L 2 AL 87/08

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 8 AL 55/07
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 2 AL 87/08
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 11 AL 27/11 R
Datum
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau und der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 2007 werden aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 10. Oktober 2005 bis zum 3. Januar 2006 zu gewähren.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Insolvenzgeld, insbesondere ist streitig, ob der Kläger die Ausschlussfrist für den Leistungsantrag gewahrt hat.

Der am ... 1956 geborene Kläger stand ab dem 10. Oktober 2005 in einem Arbeitsverhältnis bei der Firma B. W. in Schnaitsee. Er meldete sich bei der Beklagten am 23. Dezember 2005 mit Wirkung zum 28. Dezember 2005 arbeitslos und legte eine mit dem Datum 5. Dezember 2005 versehene arbeitgeberseitige Kündigung seines Arbeitsverhältnisses vor, welche ihm nach seinen Angaben am 19. Dezember 2005 ausgehändigt worden war. Danach erfolgte die Kündigung des Arbeitsvertrages zum Ablauf des 27. Dezember 2005. Der Kläger erhob vor dem Arbeitsgericht Rosenheim Klage wegen fehlender Einhaltung der Kündigungsfrist bis zum 3. Januar 2006 und restlicher Lohnzahlung. Zur Durchsetzung seiner arbeitsrechtlichen Interessen hatte er Rechtsanwalt T. bevollmächtigt. Seinen Antrag auf Arbeitslosengeld lehnte die Beklagte wegen fehlender Anwartschaftszeit ab (Bescheid vom 1. Februar 2006). In dem Antrag auf Arbeitslosengeld hatte der Kläger angegeben, dass er gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber auch noch auf rückständigen Lohn klage. Am 24. März 2006 nahm der Kläger eine neue Arbeit auf mit unregelmäßigen Arbeitszeiten oft bis 19.00 Uhr. Durch Beschluss vom 16. Mai 2006 des Amtsgerichts Traunstein wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A. F. D., geborene W. (der Inhaberin der Fa. Bauunternehmung W.), Az.: 4 IN 473/05 eröffnet. Das Arbeitsgericht Rosenheim unterbrach durch Beschluss vom 27. Juni 2006 das arbeitsgerichtliche Verfahren wegen Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Hiervon unterrichtete der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Kläger mit Schreiben vom 5. Juli 2006 (Übersendung zur Kenntnisnahme) und fügte ihm in Kopie die Beschlüsse des Arbeitsgerichts Rosenheim und des Amtsgerichts Traunstein bei. Handschriftlich brachte der Prozessbevollmächtigte auf den Unterbrechungsbeschluss des Arbeitsgerichts Rosenheim den Zusatz an: "Herr B., Sie können Insolvenzgeld beantragen." Der Kläger stellte persönlich den Antrag auf Insolvenzgeld bei der Beklagten am 20. Juli 2006. Zuvor hatte am 7. Juli 2006 der Prozessbevollmächtigte des Klägers die Hauptforderung in Höhe von 3.054,00 EUR zur Insolvenztabelle angemeldet.

