Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 10 R 672/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 10 R 148/11 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. März 2011 aufgehoben.
Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin J. M., E.4, M. bewilligt.
Gründe:
I.
Die Klägerin und Antragstellerin (im Folgenden: Klägerin) wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe durch das Sozialgericht wegen unzureichender Erfolgsaussichten der Klage.
Die im Mai 19 ... geborene Klägerin beantragte im Februar 2009 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Gegen den ablehnenden Bescheid vom 1. Oktober 2009 legte die Klägerin mit Schreiben vom 29. Oktober 2009 Widerspruch ein. Daraufhin erließ die Beklagte am 1. Juni 2010 einen ablehnenden Widerspruchsbescheid, der ausweislich eines Aktenvermerks am 2. Juni 2010 an die Klägerin versandt wurde. Gegen den Widerspruchsbescheid wandte sich die Klägerin mit einem Schreiben vom 29. Juni 2010 erneut an die Beklagte. Dieses ist überschrieben mit "Widerspruch gegen die Zurückweisung meines Widerspruchs vom 01.06.2010". Nach umfassenden Ausführungen in der Sache bat die Klägerin am Schluss des Schreibens darum, ihren Fall nochmals zu prüfen. Sie hoffe auf einen baldigen Bescheid von der Beklagten und fügte verschiedene Arztbriefe bei, darunter ein aktueller aus Juni 2010.
Dieses Schreiben ging am 1. Juli 2010 bei der Beklagten ein, die es am 19. Juli 2010 an das Sozialgericht Halle weiterleitete, mit der Bitte zu prüfen, ob ein Klageverfahren durchgeführt werden solle.
Die zuständige Kammer des Sozialgerichts Halle teilte der Klägerin mit Schreiben vom 26. Juli 2010 mit, dass "die Klage vom 29. Juni 2010" am 21. Juli 2010 eingegangen sei. Die Klägerin wurde gebeten klarzustellen, ob sie mit ihrem Widerspruch vom 29. Juni 2010 tatsächlich vor dem Sozialgericht klagen wolle oder eine nochmalige Überprüfung durch die Beklagte anstrebe.
Daraufhin bevollmächtigte die Klägerin am 2. August 2010 die nunmehr beigeordnete Rechtsanwältin zur Prozessführung, die mitteilte, zunächst namens und im Auftrag ihrer Mandantschaft klarzustellen, dass diese vor dem Sozialgericht klagen wolle. Aufgrund von Rechtsunkenntnis sei sie jedoch davon ausgegangen, einen weiteren Widerspruch bei der Beklagten einlegen zu können. Da jedoch bereits ein Widerspruchsverfahren erfolglos durchgeführt worden sei, solle nunmehr eine Überprüfung des Bescheides durch das Sozialgericht erfolgen. Zur Durchführung dieses Verfahrens beantragte sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Die Beklagte hielt in der Sache an ihren Ausführungen im Widerspruchsbescheid fest und stellte eine weitere medizinische Beweiserhebung ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts.
Der zuständige Kammervorsitzende des Sozialgerichts teilte der Klägerin mit Schreiben vom 2. September 2010 mit, weitere Ermittlungen seien nicht beabsichtigt, da das Gericht die Klage für unzulässig halte. Die Klägerin habe mitgeteilt, aus Rechtsunkenntnis einen weiteren Widerspruch eingelegt zu haben. Daher habe sie nicht klagen wollen. Die Klageerhebung mit Schriftsatz vom 10. August 2010 sei verspätet. Der Klägerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.
Daraufhin teilte die Klägerin mit, sie habe mit ihrem Schreiben vom 29. Juni 2010 eine Überprüfung durch die nächst höhere Rechtsmittelstufe erreichen wollen. Dies sei ihre alleinige Intention gewesen. Aus Rechtsunkenntnis sei sie davon ausgegangen, dies mit ihrem als "Widerspruch" bezeichneten Schreiben vom 29. Juni 2010 erreichen zu können. Es werde daher von einer fristgerechten Klageerhebung ausgegangen.
