L 5 AS 439/09 B

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 16 AS 1383/08
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 439/09 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Klägerin zu 1. wird für das erstinstanzliche Klageverfahren (S 16 AS 1383/08) ab dem 4. Februar 2009 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt A aus M. bewilligt. Insoweit wird der Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Oktober 2009 aufgehoben.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Klägerin zu 1. und nunmehr alleinige Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ein Klageverfahren bei dem Sozialgericht Magdeburg (SG), in dem sie sich gegen die teilweise Aufhebung der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für das ganze Jahr 2005 und eine Erstattungsforderung iHv noch 1.633,56 EUR wendet.

Bis einschließlich 2008 lebten die Kläger zu 1. und zu 2. in eheähnlicher Gemeinschaft. Zusammen mit ihrem gemeinsamen, im Jahr 1999 geborenen Sohn, dem Kläger zu 3., und der im Jahr 1996 geborenen Tochter der Klägerin zu 1., der Klägerin zu 4., bewohnten sie als Familie eine Wohnung in M ... Im Leistungsantrag aus August 2004 gaben sie an, der Kläger zu 2. sei als Trockenbaumonteur selbstständig. Für das Jahr 2004 rechne er mit einem Einnahmenüberschuss von insgesamt ca. 2.200,00 EUR. Für seine Berufsunfähigkeitsversicherung bezahle er monatlich 75,00 EUR und für die Betriebshaftpflichtversicherung jährlich 273,96 EUR. Für seine private fondsgebundene Rentenversicherung "Wertpapier-Plus-Rente" betrage der monatliche Beitrag 109,32 EUR. Er legte eine Einnahme-Überschussrechnung (EÜR) für das Jahr 2003 vor, die einen Überschuss iHv 3.285,20 EUR (Betriebseinnahmen: 26.238,72 EUR, Betriebsausgaben: 22.953,20 EUR) auswies. Hauptausgabeposten waren hiernach Reisekosten iHv 15.713,80 EUR, die aus der regelmäßig auswärtigen (B -B ...) Montagetätigkeit des Klägers zu 2. (VMA, Übernachtungskosten, Kilometergeld) entstanden. Die EÜR für das erste Quartal 2004 ergab einen Überschuss iHv 369,83 EUR.

Mit Bescheid vom 19. November 2004 bewilligte der Beklagte für die erste Hälfte des Jahres 2005 der Bedarfsgemeinschaft monatliche Leistungen iHv insgesamt 1.038,75 EUR. Hiervon entfiel auf die Klägerin zu 1. ein Leistungsbetrag iHv 400,18 EUR. Von dem für sie ermittelten Gesamtbedarf iHv 417,28 EUR (Regelleistung: 298,00 EUR und anteilige KdU: 119,28 EUR) zog er ein anteiliges Einkommen iHv 17,10 EUR ab. Insgesamt wurde ein monatliches Erwerbseinkommen des Klägers zu 2. iHv 44,41 EUR angerechnet. (durchschnittlicher monatlicher Überschuss aus der EÜR erstes Quartal 2004 iHv 128,28 reduziert um 30,00 EUR, einen Freibetrag iHv 18,87 EUR und nochmals 30,00 EUR.)

Auf den Fortzahlungsantrag, in dem die Kläger angaben, bis auf Aufwendungen iHv 40,00 EUR für eine Zusatzrentenversicherung des Klägers zu 2. seit dem 1. Januar 2005 habe sich nichts geändert, bewilligte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Juni 2005 für die zweite Jahreshälfte 2005 erneut monatliche Leistungen in gleicher Höhe.

Am 15. Dezember 2005 legten die Kläger eine EÜR für die Monate Januar bis November 2005 vor, die bei Betriebseinnahmen iHv 20.508,40 EUR und Betriebsausgaben iHv 16.198,68 EUR zu einem Überschuss iHv 4.309,72 EUR gelangte.

Am 25. September 2006 legte der Kläger zu 2. seinen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2005 vor, der Einkünfte aus Gewerbebetrieb als Einzelunternehmer iHv 11.397,00 EUR ausweist. Dieser Betrag führte nach Abzug des Sonderausgaben-Pauschbetrags (36,00 EUR) und von Versicherungsbeiträgen (4.346,00 EUR) zu einem zu versteuernden Einkommen iHv 7.015,00 EUR, für das keine Steuer zu zahlen war.