Am 11. Januar 2007 hörte die Beklagte den Kläger zu den Gründen an, weshalb er die Ausschlussfrist versäumt habe. Der Kläger teilte mit Schreiben vom 20. Januar 2007 mit, dass er keine Information oder Kenntnis über eine Ausschlussfrist beim Insolvenzgeldverfahren gehabt habe. Er habe im Januar 2006 seine arbeitsrechtlichen Angelegenheiten dem Rechtsanwalt Herrn T. übergeben und am 5. Juli 2006 den Beschluss mit der Unterbrechung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens zur Kenntnis bekommen mit der handschriftlichen Information, dass er einen Insolvenzgeldantrag stellen könne. Hierzu habe man ihm keine Frist genannt. Aus den gegebenen Umständen könne er aus seiner Sicht kein Versäumnis der Ausschlussfrist bei der Antragstellung erkennen.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2007 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Insolvenzgeld ab und begründete dies wie folgt: Der Kläger habe die reguläre Ausschlussfrist versäumt. Es könne ihm auch keine Nachfrist eingeräumt werden, weil die Unkenntnis vom Insolvenzereignis während der Ausschlussfrist weggefallen sei und es ihm dann möglich gewesen wäre, die Ausschlussfrist einzuhalten. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, weil er nach wie vor der Meinung sei, dass er als Arbeitnehmer die Frist aus Gründen versäumt habe, die er nicht zu vertreten habe. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sei ihm am 6. Juli 2006 mit dem Zugang des Schreibens seines Rechtsanwaltes bekannt gegeben worden. Eine angemessene Bearbeitungsfrist von 14 Tagen sei ihm dann einzuräumen gewesen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. März 2007 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Hiergegen hat der Kläger am 23. März 2007 Klage vor dem Sozialgericht Dessau (später Sozialgericht Dessau-Roßlau; künftig: SG) erhoben und diese wie folgt begründet: Er habe die Ausschlussfrist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten habe. Seinem Prozessbevollmächtigten sei erstmalig mit Schreiben vom 3. Juli 2006, welches beim Prozessbevollmächtigten am 4. Juli 2006 eingegangen sei, mitgeteilt worden, dass über das Vermögen der ehemaligen Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet worden sei. Mit Schreiben vom 5. Juli 2006 sei ihm selbst dann von seinem Prozessbevollmächtigten mitgeteilt worden, dass er Insolvenzgeld beantragen könne. Er habe dies unter Berücksichtigung seiner beruflichen Tätigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht früher als am 20. Juli 2006 tun können. So habe er zu diesem Zeitpunkt keine regelmäßigen Arbeitszeiten gehabt. Die erste Möglichkeit auf das Arbeitsamt zu gehen, sei der 20. Juli 2006 gewesen, ansonsten habe er wegen seiner Arbeitszeiten vorher die Öffnungszeiten nicht einhalten können. Er sei früher öfter und viel beim Arbeitsamt gewesen und habe dort persönlich die Anträge abholen müssen, also habe er gedacht, dass er auch den Insolvenzantrag persönlich holen müsse. Es gäbe auch sonst nur wenige Sachen, die man per Telefon abfordern könne. Er habe nicht gewusst, dass der Antrag befristet gewesen sei. Wäre ihm bewusst gewesen, dass die Frist so kurz bemessen sei, hätte er auf jeden Fall "einen Weg gefunden", den Antrag zu stellen. Die Zweimonatsfrist dürfe zudem erst nach Kenntniserlangung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gerechnet werden, sodass die Frist erst am 5. September 2006 abgelaufen sei.

Die Beklagte hat darauf verwiesen, dass der Antrag auf Insolvenzgeld an keine Form gebunden sei, weshalb der Kläger mit seiner Argumentation nicht durchdringen könne, dass er unter Berücksichtigung seiner beruflichen Tätigkeit zum damaligen Zeitpunkt nicht in der Lage gewesen sei, Insolvenzgeld vor dem 20. Juli 2006 zu beantragen. Der Antragstellung per Fax, durch E-Mail, durch Übersendung eines einfachen Schreibens auf postalischem Weg hätte zur Fristwahrung genügt.

