L 2 AS 903/12 B ER

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
2
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 17 AS 4786/12 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 2 AS 903/12 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner erstattet auch für das Beschwerdeverfahren die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

I.

Der Antragsgegner und Beschwerdeführer wendet sich gegen eine einstweilige Anordnung, mit der das Sozialgericht Halle ihn zur vorläufigen Erbringung von Arbeitslosengeld II an die Antragstellerin verpflichtet hat.

Die am ... 1957 in Cadiz (Spanien) geborene Antragstellerin ist spanische Staatsangehörige. Sie arbeitete bis zum 6. Oktober 2011 in Spanien als Ausbilderin. Seit dem 23. Juli 2012 ist die Antragstellerin mit alleiniger Wohnung in H. gemeldet. Am 24. Juli 2012 schloss sie einen zum 1. August 2012 beginnenden und bis zum 28. Februar 2013 befristeten Untermietvertrag für ein möbliertes Zimmer in einer in H. gelegenen Wohnung. Die monatliche Miete beträgt 108 EUR zuzüglich einer Betriebskostenpauschale in Höhe von 57 EUR in den Monaten April bis September und in Höhe von 77 EUR in den Monaten Oktober bis März (Ziffer 3 des Untermietvertrages vom 24. Juli 2012).

Am 12. September 2012 beantragte sie bei dem Antragsgegner die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen. Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 5. Oktober 2012 ab: Die Antragstellerin könne die beantragten Leistungen nicht beanspruchen, da sie lediglich ein alleiniges Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland habe. Hiervon ausgehend sei sie von der Leistungsbewilligung nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) ausgeschlossen. Dagegen erhob die Antragstellerin mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten vom 10. Oktober 2012 Widerspruch.

Zugleich hat die Antragstellerin über ihre Prozessbevollmächtigten am 10. Oktober 2012 bei dem Sozialgericht Halle um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht und eine vorläufige Zahlung von Grundsicherungsleistungen begehrt. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen vortragen lassen: Zum einen sei ein Anordnungsanspruch gegeben. Seit sie (die Antragstellerin) in H. gemeldet sei, befinde sie sich auf Arbeitsplatzsuche. Vor diesem Hintergrund könne sie sich für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen als Unionsbürgerin auf ihre Rechte aus Art. 4 in Verbindung mit Art. 2, 3 Abs. 3 und Anhang X zu Art. 70 Abs. 2 lit. c der Verordnung (EG) 883/2004 berufen. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei deshalb in ihrem Fall nicht anwendbar. Dies folge überdies aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA), da der zwischenzeitlich von der Bundesrepublik Deutschland erklärte Vorbehalt völkerrechtswidrig sei. Zum anderen liege auch ein Anordnungsgrund vor. Ihr (der Antragstellerin) stünden derzeit keine finanziellen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts mehr zur Verfügung. Ein Abwarten der Hauptsache sei angesichts der begehrten existenzsichernden Leistungen nicht zumutbar.

Der Antragsgegner hat beantragt, den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abzulehnen, und hierzu im Wesentlichen vorgetragen: Der auf die ersten drei Monate des Aufenthalts in Deutschland bezogene Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II betreffe auch Unionsbürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machten und die – wie die Antragstellerin – vor dem Erwerb der Arbeitnehmereigenschaft in Deutschland lediglich arbeitsuchend seien. Das EFA sei nach dem am 19. Dezember 2011 erklärten Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland bezüglich der Leistungen nach dem SGB II nicht mehr für Staatsangehörige eines Vertragsstaates des EFA anspruchsbegründend.

