinderungen wegen Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, der Hüft- und Kniegelenke sowie das Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Der Beklagte holte Befundscheine der behandelnden Ärzte des Klägers ein. Der Facharzt für Innere Medizin Dr. W ... teilte unter dem 7. April 2006 mit, der Kläger leide unter ziehenden Schmerzen im Bereich der Arme und der unteren Extremitäten mit rezidivierenden Muskel- und Nervenreizerscheinungen. Die Extremitäten seien aktiv und passiv frei beweglich, die Sehnenreflexe regelrecht auslösbar. Die Kraftentfaltung in den Knie- und Schultergelenken sei deutlich vermindert. Die Lendenwirbelsäule (LWS) weise degenerative Veränderungen auf. Eine neurologische Diagnose stehe noch aus. Die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. W ... diagnostizierte mit einem am 27. Juli 2006 beim Beklagten eingegangenen Befundschein ein chronisches Schmerzsyndrom, eine Radikulopathie (Nervenwurzelentzündung), eine muskuläre Dysbalance, eine zervikale Neuralgie sowie Hypertonie. Die Beweglichkeit der LWS sei schmerzhaft eingeschränkt. Der Kläger fühle sich aufgrund seiner Schmerzzustände nicht in der Lage, den Belastungen des Alltags gerecht zu werden. Die Computertomografie der LWS vom 28. September 2004 habe aber nur geringe degenerative Veränderungen gezeigt.

Außerdem zog der Beklagte Unterlagen vom Rentenversicherungsträger bei. Mit Gutachten vom 6. März 2003 hatte die Fachärztin für Orthopädie Dr. F ... ein pseudoradikuläres Lumbalsyndrom bei muskulärer Dysbalance und Adipositas, eine Hüftdysplasie sowie eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. Sie hatte Bewegungsmaße der Wirbelsäule, der Hüft- und Kniegelenke erhoben, auf eine Diskrepanz zwischen Untersuchungsbefund und der geschilderter Schmerzsymptomatik hingewiesen und eine neurologischpsychiatrische Untersuchung vorgeschlagen. Die Fachärztin für Orthopädie und Rheumatologie Dr. S ... hatte unter dem 24. Januar 2003 eine chronifizierte Schmerzkrankheit diagnostiziert und auf ein Aggravationsverhalten (Verdeutlichungstendenz) hingewiesen. Die Fachärztin für Anästhesiologie und Chirurgie Dr. S ... hatte unter dem 21. August 2003 ein Radikulärsyndrom mit ausgeprägten muskulären Dysbalancen, Adipositas und eine chronische Gastritis festgestellt sowie über eine deutliche Diskrepanz zwischen dem subjektiven und objektiven klinischen Befunden berichtet. Eine Aggravation sei nicht ausgeschlossen.

Der daraufhin beteiligte ärztliche Dienst des Beklagten führte in seiner Stellungnahme aus, die Funktionsstörungen der Wirbelsäule begründeten keinen Behinderungsgrad. Eine Somatisierungsstörung sei nicht geltend gemacht worden und auch nicht durch einen neurologisch-psychiatrischen Befundbericht belegt. Dem folgend lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18. Januar 2007 die Feststellung von Behinderungen ab. Am 7. Februar 2007 erhob der Kläger Widerspruch und verwies auf die vorliegenden medizinischen Unterlagen. Mit Widerspruchsbescheid vom 14. November 2007 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.

Am 20. November 2007 hat der Kläger beim Sozialgericht Halle Klage erhoben und ergänzend auf seelische Begleiterscheinungen und Schmerzen hingewiesen. Zur Unterstützung seines Vortrages hat er ein Sachverständigengutachten des Prof. Dr. Dr. S ... vom 29. Oktober 2004 vorgelegt, das dieser im Verfahren S 3 RJ 575/03 erstattet hatte. Neben der orthopädischen Befunderhebung hatte Prof. Dr. Dr. S ... ein psychosomatisches Syndrom mit ungenügender Schmerzverarbeitung diagnostiziert. Bei jeder zusätzlichen Belastung, aber auch bei seelischen Problemen sei eine Verschlechterung zu erwarten.

Am 29. Januar 2008 hat der Kläger Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt und eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 30. November 2007 vorgelegt.

In dem am 13. Februar 2008 zurückgesandten Fragebogen des Sozialgerichts hat der Kläger Behandlungen und Untersuchungen durch Prof. Dr. Dr. S ..., Dipl.-Med. W ..., Dr. W ... und den "MDK M." mitgeteilt.