Das SG hat bei der Beklagten nachgefragt, ob der Kläger unter Umständen bereits vor dem 20. Juli 2006 sein Begehren nach Insolvenzgeld zum Ausdruck gebracht habe. Hierzu hat die Beklagte die Beratungsvermerke über Kontakte des Klägers mit dem Arbeitsamt Dessau dargestellt. Der Kläger habe unabhängig von seiner Arbeitslosmeldung nicht bei der Agentur für Arbeit Traunstein vorgesprochen. Nach den Gesprächsvermerken lautet der Text zum Kontakt am 23. Dezember 2005 "Antragstellung ALG, Antrag, M1 und II 1e ausgehändigt, Verfügbarkeit im Sinne des § 119 SGB III erläutert und geprüft, Rfb zu § 309 SGB III – Allgemeine Meldepflicht, Terminantrag. Abgabe (M. Kompl.) über S.C". Einen weiteren Kontakt gab es am 7. Februar 2006: "Hr. B. erkundigt sich nach UBV/Mobi für NLE, da er den Ablehnungsbescheid über ALG I erhalten hat, die Möglichkeiten dafür sind sehr begrenzt, Empfehlung, einen Antrag auf ALG II zu stellen, gemeinsam mit Hrn.B. seine Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen, sowie seine pers. Eigenschaften durchgesprochen und eingearbeitet und bewertet, Stellensuchl. 1 VV o. RF, VAM erläutert und auf veröffentl. umgestellt, pers. Einstellung empfohlen, BN + KW ausgeh.," und am 30. Mai 2006: "BA II 1e zur Arbeitsaufnahme bei AWH Beton GmbH ab 240306 an 111, Kennzeichnung o.F. selbst gesucht". Im Erörterungstermin vom 21. April 2008 vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau hat der Rechtsanwalt des Klägers erklärt, dass er nur mit der arbeitsrechtlichen Forderung befasst gewesen sei und den arbeitsrechtlichen Streit geführt habe. Er habe seinen Mandanten sofort informiert, als er Kenntnis von der Insolvenz des Arbeitgebers erhalten habe und sei davon ausgegangen, dass dieser in 14 Tagen den Antrag noch stellen könne, da er von der neuen Arbeit des Klägers nichts gewusst habe.

Mit Urteil vom 10. Oktober 2008 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung von Insolvenzgeld für den Zeitraum 1. November 2005 bis 27. Dezember 2005, weil er seinen Antrag auf Insolvenzgeld verspätet gestellt habe. Ihm sei keine Nachfrist einzuräumen. Bei Anwendung der zumutbaren Sorgfalt bestand für den Kläger die Möglichkeit, die Frist einzuhalten, da er bereits am 5. Juli 2006 Kenntnis vom Insolvenzereignis gehabt habe. Der Kläger habe rechtsirrig die fristgerechte Antragstellung unterlassen, obwohl ihm eine solche möglich gewesen sei.

Gegen das ihm am 25. November 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. Dezember 2008 Berufung eingelegt und diese wie folgt begründet: Er habe die Antragsfrist nicht schuldhaft versäumt, da er unter Würdigung des Handlungsablaufes im Rahmen der ihm zumutbaren Sorgfalt gehandelt habe. Für ihn sei bei seinen Arbeitszeiten nur ein Donnerstag für eine persönliche Meldung in Betracht gekommen, da die Ämter an diesem Tag länger geöffnet hätten. Er wollte sich am ersten Donnerstag nach der Kenntniserlangung melden, habe dies dann aber arbeitsbedingt nicht geschafft und sei deshalb an dem für ihn frühestmöglichen Termin am nächsten Donnerstag zum Amt gegangen. Selbst wenn der Auffassung des SG zu folgen wäre, hätte er den Antrag nur vier Tage zu spät gestellt. Dies sei eine nicht erhebliche Überschreitung. Die Nichtbewilligung des Insolvenzgeldes stelle im Übrigen eine unbillige Härte dar.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau und den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Insolvenzgeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 10. Oktober 2005 bis 3. Januar 2006 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Für weitere Einzelheiten des Sachvortrages wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakte verwiesen. Die Akten haben vorgelegen und sind vom Senat bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt worden.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 EUR übersteigt. Die Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden (§ 151 SGG).

Die Berufung ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. März 2007 ist nicht rechtmäßig. Der Kläger hat einen Anspruch auf Insolvenzgeld für den Zeitraum 10. Oktober 2005 bis 3. Januar 2006.

Anspruch auf Insolvenzgeld haben Arbeitnehmer nach § 183 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches – Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III), wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei

Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen ihres Arbeitgebers,

Abweisung des Antrages auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse oder

vollständige Beendigung der Betriebstätigkeit im Inland, wenn ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht gestellt worden ist und ein Insolvenzverfahren offensichtlich mangels Masse nicht in Betracht kommt,

(Insolvenzereignis) für die vorausgehenden drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben.