Mit Beschluss vom 12. November 2012 hat das Sozialgericht den Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin Arbeitslosengeld II in Höhe von 408,47 EUR für die Zeit vom 10. bis zum 31. Oktober 2012, sowie in Höhe von monatlich 557,00 EUR für die Zeit vom 1. November 2012 bis zum 28. Februar 2013 vorläufig zu zahlen. Im Übrigen hat es den Antrag für die vor Ergebung des einstweiligen Rechtsschutzantrages liegenden Zeiten abgelehnt. Zur Begründung hat das Sozialgericht in den Gründen ausgeführt: Die Antragstellerin, die erwerbsfähig sei und über einen gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland verfüge, habe hinsichtlich der begehrten Leistungsbewilligung einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, da sie im Sinne der maßgeblichen Vorschriften des SGB II in der aus dem erstinstanzlichen Tenor ersichtlichen Höhe auch hilfebedürftig sei. Auch sei die Antragstellerin nicht von den Grundsicherungsleistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen. Insbesondere finde der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II auf die sich erlaubt in Deutschland zur Arbeitsuche aufhaltende Antragstellerin als spanische Staatsangehörige keine Anwendung. Der Leistungsausschluss werde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts von dem auch auf Grundsicherungsleistungen anwendbaren EFA als unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht verdrängt. Dem stehe auch nicht der am 19. Dezember 2011 von der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf das EFA erklärte Vorbehalt entgegen, wonach die Regierung der Bundesrepublik keine Verpflichtung übernehme, die im Zweiten Sozialgesetzbuch vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden. Dieser Vorbehalt sei nicht gemeinsam mit dem Inkrafttreten des SGB II oder zumindest mit dem Inkrafttreten des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der aktuellen Fassung erklärt worden. Damit liege ein nachträglicher Vorbehalt und mithin ein Verstoß gegen Art. 16a EFA vor, weshalb der Vorbehalt völkerrechtswidrig und unbeachtlich sei. Die Antragstellerin habe darüber hinaus für die Zeit ab Erhebung des einstweiligen Rechtsschutzantrages einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Für die vor der Antragserhebung liegenden Zeiträume sei kein in der Vergangenheit entstandener und in der Zukunft fortwirkender Nachholbedarf glaubhaft gemacht worden.

Am 15. November 2012 hat der Antragsgegner gegen den diesem am 14. November 2012 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Halle Beschwerde eingelegt. Zur Begründung wiederholt er sein erstinstanzliches Vorbringen und trägt ergänzend vor: Die Leistungen des SGB II seien nicht von der VO (EG) 883/2004 umfasst. Rechtsvorschriften im Sinne der VO (EG) 883/2004 seien lediglich Gesetze, Verordnungen, Satzungen und andere Durchführungsvorschriften in Bezug auf die in Art. 3 Abs. 1 VO (EG) 883/2004 abschließend genannten Zweige der sozialen Sicherheit. Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II seien in diesem Zusammenhang nicht genannt. Da es sich bei den Grundsicherungsleistungen lediglich um besondere beitragsunabhängige Geldleistungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 70 VO (EG) 883/2004 und damit gerade nicht um Leistungen nach Rechtsvorschriften im Sinne des Art. 3 Abs. 1 VO 883/2004 handele, könne die Antragstellerin nach dem Wortlaut des Art. 4 VO (EG) 883/2004 keine Gleichbehandlung beanspruchen. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II stelle auch keine Verletzung des primärrechtlichen Diskriminierungsverbots nach Art. 18 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) oder der durch Art. 45 Abs. 1 AEUV gewährleisteten Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar. Der Gesetzgeber habe den Leistungsausschluss ausdrücklich auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG (Unionsbürgerrichtlinie) gestützt, wonach ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sei, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate ihres rechtmäßigen Aufenthalts oder gegebenenfalls während eines längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 lt. b der Richtlinie 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Im Rahmen der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren angezeigten summarischen Prüfung spreche gleichwohl vieles dafür, dass der Leistungsausschluss nicht auf die Antragstellerin anwendbar sei, da sie als spanische Staatsangehörige vom Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens erfasst werde und es umstritten sei, ob der am 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt wirksam sei. Die rechtlichen Bedenken gegen die Wirksamkeit dieses Vorbehalts, die einer abschließenden Klärung im vorläufigen Rechtsschutz nicht zugänglich seien, seien jedoch nicht geeignet, die einstweilige Anordnung des Sozialgerichts Halle zu rechtfertigen. Die insofern vorzunehmende Folgenabwägung dürfe nicht zu Lasten des Antragsgegners ausgehen, da im Hinblick auf das Risiko des Fiskus, vorläufig gezahlte Leistungen bei einem Obsiegen in der Hauptsache nicht zurückzuerhalten, das Interesse der Antragstellerin zurückstehen müsse.

