L 3 R 77/18

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 6 R 1951/15
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 3 R 77/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 21. Februar 2018 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Magdeburg zurückverwiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die 1956 geborene Klägerin einen Anspruch auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nach dem Sechsten Buch des Sozialgesetzbuches (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI) hat.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin vom 18. August 2014 mit Bescheid vom 27. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2015 ab. Dagegen hat die Klägerin am 23. Dezember 2015 Klage beim Sozialgericht Magdeburg erhoben. Das Sozialgericht hat zunächst Befundberichte eingeholt und sodann von Amts wegen nach § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) das psychiatrisch-psychosomatische Fachgutachten durch die Ärztin für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychiatrie Dr. H. vom 27. Oktober 2017 veranlasst. Die gerichtliche Sachverständige ist darin zu der Einschätzung gelangt, die Klägerin könne leichte und mittelschwere Tätigkeiten noch regelmäßig sechs Stunden und mehr täglich mit qualitativen Einschränkungen verrichten. Mit gerichtlicher Verfügung vom 13. November 2017 hat das Sozialgericht dieses Gutachten der Klägerin zur Stellungnahme, ob die Klage zurückgenommen werde, übersandt. Mit Verfügung vom 21. November 2017 hat das Sozialgericht Termin zur mündlichen Verhandlung auf Mittwoch, den 10. Januar 2018 bestimmt. Die entsprechende Ladung ist den Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 28. November 2017 zugestellt worden. Mit einem am 5. Dezember 2017 beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin einen Antrag gemäß § 109 SGG gestellt. Eine namentliche Benennung des Sachverständigen werde mit gesondertem Schriftsatz erfolgen. Sie gehe daher davon aus, dass der anberaumte Verhandlungstermin vom 10. Januar 2018 aufgehoben werde. Mit ihrem am 19. Dezember 2017 beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz hat die Klägerin mitgeteilt, dass ein psychiatrisch-psychosomatische Fachgutachten eingeholt werden solle. Das vorliegende Gutachten vom 27. Oktober 2017 sei aufgrund der vorhandenen Befundlage nicht nachvollziehbar. Insbesondere sei die Ansicht der Sachverständigen, dass bei ihr lediglich eine leichte Angstsymptomatik als psychischer Befund vorliege, unrichtig. Insoweit korrespondiere dieser Befund auch nicht nur ansatzweise mit dem Befund von Dipl.-Psych. H. vom 4. November 2016. Sie benenne daher Dr. C., ...-Straße ..., ... Q. als Arzt, der sie untersuchen und ein Gutachten nach § 109 SGG anfertigen solle. Ferner hat sie beantragt, den vom Sozialgericht inzwischen unter dem 7. Dezember 2017 auf den 7. Februar 2018 verschobenen Termin wegen Urlaubsabwesenheit ihres Prozessbevollmächtigten zu verlegen. Im Übrigen sei ein Verhandlungstermin im Hinblick auf den gestellten Antrag nach § 109 SGG wohl gegenwärtig nicht angezeigt. Das Sozialgericht hat daraufhin den Termin unter dem 20. Dezember 2017 erneut verlegt, und zwar auf Mittwoch, den 21. Februar 2018.

In der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2018 hat die Kammervorsitzende ausweislich des Protokolls darauf hingewiesen, dass das von Amts wegen eingeholte psychiatrische Fachgutachten im Ergebnis nachvollziehbar darlege, wieso die Klägerin noch über ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr täglich verfüge. Sie hat weiter erklärt, "dass ausweislich des von der Klägerseite gestellten Antrages auf Einholung eines weiteren psychiatrischen Fachgutachtens nach § 109 SGG auf diesem Gebiet der Sachverhalt hinreichend aufgeklärt sein dürfte". Sodann sind die Prozessanträge aufgenommen worden. Im Anschluss daran hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin "nochmals den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens auf psychiatrischem Gebiet nach § 109 SGG mit dem bereits benannten Sachverständigen Dr. C." gestellt. Die Vorsitzende hat schließlich die mündliche Verhandlung geschlossen und nach geheimer Kammerberatung die folgenden Entscheidungen verkündet:

"Urteil

IM NAMEN DES VOLKES

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat keine notwendigen außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach zu erstatten.

Des Weiteren wird folgender Beschluss verkündet:

Der Antrag der Klägerin auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG wird zurückgewiesen."