Mit zwei Änderungsbescheiden vom 7. November 2006 bewilligte der Beklagte den Klägern im gesamten Jahr 2005 noch monatliche Leistungen iHv 374,00 EUR und hob die bislang ergangenen Bescheide insoweit auf. Es sei folgende Änderung eingetreten: "Berechnung des Einkommens mit der BWA ab 01/06".

Mit Schreiben vom 7. November 2006 hörte der Beklagte die Klägerin zu 1. an: Sie habe von Januar 2005 bis Oktober 2006 SGB II-Leistungen iHv 10.188,70 EUR zu Unrecht bezogen. Dies ergebe sich aus der Berechnung des Einkommens mit dem Steuerbescheid für 2005 und der BWA ab 01/06. Sie habe die Überzahlung verursacht, da sie eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung in den Verhältnissen verspätet angezeigt habe. Er beabsichtige, den Erstattungsbetrag mit bis zu 30% der monatlichen Regelleistung aufzurechnen. Dagegen wandte sich die Klägerin zu 1. unter dem 30. November 2006 mit einem Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2007 als unzulässig zurückgewiesen wurde. Sie führte aus, sie habe sämtlichen Aufforderungen nach Belegen und Auskunft Folge geleistet. Sie habe keine Änderung verspätet angezeigt.

Mit allein an die Klägerin zu 1. gerichteten Bescheid vom 10. Mai 2007 hob der Beklagte die Leistungsbewilligungen für das Jahr 2005 teilweise iHv 7.938,74 EUR auf. Dies beruhe auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Es sei das Einkommen nach dem Steuerbescheid 2005 neuberechnet worden. Es seien keine besonderen Umstände für eine andere Entscheidung ersichtlich. Der überzahlte Betrag sei zu erstatten.

Gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid legte die Klägerin zu 1. am 1. Juni 2007 Widerspruch ein. Sie habe die Überzahlung nicht durch falsche Angaben verursacht. Sie habe alle Unterlagen vorgelegt und sei allen Aufforderungen zur Auskunftserteilung nachgekommen.

Mit weiteren Änderungsbescheiden vom 3. März 2008 (monatl. Leistung 653,26 EUR) und 19. März 2008 (733,26 EUR) für die erste Jahreshälfte 2005 sowie vom 19. März 2008 (733,26 EUR) für die zweite Jahreshälfte 2005 korrigierte der Beklagte seine Leistungsbewilligungen für die Kläger.

Mit wiederum allein an die Klägerin zu 1. gerichteten Änderungsbescheid vom 3. April 2008 änderte der Beklagte seinen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. Mai 2007: Er hob nunmehr die Bewilligung für das Jahr 2005 iHv insgesamt 6.978,74 EUR auf, die die Klägerin zu 1. zu erstatten habe. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 9. April 2008 hob der Beklagte seine Bewilligung für das Jahr 2005 gegenüber der Klägerin zu 1. iHv 1.633,56 EUR auf.

Mit Widerspruchsbescheid vom 11. April 2008 wies der Beklagte den Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zurück, soweit dieser sich auch gegen die Bescheide vom 3. und 4. März 2008, 4. April 2008 und 9. April 2008 richte. Es werde nur noch ein Betrag iHv 1.633,56 EUR von der Klägerin zu 1. zurückgefordert. Denn es liege eine Änderung der Verhältnisse iSv § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X vor. Dem Kläger zu 2. sei Einkommen aus Selbstständigkeit zugeflossen, das anzurechnen sei. Ausgehend vom Steuerbescheid für das Jahr 2005 ergebe sich ein monatliches anzurechnendes Einkommen iHv 461,11 EUR. Das steuerliche Netto sei zu zwölfteln. Von ihm seien weder Versicherungsbeiträge noch die Werbungskostenpauschale abzuziehen, da diese bereits durch das Finanzamt berücksichtigt worden seien. Es seien Freibeträge iHv insgesamt 123,47 EUR abzuziehen. Nach Verteilung dieses Einkommens auf die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft ergebe sich für die Klägerin zu 1. noch ein Leistungsanspruch iHv 251,83 EUR monatlich. Da sie Leistungen iHv 399,18 EUR erhalten habe, betrage die Überzahlung 147,35 EUR. Die Aufhebung für das Jahr 2005 belaufe sich auf 1.768,20 EUR. Durch die Erstattungsforderung iHv nur 1.633,56 EUR sei sie nicht beschwert.