Der Antragsgegner beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Halle vom 12. November 2012 aufzuheben und den Antrag abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie tritt der Beschwerde entgegen und trägt ergänzend vor: Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II verstoße im Weiteren gegen das sich aus Art. 4 VO (EG) 883/2004 ergebende Diskriminierungsverbot und sei daher europarechtswidrig. Schließlich dürfe eine im Falle offener Erfolgsaussichten vorzunehmende Folgenabwägung nicht zu Lasten der Antragstellerin ausgehen, da auf Seiten des Antragsgegners lediglich finanzielle Nachteile zu berücksichtigen seien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten ergänzend Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte sowie nach § 172 SGG statthafte Beschwerde des Antragsgegners ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Erbringung von Grundsicherungsleistungen an die Antragstellerin verpflichtet.

Das Gericht der Hauptsache kann nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit den §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) muss der Antragsteller hierzu glaubhaft machen, dass ihm dadurch, dass man ihn auf ein Hauptsacheverfahren verweist, Nachteile entstehen, die bei einem Obsiegen in der Sache nicht mehr ausgeglichen werden können (Anordnungsgrund). Darüber hinaus hat er glaubhaft zu machen, dass er mit ihrem Begehren im Hauptsacheverfahren voraussichtlich Erfolg haben wird (Anordnungsanspruch). Hierbei dürfen Entscheidungen grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden, wobei Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt, wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller des Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Beschwerdeführer mit seinem Begehren verfolgt (BVerfG aus der Rspr. des BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05 m.w.N., zitiert nach Juris).

Unter Anwendung dieses Maßstabes hat das Sozialgericht zutreffend beschlossen, dass die Antragstellerin für den Bezug von Grundsicherungsleistungen einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat.

Die Antragstellerin erfüllt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht und hat entsprechend der Anmeldebestätigung der Stadt H. vom 26. Juli 2012 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I)). Im Weiteren ist sie hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 SGB II, da sie nach ihrem glaubhaften Vortrag ihren Lebensunterhalt nicht aus Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe jedenfalls nicht in existenzsicherndem Umfang von anderen erhält. Schließlich ist die Antragstellerin erwerbsfähig (vgl. § 8 Abs. 1 SGB II). Da sie als Spanierin Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaats ist und damit einen genehmigungsfreien Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt hat, greift auch die Fiktion der Erwerbsunfähigkeit gemäß § 8 Abs. 2 SGB II nicht (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 25. Januar 2012, B 14 AS 138/11 R, dokumentiert nach Juris).

Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren hier allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung spricht Überwiegendes dafür, dass der von dem Antragsgegner dem Leistungsanspruch der Antragstellerin entgegengehaltene Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, wonach von den Leistungen des SGB II Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen ausgenommen sind, deren Aufenthaltsrecht sich allein – wie im vorliegenden Fall – aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, für die Antragstellerin keine Anwendung findet. Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats daraus, dass sich die Antragstellerin als spanische Staatsbürgerin auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) vom 11. Dezember 1953 (BGBl. II 1956, Seite 564) berufen kann.