Mit Schreiben vom 29. Februar 2008 hat das Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt im Verfahren L 3 RJ 202/05 die Verfahrensakte beigezogen.

Unter dem 20. März 2008 hat der Kammervorsitzende den Beklagten darauf hingewiesen, dass der Anwendungsbereich des § 131 Abs. 5 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eröffnet sein dürfte. Insbesondere liege kein aktueller Befund mit orthopädischen Bewegungsmaßen vor. Der Aufklärungsgrundsatz hätte den Beklagten zu einer fachorthopädischen bzw. neurologischen Begutachtung veranlassen müssen. Dies sei offensichtlich und hätte sich bei der Sachbearbeitung aufdrängen müssen. Daher werde angeraten, die getroffene Verwaltungsentscheidung aufzuheben, eine fachorthopädische und neurologische Begutachtung zu veranlassen und den Antrag des Klägers neu zu bescheiden.

Mit Schreiben vom 2. April 2008 hat der Kläger um Beiziehung des am 24. März 2008 durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Sachsen-Anhalt erstellten Gutachtens gebeten.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 8. April 2008 ausgeführt, die Ehefrau des Klägers habe am 6. November 2006 telefonisch mitgeteilt, ihr Ehemann werde aktuell von keinem anderen Arzt behandelt. Danach sei er davon ausgegangen, dass die im April 2006 von Dr. W ... vorgesehene neurologische Diagnostik nicht mehr durchgeführt werde. Bei dem dargestellten Ablauf habe zudem ein erheblicher Leidensdruck ausgeschlossen werden können. Bei einem schwerwiegenden Beschwerdebild wäre eine Diagnostik bzw. Vorstellung bei einem Arzt für Orthopädie durchgeführt worden.

Daraufhin hat der Kläger mit Schreiben vom 5. Mai 2008 mitgeteilt, die Auskünfte der geschiedenen Ehefrau S. B. seien falsch gewesen.

Mit Beschluss vom 20. August 2008 hat das Sozialgericht den Antrag auf PKH abgelehnt, weil die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Der Kläger habe sich auf medizinische Unterlagen gestützt, in denen ein dringender Verdacht auf Aggravation bzw. eine chronifizierte Schmerzkrankheit mit Aggravationsverhalten mitgeteilt worden sei. Eine chronifizierte Schmerzkrankheit im objektiven Sinne bestehe aber nicht. Auch muskuläre Dysbalancen rechtfertigten für sich keine Bewertung mit einem Behinderungsgrad, denn erst Bewegungseinschränkungen könnten in ihren Auswirkungen bewertet werden. Eine anderweitige medizinische Sachverhaltsaufklärung habe nicht erfolgen können, da der Kläger keinen anderen Arzt als Prof. Dr. Dr. S ... angegeben habe. Nach dessen Befunderhebung sei die Beweglichkeit der großen Gelenke oder der Wirbelsäule aber nicht eingeschränkt. Ebenso lägen die weiteren mitgeteilten Bewegungsmaße im Normbereich. Auch die von Dr. W ... und Dipl.-Med. W ... beschriebenen degenerativen Veränderungen schränkten die Beweglichkeit nicht wesentlich ein. Allenfalls könne ein Grad der Behinderung von 10 angenommen werden.

Gegen den am 24. September 2008 zugestellten Beschluss hat der Kläger am selben Tag Beschwerde beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt erhoben. Er hat zur Begründung ausgeführt: Bereits das Klagevorbringen in Verbindung mit den bereits vorhandenen Unterlagen rechtfertige sein Klagebegehren. Zudem sei dem Gericht eine weitere Sachaufklärung durch die Beiziehung der Rentenakte möglich gewesen. Von dem Rentenverfahren habe das Sozialgericht durch das Gutachten des Prof. Dr. Dr. S ... Kenntnis erlangt. Schließlich könne er nicht nachzuvollziehen, dass das Sozialgericht zunächst den Beklagten mit Schreiben vom 20. März 2008 zur Aufhebung des angefochtenen Bescheids aufgefordert und nunmehr den PKH–Antrag wegen Erfolglosigkeit abgelehnt hat.