Hiergegen hat zunächst allein die Klägerin zu 1. am 19. Mai 2008 Klage erhoben, diese aber nicht begründet. Am 16. Januar 2009 hat sich der jetzige Prozessbevollmächtigte bestellt und ausgeführt, dass die Klage auch für die Kläger zu 2. bis 4. geführt werde und sich gegen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide des Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2008 richte. Zugleich haben die Kläger die Bewilligung von PKH beantragt. Am 4. Februar 2009 sind bei dem SG die Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nebst zugehörigen Belegen vorgelegt worden.

Zur Begründung der Klage haben die Kläger vorgetragen, dass – obwohl sich die Erstattungsforderung von der Klägerin zu 1. zuletzt noch auf 1.633,56 EUR belaufen habe – das Hauptzollamt mit Zahlungsaufforderung vom 30. Juni 2008 einen Betrag iHv 4.610,82 EUR von der Klägerin zu 1. verlangt habe. Es sei unklar, welche Beträge der Beklagte von welchem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zurückverlange. Einer Forderung gegen die Kläger zu 2. bis 4. stünden die Verjährungsvorschriften entgegen. Die Ermittlung des Einkommens des Klägers zu 2. sei fehlerhaft erfolgt. Das Finanzamt habe nicht alle Aufwendungen für Altersvorsorge, Kranken- und Pflegeversicherung berücksichtigt. Es habe Vorsorgeaufwendungen lediglich iH des Freibetrags anerkannt. Dieser entspreche jedoch nicht den tatsächlichen aufgewendeten Beträgen. Diese müssten ermittelt und vom Nettogewinn abgezogen werden.

Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2009 hat der Beklagte klargestellt, dass nur eine Erstattung iHv 1.633,56 EUR von der Klägerin zu 1. verlangt werde.

Mit Beschluss vom 22. Oktober 2009 hat das SG den PKH-Antrag der Kläger abgelehnt. Die Klage habe insgesamt keine Aussicht auf Erfolg. Die Kläger zu 2. bis 4. seien durch den angegriffenen Verwaltungsakt nicht beschwert. Der Beklagte habe den an die Klägerin zu 1. gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zu Recht auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt. Vertrauensschutzaspekte seien nicht zu berücksichtigen, denn sie hätte zumindest erkennen müssen, dass das vom Kläger zu 2. erzielte Einkommen bei der Leistungsgewährung nicht (vollständig) berücksichtigt worden war. Sein Einkommen und der von der Klägerin zu 1. geforderte Erstattungsbetrag seien nach summarischer Prüfung zutreffend berechnet.

Am 6. November 2009 haben die Kläger PKH-Beschwerde eingelegt. Nach gerichtlichem Hinweis haben die Kläger zu 2. bis 4. mit Schriftsatz vom 26. Mai 2010 die Beschwerde zurückgenommen.

Die Klägerin zu 1. beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Oktober 2009 abzuändern und ihr für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung von Rechtsanwalt A. aus M zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält den Beschluss des SG für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, die Verwaltungsvorgänge des Beklagten und die Prozesskostenhilfebeihefte ergänzend Bezug genommen, die Gegenstand der Beratung des Senats waren.

II.

Die – nach Rücknahme der PKH-Beschwerde der Kläger zu 2. bis 4. – verbleibende Beschwerde der Klägerin zu 1. gegen den Beschluss des SG vom 22. Oktober 2009 ist zulässig und begründet.

Sie ist nach § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegt und statthaft nach § 172 Abs. 3 Nr. 2 SGG. Das SG hat die Bewilligung von PKH ausschließlich wegen der mangelnden Erfolgsaussicht verneint. Der nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG iVm § 127 Abs. 2 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) für die Zulässigkeit notwendige Beschwerdewert von 750,00 EUR ist überschritten, denn es geht um einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, mit dem Leistungen iHv 1.633,56 EUR zurückgefordert werden.