Mit Beschluss vom 17. März 2011 lehnte das Sozialgericht Halle den Antrag auf Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussichten der Klage ab. Bei dem Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 habe es sich nicht um eine Klage gehandelt. Die Auslegung des Schreibens ergebe, dass die Klägerin keine gerichtliche, sondern eine nochmalige Überprüfung durch die Beklagte gewollt habe. Ihr Ziel sei daher eine neue eigenständige Entscheidung der Beklagten, nicht aber die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens gewesen. Da der Widerspruchsbescheid eine korrekte Rechtsmittelbelehrung enthalte, könne sie sich nicht auf Rechtsunkenntnis berufen. Erst mit dem Schriftsatz vom 10. August 2010 habe sie erklärt, klagen zu wollen. Diese Klagerhebung sei jedoch verspätet.
Gegen den der Klägerin am 31. März 2011 zugestellten Beschluss hat sie am 29. April 2011 Beschwerde erhoben. Ihr Schreiben vom 29. Juni 2010 sei als Klage zu werten, da diesem eindeutig zu entnehmen sei, dass sie sich gegen die Feststellungen und Entscheidungen der Beklagten wehren wolle. Bei den konkreten Formulierungen der Klägerin handele es sich um Höflichkeitsformen. Ihrem Willen, sich gegen die Entscheidung zu wehren und insoweit den nächst möglichen Schritt zu unternehmen, stehe dies nicht entgegen. Die Rechtsmittelbelehrung trete nicht deutlich genug aus dem Text hervor, da sie dem Layout des gesamten Bescheides entspreche. Die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht einer Warnfunktion könne daher nicht in ausreichendem Maße erreicht werden.
Die Klägerin beantragt damit sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. März 2011 aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J. M. , E. 4, M. zu gewähren.
Die Beklagte hat sich in der Sache nicht geäußert und die Entscheidung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe dem Gericht überlassen.
Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 und 3 Zivilprozessordnung (ZPO) form- und fristgerecht eingelegte und nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG ausgeschlossene Beschwerde ist zulässig.
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Da das Beschwerdegericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht neu entscheidet, konnte es – nach Feststellung hinreichender Erfolgsaussichten – auch über die Voraussetzungen der Gewährung von Prozesskostenhilfe in Bezug auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin entscheiden.
1. Die von der Klägerin beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne des § 114 ZPO, der nach § 73a SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind die Erfolgsaussichten im Sinne dieser Norm als hinreichend einzuschätzen, wenn der Erfolg zwar nicht gewiss, eine Erfolgschance jedoch nicht unwahrscheinlich ist (BVerfG, Urt. v. 13. März 1990 – 2 BVR 94/88, BVerfGE 81, 347, st.Rspr.). Soweit es um eine Rechtsfrage geht, die in der Rechtsprechung noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig ist, muss Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Ebenso ist bei einer von der Rechtsprechung oder herrschenden Meinung im Schrifttum abweichenden Rechtsansicht zu entscheiden (vgl. BVerfG, Urt. v. 8. November 2004, 1 BvR 2095/04, NJW-RR 05, 500). Die bedürftige Person muss die Möglichkeit haben, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren zu vertreten und unter Umständen Rechtsmittel einzulegen. Deswegen darf das Gericht über eine schwierige Rechtsfrage nicht im Prozesskostenhilfeverfahren, in dem nur eine summarische Prüfung vorzunehmen ist, entscheiden (vgl. hierzu auch Leitherer in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 9. Auflage, § 73a Rd.-Nr. 7b mit zahleichen weiteren Nachweisen).