Nach Art. 1 EFA, das u.a. die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Spanien unterzeichnet haben, ist jeder der Vertragschließenden verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. Das Europäische Fürsorgeabkommen ist durch das Zustimmungsgesetz vom 15. Mai 1996 (BGBl. II 1956, Seite 563) in innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des Einzelnen begründendes Recht transformiert worden und stellt daher unmittelbar geltendes Bundesrecht dar (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, B 14 AS 23/10 R, BSGE 107, 66, m.w.N). Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II fallen als bedarfsabhängige Leistungen auch in den sachlichen Geltungsbereich des EFA. Ausweislich der Begriffsbestimmung in Art. 2 lit. a Nr. i EFA meint "Fürsorge" im Sinne des Abkommens jede Fürsorge, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert. Insbesondere ist für die Einbeziehung der Grundsicherungsleistungen in den Anwendungsbereich des EFA nicht erforderlich, dass das SGB II als anzuwendendes Fürsorgegesetz in dem nach Art. 2 lit. b) EFA zu führenden Anhang I zum Abkommen verzeichnet ist, da die Aufzählung der Fürsorgegesetze insoweit nicht konstitutiv ist (vgl. ausführlich zum Ganzen: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, a.a.O., m.w.N). Schließlich besteht kein Anlass zu Zweifeln daran, dass die Antragstellerin sich nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zum Zweck der Arbeitsuche und damit auch erlaubt im Sinne des Art. 1 EFA in der Bundesrepublik aufhält. Im Übrigen gilt nach Art. 11 lit. a) Satz 1 EFA der Aufenthalt eines Ausländers im Gebiet eines der Vertragschließenden solange als erlaubt im Sinne des Abkommens, als der Beteiligte im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis oder einer anderen in den Rechtsvorschriften des betreffenden Staates vorgesehenen Erlaubnis ist, aufgrund welcher ihm der Aufenthalt in diesem Gebiet gestattet ist. Die Antragstellerin verfügt insofern über eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, a.a.O.).

Hiervon ausgehend sind der Antragstellerin nach Art. 1 EFA die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen zu gewähren wie den eigenen Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland. "In gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen" meint nach der gewöhnlichen Bedeutung dieser Bestimmungen in ihrem Zusammenhang sowie deren Ziel und Zweck (vgl. zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge – Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK, BGBl. 1985 II, Seite 926) nicht nur die Garantie gleicher Fürsorgeleistungen nach Art und Höhe, sondern auch, dass diese Leistungen durch den Vertragsstaat den vom Europäischen Fürsorgeabkommen in Schutz genommenen Personen auch unter den gleichen Bedingungen erbracht werden wie den eigenen Staatsangehörigen. Denn das Europäische Fürsorgeabkommen zielt nach seinem in der Präambel zum Ausdruck gebrachten Zweck auf die "Festlegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung" der Staatsangehörigen der Vertragsstaaten auf dem Gebiet der Fürsorgegesetzgebung (BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2005, 5 C 29/98, BVerwGE 111, 200 m.w.N.). In der Folge unterliegt der Leistungsanspruch der Antragstellerin, die nach den vorstehenden Ausführungen des Senats das Vorliegen der Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II glaubhaft gemacht hat, keinen weitergehenden Einschränkungen als der Leistungsanspruch eines deutschen Staatsangehörigen.

Jedenfalls im einstweiligen Rechtsschutzverfahren kann der Antragsgegner diesem Leistungsanspruch der Antragstellerin auch nicht den von der Bundesregierung am 15. Dezember 2011 mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 gegenüber dem Generalsekretär des Europarats in Bezug auf das SGB II erklärten Vorbehalt bezüglich der Anwendung des Abkommens auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entgegenhalten, wonach "die Regierung der Bundesrepublik Deutschland [ ] keine Verpflichtung [übernimmt], die im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – in der jeweils geltenden Fassung vorgesehenen Leistungen an Staatsangehörige der übrigen Vertragsstaaten in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den eigenen Staatsangehörigen zuzuwenden." (abrufbar unter www.conventions.coe.int/; vgl. Bekanntmachung vom 31. Januar 2012, BGBl. II Seite 144, berichtigt durch Bekanntmachung vom 3. April 2012, BGBl. II Seite 470). Dieser Vorbehalt ist bei vorläufiger Betrachtung nicht geeignet, die Antragstellerin vom Bezug von Leistungen nach dem SGB II auszuschließen (str., wie hier Bayerisches LSG, Beschluss vom 14. August 2012, L 16 AS 568/12 B, dokumentiert nach Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Mai 2012, L 25 AS 837/12 B ER, dokumentiert nach Juris; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15. August 2012, L 19 AS 1851/12 B ER, dokumentiert nach Juris; a.A. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Juni 2012, L 29 AS 920/12 B ER, dokumentiert nach Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. August 2012, L 5 AS 1749/12 B ER, dokumentiert nach Juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20. Juli 2012, L 9 AS 563/12 B ER, dokumentiert nach Juris).