Hier liegt das Insolvenzereignis der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der ehemaligen Arbeitgeberin vor. Zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung am 16. Mai 2006 hatte der Kläger einen durchsetzbaren Anspruch auf Arbeitsentgelt für die gesamte Zeit seines Beschäftigungsverhältnisses. Da das Arbeitsverhältnis weniger als drei Monate dauerte, betrifft dies hier den Zeitraum vom 10. Oktober 2005 (dem Beginn des Arbeitsverhältnisses) bis zum 3. Januar 2006 (dem Ende des Arbeitsverhältnisses).

Der Kläger hat zwar die Ausschlussfrist für die Antragstellung von Insolvenzgeld versäumt, ihm ist aber eine Nachfrist zu gewähren.

Gem. § 324 Abs. 3 Satz 1 SGB III muss das Insolvenzgeld innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Monaten nach dem Insolvenzereignis beantragt werden. Hat der Antragsteller die Frist aus Gründen versäumt, die er nicht zu vertreten hat, kann ihm nach Satz 2 der Vorschrift eine Nachfrist eingeräumt werden.

Der Kläger hat den Antrag auf Insolvenzgeld nicht innerhalb der Frist von zwei Monaten nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt. Die Frist von zwei Monaten beginnt mit dem Insolvenzereignis, der Zeitpunkt der Kenntniserlangung ist unbeachtlich. Er spielt erst für den Beginn der Nachfrist eine Rolle. Das Insolvenzverfahren wurde am 16. Mai 2006 eröffnet, so dass die Frist am Montag den 17. Juli 2006 ablief, da der 16. Juli 2006 ein Sonntag war. Den Antrag hat der Kläger erst vier Tage später, nämlich am 20. Juli 2006 gestellt. Eine frühere Antragstellung ist vom Kläger nicht vorgetragen worden. Auch nach den Aktenvermerken der Beklagten über Vorsprachen des Klägers (Arbeitslosmeldung) ist nicht ersichtlich, dass ausstehende Löhne überhaupt Thema bei anderen Gesprächen war. Es ist demnach auch nicht erkennbar, dass der Kläger jedenfalls konkludent einen solchen Antrag früher stellen wollte.

Dem Kläger ist jedoch nach § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III eine Nachfrist einzuräumen, da er die Antragsfrist aus Gründen versäumt hat, die er nicht zu vertreten hat.

Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger innerhalb der Antragsfrist von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Kenntnis erlangt hat. Grundsätzlich hat der Antragsteller die Ausschlussfrist aus von ihm zu vertretenden Gründen versäumt, wenn er selbst während der laufenden Frist von der Insolvenz seines Arbeitgebers erfahren hat (vgl. BSG, Urteil vom 18. Januar 1990 – 10 RAr 14/89 – zitiert nach juris). Durch die Weiterleitung des Eröffnungsbeschlusses des Amtsgerichts Traunstein über das Vermögen seiner ehemaligen Arbeitgeberin am 5. Juli 2006, bei dem Kläger eingegangen am 6. Juli 2006, hatte er Kenntnis über die Insolvenzeröffnung innerhalb der Antragsfrist erlangt. Die Antragsfrist lief noch bis zum 17. Juli 2006, so dass ihm noch eine Reaktionszeit von zehn Tagen verblieb. Gleichwohl ist ihm persönlich das Fristversäumnis nicht vorzuwerfen, da er sich auf die Mitteilung seines Rechtsanwaltes, der nicht von einer in Kürze ablaufenden Frist berichtete, verlassen durfte. Diese Mitteilung des rechtskundigen Rechtsanwaltes wertete der Kläger ohne Verschulden so, dass es ausreichen würde, den Antrag dann zu stellen, wenn er die nächste Gelegenheit hatte ohne Arbeitszeit zu versäumen, bei der Agentur für Arbeit persönlich vorzusprechen. Das Verhalten oder die Kenntnis seines bevollmächtigten Rechtsanwalts kann dem Kläger dabei nicht zugerechnet werden, da dieser ihn insoweit für das Insolvenzgeldverfahren nicht vertreten hat.