Bezüglich der Ablehnung des Antrages nach § 109 SGG hat das Sozialgericht in den schriftlichen Urteilsgründen ausgeführt, es habe keine Veranlassung bestanden, ein weiteres psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten auf Antrag der Klägerin von Dr. C. einzuholen. Der medizinische Sachverhalt sei im Hinblick auf das psychiatrische Fachgutachten von Dr. H. auf psychiatrisch-psychosomatischem Gebiet hinreichend aufgeklärt. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Frage auf psychiatrisch-psychosomatischem Gebiet von der gerichtlichen Sachverständigen in ihrem Gutachten nicht beantwortet worden sei. Dementsprechend habe durch Beschluss der Antrag der Klägerin auf Einholung eines weiteren Gutachtens gemäß § 109 SGG zurückgewiesen werden können, da der medizinische Sachverhalt durch das Gutachten von Dr. H. umfassend auf dem psychiatrisch-psychosomatischen Gebiet aufgeklärt worden sei.

Gegen das ihr am 2. März 2018 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 6. März 2018 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, sie rüge einen groben Verfahrensfehler. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sei die Einholung eines Sachverständigengutachtens nach § 109 SGG zwingend, wenn ein entsprechender Antrag gestellt werde. Sie wünsche eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 21. Februar 2018 und den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Dezember 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, insbesondere bei Berufsunfähigkeit, weiter hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Magdeburg zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg für richtig. Ein Verfahrensfehler liege seitens des Sozialgerichts nicht vor, wenn es Ermittlungen unterlassen habe, auf die es nach seiner Rechtsauffassung nicht ankomme. Über den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gemäß § 109 Abs. 1 SGG sei erneut im Berufungsverfahren zu entscheiden. Aufgrund der Einholung eines Sachverständigengutachtens seien auch keine umfangreichen und aufwändigen Ermittlungen erforderlich.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsatz der Klägerin vom 19. April 2018, Schriftsatz der Beklagten vom 17. April 2018).

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (zwei Bände) sowie auf die Verwaltungsakte mit der Beklagten verwiesen. Diese Akten haben bei der Entscheidungsfindung des Senats vorgelegen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG).

Die zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Verfahren vor dem Sozialgericht leidet an einem wesentlichen Mangel gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung, der eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich macht.

Das Sozialgericht hat es verfahrensfehlerhaft abgelehnt, das gemäß § 109 SGG beantragte Gutachten einzuholen. Dies rechtfertigt es, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zurückzuverweisen (so auch m.w.N. Bayerisches LSG, Urteil vom 14. November 2012 - L 15 SB 68/12 -, juris).

Gemäß § 109 Abs. 1 SGG ist im sozialgerichtlichen Verfahren auf Antrag des Versicherten ein bestimmter Arzt gutachtlich zu hören. Die Anhörung kann von der Einzahlung eines Kostenvorschusses abhängig gemacht werden (§ 109 Abs. 1 Satz 2 SGG). Abgelehnt werden kann die Anhörung nur unter den Voraussetzungen des § 109

Abs. 2 SGG. Eine Ablehnung ist möglich, wenn der Antrag entweder in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit zu spät vorgebracht worden ist und sich bei einer Zulassung des Beweisantrags die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde.

Die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Antrags gemäß § 109 SGG durch das Sozialgericht sind vorliegend nicht gegeben. Die Klägerin hat den Antrag formgerecht gestellt. Er erfüllt auch die inhaltlichen Anforderungen an einen Antrag gemäß § 109 SGG. Der zu hörende Arzt ist in dem am 19. Dezember 2017 beim Sozialgericht eingegangenen Schriftsatz namentlich und mit Anschrift benannt worden.

Das Sozialgericht durfte den Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG nicht mit der Begründung ablehnen, der medizinische Sachverhalt sei im Hinblick auf das psychiatrische Fachgutachten von Dr. H. auf psychiatrisch-psychosomatischem Gebiet hinreichend aufgeklärt. Denn diese Konstellation stellt gerade den Regelfall für einen Antrag nach § 109 SGG dar. Falls das Gericht über medizinische Tatsachen, die für die Entscheidung erheblich sind, keine weiteren Ermittlungen mehr von Amts wegen nach § 106 SGG beabsichtigt, muss es grundsätzlich ein Gutachten nach § 109 SGG einholen (vgl. auch Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Auflage 2017, § 109 Rdnr. 2). Diese Vorschrift durchbricht den Untersuchungsgrundsatz und zwingt das Gericht grundsätzlich, auf Antrag Sachverständigenbeweis durch einen bestimmten Arzt, der das Vertrauen des Betroffenen genießt, zu erheben. § 109 SGG dient der Herstellung der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten und dem Rechtsfrieden (Keller, a.a.O., Rdnr. 1). Hier sind die medizinischen Tatsachen, zu deren Feststellung das Gutachten von Dr. H. eingeholt worden ist, wesentlich für die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch. Das einzuholende Gutachten von Dr. C. sollte aus Sicht der Klägerin zu anderen - entscheidungserheblichen - Bewertungen ihres Gesundheitszustandes gelangen.