Am 29. Dezember 2009 hat der Kläger eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 24. Dezember 2009 vorgelegt. Danach erzielt er Einnahmen aus der Verkaufstätigkeit von Eiern in Höhe von 50,- EUR und bezieht vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zeiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) in Höhe von monatlich 406,98 EUR. Die Leistungen wurden nur vorläufig bewilligt. Ihm wurde mit Bescheid vom 18. Dezember 2009 aufgegeben, umgehend seine Gewerbeanmeldung hinsichtlich seiner Verkaufstätigkeit sowie aktuelle betriebswirtschaftliche Auswertungen für das Jahr 2009 und 2009 vorzulegen. Außerdem hat er Ausgaben für das von ihm bewohnte Eigenheim durch monatliche Raten in Höhe von 200,- EUR, sowie diverse Versicherungsbeiträge (Haftpflicht-, Hausrat- und Glasversicherung) nachgewiesen.

Das Sozialgericht hat dem Landessozialgericht die Verfahrensakten sowie die Verwaltungsakte des Beklagten zur Entscheidung vorgelegt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf diese Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 20. August 2008 ist nach § 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig.

Die Beschwerde ist auch begründet.

Nach § 73a Abs. 1 S. 1 SGG in Verbindung mit § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht oder nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, sofern die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung muss der durch Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes gebotenen Rechtsschutzgleichheit gerecht werden. Danach muss einerseits der Prozesserfolg nicht schon gewiss sein, reicht andererseits aber eine nur entfernte Erfolgsaussicht nicht aus (vgl. BVerfGE 81, 347 [356 ff.]). Nach dem vorgetragenen Sachverhalt und den vorliegenden Unterlagen müssen der Rechtsstandpunkt des Antragstellers zumindest vertretbar und eine Beweisführung möglich sein (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 73a Rdnr. 7a). Hält das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens oder eine andere Beweiserhebung von Amts wegen für notwendig, so kann in der Regel die Erfolgsaussicht auch nicht verneint werden (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O.).

Danach hat die Klage bereits hinreichende Aussicht auf Erfolg, weil das Sozialgericht selbst eine weitere Sachaufklärung zunächst für notwendig erachtet hat. Es hat den Beklagten mit Schreiben vom 20. März 2008 darauf hingewiesen, dass sich dieser zu einer fachorthopädischen bzw. neurologischen Begutachtung hätte veranlasst sehen müssen und ihm dringend angeraten, die getroffene Verwaltungsentscheidung aufzuheben. Damit hat es selbst den Sachverhalt als nicht abschließend aufgeklärt eingeschätzt.

Im Übrigen erscheint nach dem Hinweis des Klägers auf seine psychischen Beeinträchtigungen eine Feststellung eines Behinderungsgrads für ein seelisches Leiden durchaus möglich. Sollte tatsächlich eine Somatisierungsstörung des Klägers vorliegen - so wie Dr. F ... und Prof. Dr. Dr. S ... fachfremd diagnostiziert haben - müsste diese unter Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auch in den Gesamtbehinderungsgrad einfließen. Die Ermittlungsansätze sind insoweit auch noch nicht ausgeschöpft und das Ergebnis des Beweisaufnahme nicht vorhersehbar. So könnten noch die Rentenversicherungsunterlagen des Klägers sowie das Gutachten des Sozialmedizinischen Diensts beigezogen werden. Auf diese Ermittlungsmöglichkeiten hat der Kläger selbst durch Übersendung des Fragebogens, des im Rentenverfahren eingeholten Gutachtens des Prof. Dr. Dr. S ... und seine schriftsätzlichen Ausführungen hingewiesen. Schließlich war dem Gericht auch durch die Aktenanforderung im Verfahren L 3 RJ 202/05 bekannt, dass ein rentenrechtliches Verfahren am Landessozialgericht anhängig ist.

Der Kläger kann ausweislich seiner Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vom 24. Dezember 2009 die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen. Er bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II). Zwar sind die Leistungen bislang nur vorläufig. Doch hat der Senat keine Bedenken, lediglich von einer Gewinneinnahme von 50,- EUR aus dem Verkauf von Eiern auszugehen, sodass insgesamt ein Einkommen in Höhe von 456,98 EUR vorliegt. Abzüglich der Freibetrags in Höhe von 395,00 EUR und der diversen Zahlungsverpflichtungen (Rate für Haus, Versicherungen) verbleibt dem Kläger kein einzusetzendes Einkommen. Vermögen ist nach der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorhanden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO.

Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

gez. Fock gez. Dr. Fechner gez. Dr. König
Rechtskraft
Aus
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