Im Einzelnen gilt folgendes:

Die Regelung in § 324 Abs. 3 Satz 2 SGB III stellt wie die Vorgängerregelung § 141e Abs. 1 Satz 3 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) eine spezialgesetzliche Ausprägung des Rechtsinstituts der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dar (§ 27 des Sozialgesetzbuches – Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – SGB X - und § 67 SGG). Nach § 27 Abs. 1 Satz 2 SGB X ist das Verschulden eines Vertreters dem Vertretenen zuzurechnen (vgl. auch §§ 85 Abs. 2 der Zivilprozessordnung – ZPO - in Verbindung mit § 202 SGG). Neben dem unmittelbaren Verfahrensbevollmächtigten ist dem Vertretenen auch das Verschulden solcher Personen zuzurechnen, die ihm Rahmen des ihnen erteilten Auftrages tätig werden (vgl. BSG, Urteil vom 29. Oktober 1992 – 10 RAr 14/91 – a. a. O.). Damit kommt es darauf an, ob der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Rahmen des ihm erteilten Auftrages auch zur Stellung des Insolvenzgeldantrages befugt war oder es zumindest zu seinem Auftrag gehört hat, hierüber zu informieren. Es kommt demnach auf die Würdigung des Mandatsverhältnisses zwischen dem Kläger und dem Prozessbevollmächtigten dahingehend an, ob dieses auf die rein arbeitsgerichtliche Durchsetzung gegen den Arbeitgeber eingegrenzt wurde oder ob es auch die Stellung eines Antrages auf Insolvenzgeld umfasste. Da die Durchführung von Neben- und Folgeverfahren eigene Anwaltskosten auslöst, kommt es darauf an, ob der Rechtsanwalt auch im Innenverhältnis insoweit tätig werden durfte, nicht entscheidend ist die durch Formularvollmacht regelmäßig umfassende Bevollmächtigung nach außen.

Der Kläger hat nach seinem glaubhaften Vortrag in seinem Auftrag das Mandat der Rechtsanwälte so eingegrenzt, dass die Wahrnehmung eines sozialrechtlichen Mandates nicht mehr zu den Pflichten gehörte. Der Kläger ist von einer Beauftragung zur Wahrnehmung seiner "arbeitsrechtlichen Angelegenheit" ausgegangen. Dies hat Rechtsanwalt T. bestätigt, der das Mandat ebenfalls so verstanden hat, dass nur die arbeitsrechtliche Durchsetzung des Anspruchs Gegenstand gewesen ist. Es fallen für die verschiedenen Abschnitte des Verfahrens und die Folgeverfahren unterschiedliche Gebühren an, so dass der Mandant zur Begrenzung der Kosten ein Interesse daran hat, den Rechtsanwalt nur gezielt für einzelne Aufgaben zu bevollmächtigen. Bei dem Anspruch auf Insolvenzgeld handelt sich um einen eigenen öffentlichrechtlichen Anspruch mit einem neuen Anspruchsgegner. Die Vertretung im Rahmen eines solchen Sozialverwaltungsverfahrens, um einen Antrag auf Insolvenzgeld bei der Agentur für Arbeit zu stellen, erfordert regelmäßig einen gesonderten Auftrag, da eine eigenständige Gebühr anfällt (Geschäftsgebühr für die Vertretung in bestimmten sozialrechtlichen Angelegenheiten Nr. 2500 des Vergütungsverzeichnisses der Anlage 1 zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz). Die betreffende Gebühr würde auch dann nicht erstattet werden, wenn die Beklagte die Leistung bewilligt hätte. Den Antrag auf Insolvenzgeld kann der Arbeitnehmer selbst stellen, weil hierfür keine rechtlichen Kenntnisse vonnöten sind. Einen Auftrag zu einem solchen Tätigwerden hat der Kläger nicht erteilt. Dies zeigt auch, das der den Antrag auf Insolvenzgeld bei der Beklagten selbst gestellt hat, was auch dem von dem Kläger und dem Rechtsanwalt dargestellten Auftragsumfang entsprach.