Danach darf die hinreichende Erfolgsaussicht der Klage nicht abgelehnt werden. Die Frage, ob es sich bei dem Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 um eine Klage handelt, ist durch Auslegung zu entscheiden. Die der Auslegung zugrunde liegenden Grundsätze sind Rechtsfragen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich bereits in den Jahren 1974 und 1975 zu der Rechtsfrage geäußert, unter welchen Voraussetzungen ein an den Versicherungsträger gerichteter Widerspruch in eine Klage umgedeutet werden kann (vgl. BSG, Urt. v. 31. Januar 1974 – 4 RJ 167/73, SozR 1500 § 92 Nr. 1; sowie Urt. v. 28. Oktober 1975 – 9 RV 452/74, SozR 1500 § 92 Nr. 2). Danach muss bei einer sozialgerichtlichen Anfechtungs- und Leistungsklage der Wille, durch Ingangsetzung des gerichtlichen Verfahrens eine Änderung derjenigen Verwaltungsentscheidung herbeizuführen, durch die der Beteiligte sich beschwert fühlt, erkennbar geäußert sein. Allein die Äußerung von Unzufriedenheit oder eine Kritik an einer behördlichen Maßnahme ist nicht als Klage anzusehen. Dabei steht das von dem Beteiligten gewünschte Resultat im Vordergrund, der in der Regel eine vorurteilsfreie Prüfung der beanstandeten Entscheidung wünscht. Der einzuschlagende Weg hat demgegenüber untergeordnete Bedeutung. Selbst wenn der Kläger die Verwaltung erst noch zur Selbstkorrektur veranlassen wollte, kann bei verständiger Würdigung die Klageabsicht unterstellt werden. Denn die Auslegung schriftlicher Erklärungen darf sich nicht allzu streng am Wortlaut orientieren. Ungewandte Personen umschreiben ihre Absichten vielfach höchst ungenau. Bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist daher anzunehmen, dass der Verfasser das gewollt hat, was ihm von seinem Standpunkt aus am ehesten die Rechtsverfolgung ermöglicht.
Der Senat folgt dieser Rechtsprechung, denn dies entspricht dem für alle Prozessordnungen erkennbaren Grundsatz, dass zumindest bei Laien ein Verkennen der verfahrensrechtlichen Lage möglichst nicht zu einem Verlust an Rechtschutz führen soll. Im sozialgerichtlichen Verfahren wird dieser Gedanke insbesondere in den Regelungen der §§ 91 und 92 SGG deutlich.
Nach diesen Grundsätzen war das Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 als Klage auszulegen. Es wird hinreichend deutlich erkennbar, dass die Klägerin die getroffene Verwaltungsentscheidung nicht nur kritisch betrachten, sondern unter Wahrung der Monatsfrist eine Änderung der Entscheidung herbeiführen wollte. Nur aus diesem Grund bat sie um "einen baldigen Bescheid", nachdem sie sehr ausführlich dargelegt hat, aus welchen Gründen (ihrer Ansicht nach) die Entscheidung der Beklagten inhaltlich nicht haltbar sei. Bei verständiger und nicht allzu streng am Wortlaut orientierter Auslegung dieser schriftlichen Äußerung reicht dies zur Erkennbarkeit ihres Willens nach einer Änderung der Entscheidung aus. Denn die Klägerin ist weder selbst rechtskundig noch war sie rechtskundig vertreten. Ihr Wunsch nach weisungsfreier Prüfung des beanstandeten Verwaltungsaktes wird jedenfalls hinreichend deutlich. Dieser steht nach den oben dargelegten Auslegungsgrundsätzen dann grundsätzlich im Vordergrund, während der hierfür zu bestreitende Weg nur zweitrangige Bedeutung hat. Diese Auslegung ermöglicht der Klägerin von ihrem Standpunkt aus am ehesten die Rechtsverfolgung. Damit ist ihre Klageabsicht hinreichend dargetan.
Bei Eingang dieses Schreibens bei Gericht hatte der Richter selbst Zweifel, ob die Klägerin damit eine Klage erheben wollte oder eine nochmalige Überprüfung durch die Beklagte anstrebte. Daher richtete er eine entsprechende Frage an die Klägerin. Auch die Beklagte bat bei der Weiterleitung der klägerischen Eingabe an das Gericht um Prüfung, ob ein Klageverfahren durchgeführt werden solle. Bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist die hier dargelegte im Sinne einer Klageabsicht anzunehmen.