Die Beschwerde ist auch begründet. Nach § 73a Abs. 1 SGG iVm den §§ 114 ff. ZPO ist auf Antrag PKH zu bewilligen, soweit der Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder -verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dabei hat der Antragsteller gemäß § 115 ZPO für die Prozessführung sein Einkommen und Vermögen einzusetzen, soweit ihm dies nicht aufgrund der dort genannten Tatbestände unzumutbar ist.

Als hinreichend sind die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einzuschätzen, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gewiss, eine Erfolgschance jedoch nicht unwahrscheinlich ist (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 13. März 1990, Az:. 1 BvR 94/88, NJW 1991 S. 413 f.). PKH kommt hingegen nicht in Betracht, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht gänzlich ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 17. Februar 1998, Az.: B 13 RJ 83/97 R, SozR 3-1500, § 62 Nr. 19).

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat die Rechtsverfolgung der Klägerin zu 1. hinreichende Erfolgsaussichten. Denn der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 10. Mai 2007 in der Fassung der nachfolgend ergangenen Änderungsbescheide und in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2008 begegnet in mehrfacher Hinsicht rechtlichen Bedenken.

1. In verfahrensrechtlicher Hinsicht kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden, ob das Anhörungsschreiben des Beklagten vom 7. November 2006 den Anforderungen des § 24 SGB X entspricht. Von dem offensichtlich mehrseitigen Anhörungsschreiben ist in den Verwaltungsakten des Beklagten nur die erste Seite enthalten. Nach dem vorliegenden Wortlaut geht es um eine durch die Klägerin zu 1. verursachte Überzahlung, da sie eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung in ihren Verhältnissen verspätet angezeigt habe. Es kann nicht festgestellt werden, ob die Klägerin zu 1. auf der Grundlage dieses Schreibens in der Lage war, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen iSv § 24 Abs. 1 SGB X zu äußern. Dazu ist grundsätzlich erforderlich, dass im Anhörungsschreiben die Entscheidungsgrundlage benannt und der beabsichtigte Verfügungssatz mitgeteilt wird (vgl. von Wulffen: SGB X, 7. Auflage 2010, § 24 RN 9). Auf der vorliegenden ersten Seite des Schreibens sind weder der Anhörungszweck (wie: beabsichtigter Erlass eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids) noch die in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage genannt.

2. Weiterhin erscheint zweifelhaft, ob der Beklagte seine Aufhebungsentscheidung – die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide unterstellt – auf § 48 SGB X stützen konnte, oder ob ggf. § 45 SGB X als Rechtsgrundlage heranzuziehen war. Wahrscheinlich waren die ursprünglichen Bewilligungsbescheide bereits im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtswidrig, sodass ihre Aufhebung nur nach § 45 SGB X erfolgen kann.

Denn grundsätzlich ist die Verwaltung verpflichtet, vor Erlass eines Bescheides die Sachlage vollständig aufzuklären, um die objektiven Verhältnisse festzustellen (BSG, Urteil vom 21. Juni 2011, Az. B 4 AS 22/10 R, juris RN 16). Weiter hat das BSG (a.a.O.) ausgeführt: "Erlässt die Verwaltung einen endgültigen Bescheid auf Grundlage eines nicht endgültig aufgeklärten Sachverhalts und stellt sich später – nach weiteren Ermittlungen – heraus, dass der Bescheid bereits im Zeitpunkt des Erlasses objektiv rechtswidrig war, ist ein Fall des § 45 SGB X gegeben. Der endgültige Bescheid ist umgekehrt kein taugliches Instrumentarium in Fällen, in denen – nicht wegen fehlerhafter Ausübung der Amtsermittlungspflicht, sondern – objektiv nur die Möglichkeit einer prospektiven Schätzung etwa der Einkommenssituation besteht. Entscheidet der Träger jedoch endgültig und bewilligt nicht nur vorläufige Leistungen, sind Maßstab der Überprüfung der Aufhebungsentscheidung § 45 oder § 48 SGB X."

Ob die Bewilligungsbescheide rechtmäßig sind, beurteilt sich nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II sowie für den streitigen Zeitraum vom 1. Januar bis 30. September 2005 nach der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V) vom 20. Oktober 2004 sowie für den Zeitraum vom 1. Oktober 2005 bis zum 31. Dezember 2005 nach der Alg II-V i.d.F. vom 22. August 2005, die am 1. Oktober 2005 in Kraft getreten ist.