Grundlage für die Erklärung des vorgenannten Vorbehalts ist Art. 16 lit. b) EFA. Nach Satz 1 dieser Bestimmung hat jeder Vertragschließende dem Generalsekretär des Europarats alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die im Anhang I des Abkommens noch nicht aufgeführt sind. Gleichzeitig mit dieser Mitteilung kann der Vertragschließende Vorbehalte hinsichtlich der Anwendung dieser neuen Rechtsvorschriften auf die Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden machen (Satz 2). Darüber hinaus haben die Vertragschließenden nach Art. 16 lit. A) EFA den Generalsekretär des Europarates über jede Änderung ihrer Gesetzgebung zu unterrichten, die den Inhalt von Anhang I und III berührt.

Es erscheint schon als zweifelhaft, dass es sich bei den Regelungen des SGB II um "neue Rechtsvorschriften" im Sinne des Art. 16 lit. b) Satz 1 EFA handelt, deren Mitteilung zulässig mit einer Vorbehaltserklärung verbunden werden darf. Das SGB II ist am 1. Januar 2005 und damit zu einem Zeitpunkt in Kraft getreten, zu dem das EFA bereits galt. Um in den sachlichen Geltungsbereich des EFA zu fallen, war eine Aufnahme des SGB II in den Anhang I des EFA nicht erforderlich, da die Aufzählung der Fürsorgegesetze im Anhang I keine konstitutive Wirkung hat (vgl. nur BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, a.a.O.). Obgleich die Bundesrepublik den in Art. 16 EFA genannten Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten unterlag, hat sie diese Vertragspflichten in der Zeit nach Außerkraftsetzen des im Anhang I des Abkommens aufgeführten Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) und Inkrafttreten des SGB II entgegen Art. 16 lit. a) EFA (bezogen auf das BSHG) und Art. 16 lit. b) EFA (bezogen auf das SGB II) nicht erfüllt. Zu dieser Zeit enthielt § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II in der zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Fassung (BGBl. I, Seite 2954) überdies nicht die erst zum 1. April 2006 geltende (BGBl. I, Seite 558) und zum 28. August 2007 in der heutigen Fassung geänderte (BGBl. I, Seite 1970) Einschränkung der Leistungsberechtigung von Ausländern, deren Aufenthaltsrecht sich – wie im Fall der Antragstellerin – allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Unter Zugrundelegung des Grundsatzes pacta sunt servanda (vgl. Art. 26 WVK) war die Bundesrepublik – wie auch das Bundessozialgericht am 19. Oktober 2010 entschieden hat – mithin seit dem 1. Januar 2005 verpflichtet, in Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 1 EFA den Staatsangehörigen der anderen Vertragsschließenden die Grundsicherungsleistungen ebenso wie den deutschen Staatsangehörigen zu erbringen, ohne dass dem Leistungsanspruch die später eingefügte Einschränkung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entgegengehalten werden konnte. Gemäß Art. 27 Satz 1 WVK kann eine Vertragspartei sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines völkerrechtlichen Vertrages zu rechtfertigen. Hiervon ausgehend würden aber durch die erst mit nahezu sieben Jahren Verspätung vorgenommene Mitteilung und den mit ihr erklärten Vorbehalt vom 19. Dezember 2011 (Art. 16 lit. b) EFA) die mehrere Jahre dem EFA unterfallenden Vorschriften des SGB II nachträglich aus dessen Anwendungsbereich wieder herausfallen. Art. 16 lit. b) Satz 2 EFA soll den Vertragsstaaten indes nur Vorbehalte offen halten, die sie bei Vertragsschluss noch nicht machen konnten, weil es ein entsprechendes Fürsorgegesetz noch nicht gab, nicht aber den Vertragsstaaten erlauben, sich bereits aus vorbehaltlos eingegangenen – und vorliegend seit nahezu sieben Jahren bestehenden – Verpflichtungen nachträglich einseitig zu lösen (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2000, a.a.O.; vgl. zum Ganzen auch: LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21. August 2012, L 3 AS 250/12 B, dokumentiert nach Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Mai 2012, L 25 AS 837/12 B ER, a.a.O.; siehe zudem Steffen/Keßler, in ZAR 2012, 245). Eine nachträgliche Absenkung des gesetzlichen Fürsorgestandards für den vom Europäischen Fürsorgeabkommen geschützten Ausländerkreis ist unter Geltung des Abkommens nur durch Absenkung des Fürsorgestandards für Inländer möglich (BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2000, a.a.O.). So verhält es sich hier nicht. Die zum 1. Januar 2005 "neuen Rechtsvorschriften" des SGB II beinhalteten nicht schon im Zeitpunkt des Inkrafttretens einen Leistungsausschluss für Ausländer, sondern senkten erstmals zum 1. April 2006 und erneut zum 28. August 2007 den Fürsorgestandard ausschließlich für Ausländer ab. Gemessen daran spricht Überwiegendes dafür, dass die – zwischenzeitlich in Bezug auf den vom Abkommen geschützten Ausländerkreis erheblich abgeänderten – Regelungen des SGB II in dem Zeitpunkt, in welchem die Bundesrepublik ihrer vertraglichen Mitteilungspflicht nachgekommen ist, keine "neuen Rechtsvorschriften" im Sinne des Art. 16 lit. b) Satz 1 EFA mehr waren.