Allein die Formulierung der Prozessbevollmächtigten, die Klägerin sei in Rechtsunkenntnis davon ausgegangen einen weiteren Widerspruch bei der Beklagten einlegen zu können, spricht nicht gegen die Klageabsicht, denn nach den dargelegten Auslegungsgrundsätzen ist der Verfahrensweg zweitrangig, wenn der Wunsch nach einer inhaltlichen Änderung der Entscheidung erkennbar wird. Schließlich hat die Prozessbevollmächtigte gleichzeitig vorgetragen, dass die Klägerin mit diesem Schreiben eine Klage habe erheben wollen. Zudem ist hier nicht das anwaltliche Schreiben vom 10. August 2010, sondern das Schreiben der Klägerin persönlich vom 29. Juni 2010 auszulegen.
Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das Sozialgericht das Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 in dem gerichtlichen Schreiben vom 26. Juli 2010 bereits als Klage bezeichnet hat. Es ist nicht fernliegend, dass die Klägerin im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Bezeichnung (und im Bewusstsein ihrer Bedürftigkeit in Bezug auf Prozesskostenhilfe) eine Rechtsanwältin beauftragt hat, deren bisherigen Kosten sie bei anderweitiger Entscheidung trotz vorliegender Bedürftigkeit selbst tragen müsste.
Die hinreichenden Erfolgsaussichten können auch dann nicht verneint werden, wenn das Sozialgericht von den dargelegten Auslegungsgrundsätzen abweichen möchte. In diesem Fall muss die Klägerin die Möglichkeit haben, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren zu vertreten und unter Umständen Rechtsmittel einzulegen.
Auch im Übrigen hat das Klageverfahren hinreichende Erfolgsaussichten, da bezüglich der Frage der Erwerbsminderung weitere Ermittlungen erforderlich sind.
2. Die Klägerin ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung – auch nicht zum Teil oder in Raten – aufzubringen. Sie bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II); weiteres Einkommen oder Vermögen liegt nicht vor.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwältin J. M., E.4, M. bewilligt.
Gründe:
I.
Die Klägerin und Antragstellerin (im Folgenden: Klägerin) wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe durch das Sozialgericht wegen unzureichender Erfolgsaussichten der Klage.
Die im Mai 19 ... geborene Klägerin beantragte im Februar 2009 bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Gegen den ablehnenden Bescheid vom 1. Oktober 2009 legte die Klägerin mit Schreiben vom 29. Oktober 2009 Widerspruch ein. Daraufhin erließ die Beklagte am 1. Juni 2010 einen ablehnenden Widerspruchsbescheid, der ausweislich eines Aktenvermerks am 2. Juni 2010 an die Klägerin versandt wurde. Gegen den Widerspruchsbescheid wandte sich die Klägerin mit einem Schreiben vom 29. Juni 2010 erneut an die Beklagte. Dieses ist überschrieben mit "Widerspruch gegen die Zurückweisung meines Widerspruchs vom 01.06.2010". Nach umfassenden Ausführungen in der Sache bat die Klägerin am Schluss des Schreibens darum, ihren Fall nochmals zu prüfen. Sie hoffe auf einen baldigen Bescheid von der Beklagten und fügte verschiedene Arztbriefe bei, darunter ein aktueller aus Juni 2010.
Dieses Schreiben ging am 1. Juli 2010 bei der Beklagten ein, die es am 19. Juli 2010 an das Sozialgericht Halle weiterleitete, mit der Bitte zu prüfen, ob ein Klageverfahren durchgeführt werden solle.
Die zuständige Kammer des Sozialgerichts Halle teilte der Klägerin mit Schreiben vom 26. Juli 2010 mit, dass "die Klage vom 29. Juni 2010" am 21. Juli 2010 eingegangen sei. Die Klägerin wurde gebeten klarzustellen, ob sie mit ihrem Widerspruch vom 29. Juni 2010 tatsächlich vor dem Sozialgericht klagen wolle oder eine nochmalige Überprüfung durch die Beklagte anstrebe.