Nach der Auffassung des Senates ist im Rahmen einer zu prüfenden Vertreterzurechnung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten unerheblich, dass der Kläger den Rechtsanwalt auch noch beauftragt hat, seinen arbeitsrechtlichen Anspruch zur Tabelle anzumelden, sich das Mandat also auch auf die Phase des Insolvenzverfahren erstreckte (noch enger: Beschluss des Senates vom 23. Februar 2005 – L 2 AL 55/03 – zitiert nach juris). Das BSG hat in seiner Entscheidung vom 29. Oktober 1992 – 10 RAr 14/91 zwar einerseits betont, dass es für eine Verschuldenszurechnung schon ausreicht, wenn der Prozessbevollmächtigte im Rahmen des ihm erteilten Auftrages einer Informationspflicht oblag, der er nicht nachgekommen ist (Rn. 20), andererseits hat es darauf abgestellt, ob das Mandat auf das Arbeitsrecht eingegrenzt war oder nicht (Rn. 22). Nach der Auffassung des Senates muss bei der Informationspflichtverletzung danach differenziert werden, ob es sich um eine Nebenpflichtverletzung oder eine Pflichtverletzung der im Rahmen des erteilten Auftrages vorzunehmenden Rechtshandlungen handelte. Es wird zu den Nebenpflichten des Rechtsanwaltes gehören, nach dem Grundsatz "des sichersten Weges" den Mandanten darüber zu informieren, dass es neben der Anmeldung zur Tabelle auch noch einen von einem gesonderten Antrag abhängigen Anspruch auf Insolvenzgeld gibt (vgl. Vollkommer/Heinemann, Anwaltshaftung, 2. Aufl., Rn. 711; AG Siegburg, Urteil vom 3. September 1987 – 7 C 171/87 - NJW-RR 1989, 155). Nach der Auffassung des Senates reicht die Verletzung einer solchen Nebenpflicht jedoch nicht aus, eine Zurechnung zu begründen. Musste der Prozessbevollmächtigte im Rahmen des ihm erteilten Auftrages keine etwaigen Schritte zugunsten der Sicherung sozialrechtlicher Ansprüche des Arbeitnehmers einleiten, ist nicht auf das Verschulden des Rechtsanwaltes abzustellen (so überzeugend Peters-Lange in info also 2007, 51, 58 f.). Der Beratungsfehler eines Dritten wird dem Arbeitnehmer nur dann zugerechnet, wenn er um dessen Rechtsrat ersucht hat oder er in seinem Auftrag in dieser Angelegenheit tätig wurde. Nur dann ist es nicht gerechtfertigt den Arbeitnehmer, der selbst unkundig ist, von seiner Obliegenheit, einen rechtzeitigen Insolvenzgeldantrag zu stellen, freizustellen.

Gehörte es demnach nicht zu Hauptpflichten von Rechtsanwalt T. den Kläger über das Insolvenzereignis und die ablaufenden Fristen zu informieren, so muss sich der Kläger die mitgeteilte fehlende Frist auch nicht zurechnen lassen. Er hat für diese Angelegenheit sich nicht seiner Verantwortung entledigt und einem anderen eigene Aufgaben zur Erledigung übertragen.