Der Senat vermag nach vorläufiger Betrachtung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch nicht die der vorstehenden Auffassung entgegengebrachten Einwände zu teilen, allein der Wortlaut des Art. 16 lit. b) Satz 1 EFA ließe darauf schließen, dass alle "neuen Rechtsvorschriften" diejenigen Fürsorgegesetze seien, die – wie das SGB II bis Dezember 2011 – noch nicht im Anhang I des Abkommens aufgeführt seien und dass deshalb auch ihre verspätete Mitteilung eine "gleichzeitige" Vorbehaltserklärung ermögliche (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Juni 2012 a.a.O.; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 20. Juli 2012, a.a.O.). Ungeachtet dessen, dass das Abkommen in Bezug auf Art. 16 EFA weder eine Fristenregelung noch eine Sanktionierung von Vertragspflichtverletzungen vorsieht, spricht nach Auffassung des Senats mehr dafür als dagegen, nicht allein auf den Wortlaut des Art. 16 lit. b) EFA abzustellen, sondern gemäß Art. 31 Abs. 1 WVK das Abkommen insoweit nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Überdies sind der völkergewohnheitsrechtlich geltende Effektivitätsgrundsatz, wonach ein Vertrag so auszulegen ist, dass sein Gestaltungsziel und sein Regelungszweck bestmöglich erreicht werden und der intendierte Nutzeffekt eintritt, zu berücksichtigen (vgl. zu der Auslegungsregel, dass die Vorgaben in einem Abkommen vertragsgerecht nach Treu und Glauben umzusetzen sind: BSG, Urteil vom 31. Oktober 2002, B 4 RA 45/01 R, dokumentiert nach Juris). Berücksichtigung finden muss auch die nach einhelliger Staatenauffassung in die allgemeine Auslegungsregel des Art. 31 WVK einbezogene, nach Treu und Glauben ausgerichtete materielle Verhaltenspflicht der Vertragsparteien. Diese verpflichtet die auszulegenden Vertragsparteien zu einer redlichen, von Winkelzügen und Spitzfindigkeiten freien Methodenanwendung als spezifische Ausprägung des Missbrauchsverbotes. In diesem Zusammenhang ist jeder völkerrechtliche Vertrag so auszulegen, dass seine Bestimmungen einen seinem Ziel und Zweck gemäßen Sinn ergeben, wobei im Zweifel das die andere Partei weniger belastende Auslegungsergebnis zu wählen ist (vgl. zur Frage der Auslegung völkerrechtlicher Verträge: Ipsen, Völkerrecht, 4. Auflage, § 11, Rn. 16 und 20). In Anwendung dieser Grundsätze neigt der Senat der Auffassung zu, dass eine ohne zeitlichen Zusammenhang zum Inkrafttreten von Rechtsvorschriften der Fürsorgegesetzgebung vorgenommene Mitteilung dieser Vorschriften keine Mitteilung "neuer Rechtsvorschriften" im Sinne des Art. 16 lit. b) EFA mehr ist und deshalb auch keine Möglichkeit beinhaltet, einen – bei rechtzeitiger Vertragserfüllung noch möglichen – Vorbehalt zu deren Anwendungsbereich zu erklären. Eine solche zeitlich unbefristete Möglichkeit der Vorbehaltserklärung käme einem, im Abkommen nicht vereinbarten, nachträglichen Vorbehalt zu bereits zuvor mitgeteilten Vorschriften gleich. Nicht ohne Grund dürfte das Abkommen keine von der Mitteilung neuer Rechtsvorschriften losgelöste, sondern nur eine "gleichzeitig" anzubringende Vorbehaltserklärung vorsehen. Nach dem Konsens der Vertragsparteien kamen diese entsprechend der Präambel des EFA überein, den sozialen Fortschritt der Mitglieder des Europarates zu fördern und in dem Willen, zur Erreichung dieses Zieles ihre Zusammenarbeit auf das soziale Gebiet auszudehnen, unter Festlegung des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Fürsorgegesetzgebung ein Abkommen zu schließen. Es erscheint zweifelhaft, ob dieses Gestaltungsziel des Abkommens und dessen Regelungszweck erreicht werden kann, wenn die Vertragsparteien durch wörtliche Auslegung der Begrifflichkeit "neue Rechtsvorschriften" über mehrere Jahre ihren vertraglichen Mitteilungs- und Unterrichtungspflichten (Art. 16 EFA) nicht nachkommen dürfen, die für die beabsichtigte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Fürsorge bedeutenden Anhänge I bis III des Abkommens damit über nicht unerhebliche Zeiträume nicht aktuell sind, für die Vertragsparteien mithin Unsicherheiten bergen und sie dann zulässig einen Vorbehalt in Bezug auf "neue" Rechtsvorschriften anbringen können, obgleich die übrigen Vertragsstaaten aufgrund der nicht konstitutiven Wirkung der Auflistung der Gesetze im Anhang von der Anwendung dieser Vorschriften auf das EFA für einen nicht unerheblichen Zeitraum ausgehen durften. Die vorstehenden Ausführungen zugrunde gelegt drängt sich in diesem Zusammenhang auch die Frage auf, ob die Bundesrepublik durch die mit mehreren Jahren Verspätung vorgenommene Mitteilung (des Inkrafttretens) des SGB II das ihnen – bei zeitnaher Erfüllung der Vertragspflichten gleichzeitig – eingeräumte Recht zur Vorbehaltserklärung nach Art. 16 lit. b) EFA verwirkt hat. Macht eine Vertragspartei über einen längeren Zeitraum ihre vertraglichen Rechte nicht geltend, können dadurch die anderen Vertragsparteien nach Treu und Glauben zu der Annahme veranlasst sein, sie werde auch in Zukunft von einer Geltendmachung absehen. In diesem Fall hat diese Vertragspartei ihre vertraglichen Rechte verwirkt (Ipsen, a.a.O., § 15, Rn. 107).