Daraufhin bevollmächtigte die Klägerin am 2. August 2010 die nunmehr beigeordnete Rechtsanwältin zur Prozessführung, die mitteilte, zunächst namens und im Auftrag ihrer Mandantschaft klarzustellen, dass diese vor dem Sozialgericht klagen wolle. Aufgrund von Rechtsunkenntnis sei sie jedoch davon ausgegangen, einen weiteren Widerspruch bei der Beklagten einlegen zu können. Da jedoch bereits ein Widerspruchsverfahren erfolglos durchgeführt worden sei, solle nunmehr eine Überprüfung des Bescheides durch das Sozialgericht erfolgen. Zur Durchführung dieses Verfahrens beantragte sie die Gewährung von Prozesskostenhilfe.
Die Beklagte hielt in der Sache an ihren Ausführungen im Widerspruchsbescheid fest und stellte eine weitere medizinische Beweiserhebung ausdrücklich in das Ermessen des Gerichts.
Der zuständige Kammervorsitzende des Sozialgerichts teilte der Klägerin mit Schreiben vom 2. September 2010 mit, weitere Ermittlungen seien nicht beabsichtigt, da das Gericht die Klage für unzulässig halte. Die Klägerin habe mitgeteilt, aus Rechtsunkenntnis einen weiteren Widerspruch eingelegt zu haben. Daher habe sie nicht klagen wollen. Die Klageerhebung mit Schriftsatz vom 10. August 2010 sei verspätet. Der Klägerin wurde Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.
Daraufhin teilte die Klägerin mit, sie habe mit ihrem Schreiben vom 29. Juni 2010 eine Überprüfung durch die nächst höhere Rechtsmittelstufe erreichen wollen. Dies sei ihre alleinige Intention gewesen. Aus Rechtsunkenntnis sei sie davon ausgegangen, dies mit ihrem als "Widerspruch" bezeichneten Schreiben vom 29. Juni 2010 erreichen zu können. Es werde daher von einer fristgerechten Klageerhebung ausgegangen.
Mit Beschluss vom 17. März 2011 lehnte das Sozialgericht Halle den Antrag auf Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussichten der Klage ab. Bei dem Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 habe es sich nicht um eine Klage gehandelt. Die Auslegung des Schreibens ergebe, dass die Klägerin keine gerichtliche, sondern eine nochmalige Überprüfung durch die Beklagte gewollt habe. Ihr Ziel sei daher eine neue eigenständige Entscheidung der Beklagten, nicht aber die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens gewesen. Da der Widerspruchsbescheid eine korrekte Rechtsmittelbelehrung enthalte, könne sie sich nicht auf Rechtsunkenntnis berufen. Erst mit dem Schriftsatz vom 10. August 2010 habe sie erklärt, klagen zu wollen. Diese Klagerhebung sei jedoch verspätet.
Gegen den der Klägerin am 31. März 2011 zugestellten Beschluss hat sie am 29. April 2011 Beschwerde erhoben. Ihr Schreiben vom 29. Juni 2010 sei als Klage zu werten, da diesem eindeutig zu entnehmen sei, dass sie sich gegen die Feststellungen und Entscheidungen der Beklagten wehren wolle. Bei den konkreten Formulierungen der Klägerin handele es sich um Höflichkeitsformen. Ihrem Willen, sich gegen die Entscheidung zu wehren und insoweit den nächst möglichen Schritt zu unternehmen, stehe dies nicht entgegen. Die Rechtsmittelbelehrung trete nicht deutlich genug aus dem Text hervor, da sie dem Layout des gesamten Bescheides entspreche. Die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht einer Warnfunktion könne daher nicht in ausreichendem Maße erreicht werden.
Die Klägerin beantragt damit sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 17. März 2011 aufzuheben und ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin J. M. , E. 4, M. zu gewähren.
Die Beklagte hat sich in der Sache nicht geäußert und die Entscheidung über den Antrag auf Prozesskostenhilfe dem Gericht überlassen.
Die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die gemäß § 127 Abs. 2 Satz 2 und 3 Zivilprozessordnung (ZPO) form- und fristgerecht eingelegte und nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG ausgeschlossene Beschwerde ist zulässig.