Der Verfahrensmangel der unberechtigten Ablehnung des Antrags gemäß § 109 SGG ist wesentlich. Wesentlich ist ein Verfahrensmangel dann, wenn das Urteil darauf beruhen kann (Bayerisches LSG, a.a.O., Rdnr. 41 m.w.N.).

Bei Einholung eines Gutachtens gemäß § 109 SGG ist nicht auszuschließen, dass das Sozialgericht zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre als im Urteil vom 21. Februar 2018. Auch wenn die gemäß § 106 SGG gehörte psychiatrische Sachverständige Dr. H. die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht für erforderlich gehalten hat, kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein anderer Gutachter - hier Dr. C. - mit einer überzeugenden Begründung zu der Einschätzung eines zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögens kommt. Das ergangene Urteil des Sozialgerichts kann daher auf der verfahrensfehlerhaften Nichteinholung des Gutachtens gemäß § 109 SGG beruhen.

Wegen des Verfahrensmangels ist mit der Einholung des Gutachtens gemäß § 109 SGG eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich, die einen erheblichen Mitteleinsatz verlangt. Wenn vereinzelt die Ansicht vertreten wird, dass allein die Einholung eines Sachverständigengutachtens für das Gericht nicht mit einem erheblichen Aufwand verbunden sei (so die Beklagte unter Hinweis auf Keller, a.a.O., § 159 Rdnr. 4), kann sich der Senat dem jedenfalls für den hier zu entscheidenden Fall, dass ein formgerecht gemäß § 109 SGG beantragtes Gutachten trotz rechtzeitig gestelltem Antrag nicht eingeholt worden ist, nicht anschließen. Denn anderenfalls bestünde keinerlei Handhabe, gegen eine missbräuchliche Nichteinholung von Gutachten gemäß § 109 SGG vorzugehen. Dies hätte zur Folge, dass das Antragsrecht gemäß § 109 SGG in der ersten Instanz maßgeblich geschwächt wäre. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber mit der Beschränkung der Zurückverweisung gemäß 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG auf Fälle, in denen eine umfassende und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist, eine derartige Schwächung des Antragsrechts gemäß § 109 SGG bezwecken wollte. Der Grundsatz des fairen Verfahrens verbietet eine andere Auslegung als die vom Senat vertretene (so auch: Bayerisches LSG, a.a.O., Rdnr. 45).

Im Rahmen der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens hält es der Senat für sachgerecht und zweckmäßig, die Streitsache an das Sozialgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Der Rechtsstreit ist erst kurze Zeit beim LSG anhängig, so dass den Beteiligten durch die Zurückverweisung kein wesentlicher zeitlicher Nachteil entstehen kann. Vielmehr würde die Klägerin, wenn der Rechtsstreit nicht zurückverwiesen würde, sondern das gemäß § 109 SGG beantragte Gutachten nun im Verfahren vor dem LSG eingeholt würde, faktisch eine Instanz verlieren (Bayerisches LSG, a.a.O., Rdnr. 48). Denn das Sozialgericht hat bei seiner Urteilsbildung keine Möglichkeit gehabt, die sachverständige Auffassung des von der Klägerin benannten Arztes Dr. C. in seine Überlegungen einzubeziehen. Es ist auch unter Berücksichtigung des Gedankens der Prozessökonomie und des Interesses der Klägerin an einer zeitnahen Sachentscheidung festzustellen, dass ihr Interesse, die erforderliche Sachaufklärung durch das Sozialgericht vornehmen zu lassen, überwiegt. Dieses überwiegende Interesse an der Zurückverweisung hat die Klägerin auch dadurch dokumentiert, dass sie im Berufungsverfahren zum Ausdruck gebracht hat, eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Sozialgericht zu wünschen. Gegen eine Zurückverweisung würde sprechen, wenn nach der verfahrensfehlerhaften Entscheidung des Sozialgerichts eine Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten wäre, die eine alsbaldige Erledigung des Klage- und nunmehr Berufungsbegehrens nahelegen und die Einholung des beantragten Gutachtens gemäß § 109 SGG als entbehrlich erscheinen lassen würde (Bayerisches LSG, a.a.O., Rdnr. 49). Das ist vorliegend aber nicht der Fall.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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