Nach § 2 Abs. 1 Alg II-V 2004 war auch bei Selbstständigen von den Bruttoeinnahmen auszugehen. Diese waren nach § 11 Abs. 2 SGB II um die Absetzbeträge zu bereinigen. Zusätzlich war gemäß § 3 Nr. 3 Alg II-V 2004 bei Einkommen aus selbstständiger Erwerbstätigkeit ein Pauschbetrag für die mit der Erzielung des Einkommens verbundenen Betriebsausgaben iHv 30% von den Betriebseinnahmen abzusetzen, soweit der erwerbsfähige Hilfebedürftige nicht höhere notwendige Ausgaben nachwies.

Indes hat der Beklagte seine Leistungsbewilligung und die Berechnung des zu berücksichtigenden Einkommens auf der Grundlage der vom Kläger zu 2. vorgelegten EÜR für das erste Quartal 2004 gestützt. Aufgrund der monatlichen durchschnittlichen Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben (123,28 EUR) hat er ein Einkommen iHv 74,41 EUR angerechnet. Er hat letztlich eine prospektive Schätzung abgegeben, von der er wusste, dass sie der tatsächlichen Einkommenssituation im besten Fall nur nahekommen konnte. Gleichwohl hat er auf der Grundlage der Schätzung Leistungen nicht vorläufig, sondern endgültig bewilligt. Dies gilt sowohl für die Leistungsbewilligung für das erste Halbjahr 2005 als auch für diejenige für das zweite Halbjahr, die auf derselben Anrechnung beruht.

Es spricht daher Überwiegendes dafür, dass die zu Grunde liegenden Bewilligungsbescheide bereits von Anfang an rechtswidrig waren, sodass ihre nachträgliche Korrektur nur über § 45 SGB X und unter Beachtung der Vertrauensschutzbestimmungen des § 45 Abs. 2 SGB X möglich ist.

3. Zudem begegnet auch die im Widerspruchsbescheid vom 11. April 2008 vorgenommene Einkommensberechnung Bedenken, denn diese legt steuerrechtliche Bewertungen zugrunde, obwohl jedenfalls in den ersten neun Monaten des streitbefangenen Zeitraums die anzuwendende Alg II-V 2004 keinen Rückgriff auf die einkommensteuerrechtlichen Regelungen zur Gewinnermittlung vorsah (vgl. BSG, a.a.O., RN 19 ff.). Daher ist die im Widerspruchsbescheid vorgenommene Berechnung auf der Grundlage des zu versteuernden Einkommens für das Jahr 2005 rechtsfehlerhaft.

Da der Kläger zu 2. weder in der gesetzlichen Krankenversicherung noch in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert war, waren zu seinen Gunsten angemessene Versicherungen zur Vorsorge für den Fall der Krankheit und des Alters als Absetzbeträge vom Einkommen zu berücksichtigen (§ 11 Abs. 2 Nr. 3 a, b SGB II). Dies ist nicht erfolgt.

Die Berechnung des Einkommens hätte auf der Grundlage der monatlichen EÜR unter Abzug der Betriebsausgaben entweder in Höhe der Pauschale von 30% oder – soweit nachgewiesen – des tatsächlichen, höheren Betrags erfolgen müssen. Dabei wären die geltend gemachten Betriebsausgaben im Einzelnen zu überprüfen gewesen. Ggf. wäre das Einkommen um weitere Versicherungen – soweit nicht von den Betriebsausgaben erfasst – sowie um die Freibeträge nach § 11 Abs. 2 SGB II zu bereinigen gewesen.

Es erscheint daher möglich, dass ein geringeres Einkommen als der vom Beklagten berücksichtigte Monatsbetrag iHv 461,11 EUR auf den Bedarf der Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft anzurechnen gewesen wäre. Dies würde sich auf die Höhe des Aufhebungs- und Erstattungsbetrags im Hinblick auf die Klägerin zu 1. auswirken.

Ihr war daher für ihre Rechtsverfolgung im erstinstanzlichen Verfahren PKH zu bewilligen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen liegen vor. Die Klägerin zu 1. bezieht aktuell im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung des Senats noch ergänzende SGB II-Leistungen für sich und den Kläger zu 3. Anhaltspunkte für das Vorhandensein von zu berücksichtigendem Vermögens bestehen nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 127 Abs. 4 ZPO.

Der Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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