Schließlich erscheint es zweifelhaft, ob es sich bei dem mit Wirkung zum 19. Dezember 2011 erklärten Vorbehalt überhaupt um einen Vorbehalt im Sinne des Art. 16 lit. b) EFA handeln kann. Im Gegensatz zu dem in Bezug auf das zum 31. Dezember 2004 außer Kraft getretene BSHG erklärten Vorbehalt beschränkt sich der zum SGB II angebrachte Vorbehalt nicht auf einzelne Leistungsbereiche des SGB II, sondern sieht vor, dass das SGB II in Gänze vom Anwendungsbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens ausgenommen ist. In der Folge dürfte die Bundesrepublik ihre Vertragspflicht, den Staatsangehörigen der anderen Vertragsparteien in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie den deutschen Staatsangehörigen Fürsorgeleistungen zu gewähren, wenn diese sich erlaubt in Deutschland aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen (Art. 1 EFA), nicht mehr erfüllen können. Das SGB II ist das einzig für erwerbsfähige und arbeitsuchende Personen in Betracht kommende Fürsorgegesetz zur Gewährung von "Mitteln für den Lebensbedarf" (Art. 2 lit. a) Nr. i EFA). Ein Abstellen auf das für nicht erwerbsfähige Personen anzuwendende Sozialgesetzbuch – Zwölftes Buch – Sozialhilfe (SGB XII) dürfte – unabhängig von der Verlagerung der finanziellen Kostentragung vom Bund auf die Kommunen (vgl. § 6 SGB II, § 3 SGB XII) – nicht mit dem leichbehandlungsgrundsatz in Art. 1 EFA ("unter den gleichen Bedingungen") vereinbar sein. Die erwerbsfähigen und arbeitsuchenden Staatsangehörigen der Bundesrepublik, die – wie die Antragstellerin – die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erfüllen, unterliegen keinen weiteren Einschränkungen in Bezug auf die Leistungsberechtigung dem Grunde nach. In der Folge spricht viel dafür, dass der zum 19. Dezember 2011 erklärte Vorbehalt – der nach seinem Inhalt über die schon im SGB II vorgesehene Leistungseinschränkung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II hinausgeht – einer Kündigung des Abkommens gleichkommt (Art. 24 EFA), da für das Europäische Fürsorgeabkommen in der Bundesrepublik in Bezug auf erwerbsfähige und arbeitsuchende Staatsangehörige der anderen Vertragsstaaten kein Anwendungsbereich mehr verbleibt, was dem Konsens der Vertragsparteien widersprechen dürfte (so auch Steffen/Kessler, a.a.O.). Geht demnach die zum 19. Dezember 2011 angebrachte Erklärung über die nach Art. 16 lit. b) EFA eingeräumte Möglichkeit eines Vorbehalts schon hinaus, verbleibt es – unabhängig von den vorstehend erläuterten Bedenken des Senats gegen die Wirksamkeit des Vorbehalts – bei dem Grundsatz pacta sunt servanda (Art. 26 WVK) und damit der Leistungspflicht nach dem SGB II als Fürsorgegesetz im Sinne des Abkommens.