Die Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Da das Beschwerdegericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht neu entscheidet, konnte es – nach Feststellung hinreichender Erfolgsaussichten – auch über die Voraussetzungen der Gewährung von Prozesskostenhilfe in Bezug auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin entscheiden.
1. Die von der Klägerin beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne des § 114 ZPO, der nach § 73a SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren gilt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind die Erfolgsaussichten im Sinne dieser Norm als hinreichend einzuschätzen, wenn der Erfolg zwar nicht gewiss, eine Erfolgschance jedoch nicht unwahrscheinlich ist (BVerfG, Urt. v. 13. März 1990 – 2 BVR 94/88, BVerfGE 81, 347, st.Rspr.). Soweit es um eine Rechtsfrage geht, die in der Rechtsprechung noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig ist, muss Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Ebenso ist bei einer von der Rechtsprechung oder herrschenden Meinung im Schrifttum abweichenden Rechtsansicht zu entscheiden (vgl. BVerfG, Urt. v. 8. November 2004, 1 BvR 2095/04, NJW-RR 05, 500). Die bedürftige Person muss die Möglichkeit haben, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren zu vertreten und unter Umständen Rechtsmittel einzulegen. Deswegen darf das Gericht über eine schwierige Rechtsfrage nicht im Prozesskostenhilfeverfahren, in dem nur eine summarische Prüfung vorzunehmen ist, entscheiden (vgl. hierzu auch Leitherer in Meyer-Ladewig u. a., SGG, 9. Auflage, § 73a Rd.-Nr. 7b mit zahleichen weiteren Nachweisen).
Danach darf die hinreichende Erfolgsaussicht der Klage nicht abgelehnt werden. Die Frage, ob es sich bei dem Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 um eine Klage handelt, ist durch Auslegung zu entscheiden. Die der Auslegung zugrunde liegenden Grundsätze sind Rechtsfragen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich bereits in den Jahren 1974 und 1975 zu der Rechtsfrage geäußert, unter welchen Voraussetzungen ein an den Versicherungsträger gerichteter Widerspruch in eine Klage umgedeutet werden kann (vgl. BSG, Urt. v. 31. Januar 1974 – 4 RJ 167/73, SozR 1500 § 92 Nr. 1; sowie Urt. v. 28. Oktober 1975 – 9 RV 452/74, SozR 1500 § 92 Nr. 2). Danach muss bei einer sozialgerichtlichen Anfechtungs- und Leistungsklage der Wille, durch Ingangsetzung des gerichtlichen Verfahrens eine Änderung derjenigen Verwaltungsentscheidung herbeizuführen, durch die der Beteiligte sich beschwert fühlt, erkennbar geäußert sein. Allein die Äußerung von Unzufriedenheit oder eine Kritik an einer behördlichen Maßnahme ist nicht als Klage anzusehen. Dabei steht das von dem Beteiligten gewünschte Resultat im Vordergrund, der in der Regel eine vorurteilsfreie Prüfung der beanstandeten Entscheidung wünscht. Der einzuschlagende Weg hat demgegenüber untergeordnete Bedeutung. Selbst wenn der Kläger die Verwaltung erst noch zur Selbstkorrektur veranlassen wollte, kann bei verständiger Würdigung die Klageabsicht unterstellt werden. Denn die Auslegung schriftlicher Erklärungen darf sich nicht allzu streng am Wortlaut orientieren. Ungewandte Personen umschreiben ihre Absichten vielfach höchst ungenau. Bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist daher anzunehmen, dass der Verfasser das gewollt hat, was ihm von seinem Standpunkt aus am ehesten die Rechtsverfolgung ermöglicht.
Der Senat folgt dieser Rechtsprechung, denn dies entspricht dem für alle Prozessordnungen erkennbaren Grundsatz, dass zumindest bei Laien ein Verkennen der verfahrensrechtlichen Lage möglichst nicht zu einem Verlust an Rechtschutz führen soll. Im sozialgerichtlichen Verfahren wird dieser Gedanke insbesondere in den Regelungen der §§ 91 und 92 SGG deutlich.