Es kommt daher nur auf das eigene Verschulden des Klägers an, woran es hier fehlt. Der Arbeitnehmer hat das Fristversäumnis schon dann zu vertreten, wenn ihm auch nur einfache Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann, er also die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Allerdings hat der EuGH in seiner Entscheidung vom 18. September 2003 (– C 125-01 SozR 4-4300 § 324 Nr. 1) ausgeführt, dass eine Ausschlussfrist nur dann nicht gegen europäische Normen (Richtlinie 80/987) verstößt, wenn sie nicht so ausgestaltet ist, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsordnung einräumt, praktisch unmöglich macht. Die Ausnahmeklausel (Nachfristgewährung) gewährleiste die praktische Wirksamkeit des Schutzes durch die Richtlinie nur dann, wenn die zuständigen Stellen nicht übermäßig streng beurteilten, ob der Betroffene sich mit der erforderlichen Sorgfalt um die Durchsetzung seiner Ansprüche bemüht habe. Es müssen daher die individuellen Möglichkeiten und Erkenntnisse des Klägers ausreichend berücksichtigt werden. Auch die Frage des Einflusses einer europarechtskonformen Auslegung lässt sich nicht allgemein beantworten, sondern muss der Entscheidung im Einzelfall vorbehalten bleiben (so BSG, Nichtzulassungsbeschluss vom 17. Oktober 2007 – B 11a AL 75/07 B). Die entscheidende Frage ist, ob der Kläger in der konkreten Situation davon ausgehen durfte, dass seine Antragstellung am 20. Juli 2006 noch fristwahrend sein würde. Eine rechtsirrige Beurteilung der Voraussetzungen der Antragsfrist allein hindert ein Verschulden nicht. Kennt ein Rechtsunkundiger die Antragsfristen nicht, gehört es zu seinen Sorgfaltspflichten, sich rechtzeitig sachkundigen Rechtsrat zu verschaffen (vgl. BSG, Urteil vom 18. Januar 1990 – 10 RAR 14/89). Hierzu hat der Kläger innerhalb des Zeitraums von zehn Tagen auch noch ausreichend Zeit gehabt. Es ist daher nicht allein entscheidend, dass der Kläger die zweimonatige Ausschlussfrist für die Stellung des Antrages nicht gekannt hatte. Allerdings durfte er davon ausgehen, dass ihm sein für die arbeitsrechtliche Durchsetzung seiner Forderung bevollmächtigter Rechtsanwalt, wenn er auf die Möglichkeit, einen Insolvenzgeldantrag zu stellen hinweist, es ihm mitgeteilt hätte, wenn er diesen Antrag umgehend bzw. in den nächsten Tagen hätte stellen müssen. Insoweit beurteilt der Senat den unvollständigen und dadurch missverständlichen anwaltlichen Hinweis außerhalb des Mandats als vergleichbar mit einem Hinweis mit der Nennung einer falschen Frist (zu einem falschen Hinweis vgl. die Senatsentscheidung vom 23. Februar 2005 – L 2 AL 55/03 – zitiert nach juris). In beiden Fällen wägt sich der Arbeitnehmer in der trügerischen Sicherheit, sich so verhalten zu dürfen, wie es der Hinweis nahelegt. Dies reicht aus, um den Vorwurf der Fahrlässigkeit auszuschließen. Dem Hinweis einer rechtskundigen Person (hier des Rechtsanwalts) kommt insoweit ein besonderes Gewicht zu. Weist eine rechtskundige Person nur allgemein auf die Möglichkeit, einen bestimmten Antrag zu stellen, hin, ohne eine gesonderte Frist hierfür zu nennen, darf der Empfänger des Hinweises davon ausgehen, dass ihm jedenfalls eine angemessene Reaktionszeit verbleibt und dass er nicht binnen kürzester Zeit den betreffenden Antrag stellen muss. Bei seinen Arbeitszeiten, bei denen er nur am Donnerstag während der Öffnungszeiten zur Agentur für Arbeit gehen konnte, durfte der Kläger davon ausgehen, dass eine Antragstellung binnen zwei Wochen diese Frist noch wahrt. Dies gilt umso mehr, als er nach seiner Erinnerung beim ersten Donnerstag nach der Kenntniserlangung durch eine veränderte Arbeitszeit nicht in der Lage war, persönlich bei der Arbeitsagentur, den Antrag zu stellen.

Nach alledem war der Berufung stattzugeben.

Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 193 SGG.

Die Revision war nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen. Die Frage, ob auch eine Nebenpflichtverletzung aus dem Anwaltsvertrag zu einer Vertreterzurechnung im Rahmen des § 324 SGB III führt, ist noch nicht abschließend höchstrichterlich geklärt.
Rechtskraft
Aus
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