Kommt nach alledem der Leistungsausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vorliegend bereits deshalb nicht zur Anwendung, da die Antragstellerin sich im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren erfolgreich auf den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 1 EFA berufen kann, bedarf es keiner weiteren Erörterung, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II überdies von gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften aufgrund deren Anwendungsvorrangs überlagert wird (dies bejahend mit ausführlicher Begründung LSG Nordrhein-Westfalen m.w.N., Beschluss vom 9. November 2012, L 6 AS 1324/12 B ER, dokumentiert nach Juris; siehe auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Mai 2012, a.a.O.; dies verneinend mit ausführlicher Begründung LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 21. August 2012, a.a.O.; eingehend zum Ganzen: Frings, in ZAR 2012, 317; Schreiber, in NZS 2012, 647; die Europarechtskonformität des Leistungsausschlusses bejahend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. Juni 2012, L 29 AS 920/12 B ER, dokumentiert nach Juris; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. August 2012, L 13 AS 2352/12 ER-B, dokumentiert nach Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6. August 2012, a.a.O.).

Darüber hinaus hat die Antragstellerin im Hinblick auf das Erfordernis der Existenzsicherung auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Abwarten der Hauptsache ist ihr nicht zumutbar. Die Antragstellerin hat glaubhaft vorgetragen, über ausreichende Mittel zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts nicht zu verfügen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit den §§ 183 Abs. 1 Satz 1, 193 Abs. 4 SGG und spiegelt des Ausgang des Verfahrens wider.

Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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