Nach diesen Grundsätzen war das Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 als Klage auszulegen. Es wird hinreichend deutlich erkennbar, dass die Klägerin die getroffene Verwaltungsentscheidung nicht nur kritisch betrachten, sondern unter Wahrung der Monatsfrist eine Änderung der Entscheidung herbeiführen wollte. Nur aus diesem Grund bat sie um "einen baldigen Bescheid", nachdem sie sehr ausführlich dargelegt hat, aus welchen Gründen (ihrer Ansicht nach) die Entscheidung der Beklagten inhaltlich nicht haltbar sei. Bei verständiger und nicht allzu streng am Wortlaut orientierter Auslegung dieser schriftlichen Äußerung reicht dies zur Erkennbarkeit ihres Willens nach einer Änderung der Entscheidung aus. Denn die Klägerin ist weder selbst rechtskundig noch war sie rechtskundig vertreten. Ihr Wunsch nach weisungsfreier Prüfung des beanstandeten Verwaltungsaktes wird jedenfalls hinreichend deutlich. Dieser steht nach den oben dargelegten Auslegungsgrundsätzen dann grundsätzlich im Vordergrund, während der hierfür zu bestreitende Weg nur zweitrangige Bedeutung hat. Diese Auslegung ermöglicht der Klägerin von ihrem Standpunkt aus am ehesten die Rechtsverfolgung. Damit ist ihre Klageabsicht hinreichend dargetan.
Bei Eingang dieses Schreibens bei Gericht hatte der Richter selbst Zweifel, ob die Klägerin damit eine Klage erheben wollte oder eine nochmalige Überprüfung durch die Beklagte anstrebte. Daher richtete er eine entsprechende Frage an die Klägerin. Auch die Beklagte bat bei der Weiterleitung der klägerischen Eingabe an das Gericht um Prüfung, ob ein Klageverfahren durchgeführt werden solle. Bei verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten ist die hier dargelegte im Sinne einer Klageabsicht anzunehmen.
Allein die Formulierung der Prozessbevollmächtigten, die Klägerin sei in Rechtsunkenntnis davon ausgegangen einen weiteren Widerspruch bei der Beklagten einlegen zu können, spricht nicht gegen die Klageabsicht, denn nach den dargelegten Auslegungsgrundsätzen ist der Verfahrensweg zweitrangig, wenn der Wunsch nach einer inhaltlichen Änderung der Entscheidung erkennbar wird. Schließlich hat die Prozessbevollmächtigte gleichzeitig vorgetragen, dass die Klägerin mit diesem Schreiben eine Klage habe erheben wollen. Zudem ist hier nicht das anwaltliche Schreiben vom 10. August 2010, sondern das Schreiben der Klägerin persönlich vom 29. Juni 2010 auszulegen.
Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das Sozialgericht das Schreiben der Klägerin vom 29. Juni 2010 in dem gerichtlichen Schreiben vom 26. Juli 2010 bereits als Klage bezeichnet hat. Es ist nicht fernliegend, dass die Klägerin im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Bezeichnung (und im Bewusstsein ihrer Bedürftigkeit in Bezug auf Prozesskostenhilfe) eine Rechtsanwältin beauftragt hat, deren bisherigen Kosten sie bei anderweitiger Entscheidung trotz vorliegender Bedürftigkeit selbst tragen müsste.
Die hinreichenden Erfolgsaussichten können auch dann nicht verneint werden, wenn das Sozialgericht von den dargelegten Auslegungsgrundsätzen abweichen möchte. In diesem Fall muss die Klägerin die Möglichkeit haben, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren zu vertreten und unter Umständen Rechtsmittel einzulegen.
Auch im Übrigen hat das Klageverfahren hinreichende Erfolgsaussichten, da bezüglich der Frage der Erwerbsminderung weitere Ermittlungen erforderlich sind.
2. Die Klägerin ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung – auch nicht zum Teil oder in Raten – aufzubringen. Sie bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II); weiteres Einkommen oder Vermögen liegt nicht vor.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
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