L 6 U 29/17

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 33 U 5/16
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 29/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob es sich bei einer tätlichen Auseinandersetzung des Klägers mit einem Betriebsangehörigen um einen Arbeitsunfall gehandelt hat.

Der Kläger ist 1964 geboren. Nach dem D-Arztbericht am 31. März 2015 war er an diesem Tage in der Tischlerei, in der er beschäftigt war, tätlich angegriffen worden. Beim letzten Schlag habe er das Gleichgewicht verloren und sei auf die rechte Körperseite gefallen. Die Diagnosen lauteten Hüftprellung rechts, HWS-Distorsion, Schulterzerrung rechts sowie LWS-Prellung.

Unter dem 11. April 2015 schilderte der Kläger den Vorfall dahingehend, dass er in einem engen Durchgang an seinem Arbeitskollegen G. rücklings vorbeigehen wollte und ihn dabei versehentlich berührt habe. Diese habe ihn daraufhin sofort von hinten angegriffen, indem er ihn vorsätzlich so gestoßen habe, dass er mit dem Kopf gegen dort anstehende Türblätter geprallt sei. Den zweiten Angriff habe er noch mit ausgestreckter Hand abwehren können. Dann habe er sich umgedreht und sich entfernen wollen. Dabei sei er ein zweites Mal so gestoßen worden, dass er das Gleichgewicht verloren habe und auf die rechte Körperseite gefallen sei. Dies sei leider nicht der erste Vorfall aggressiven Verhaltens ihm gegenüber gewesen.

In einer Stellungnahme erklärte jener Kollege G., der Kläger sei der Ersthandelnde in der Auseinandersetzung gewesen. Nach anfänglichen verbalen Disputen sei dieser handgreiflich gegen ihn geworden. Von ihm selbst sei kein Angriff gegen den Kläger erfolgt. Er habe diesen gestoßen, nachdem er diese Handlung vorher bei ihm ausgeführt habe, einschließlich des Versuches des Würgens. Insoweit habe eine Verteidigungshandlung vorgelegen. Der Kläger habe schon in der Vergangenheit mehrfach versucht, seine Arbeit zu sabotieren und ihn persönlich zu beleidigen. Die Hergangsschilderungen des Klägers und von Herrn G. in beigezogenen Unterlagen der Kriminalpolizei zu dem Vorfall waren fast textidentisch.

Der Arbeitgeber des Klägers führte aus, es sei am 31. März 2015 zu einer tätlichen Auseinandersetzung gekommen. Diese hätte in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden. Der Anlass habe vielmehr allein im privaten Bereich gelegen. Herr G. habe am Schalter einer Absauganlage gestanden und diese bedient. Der Kläger sei ohne erkennbaren Anlass verbal und handgreiflich auf den Kollegen zugegangen, habe ihn am Hals gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand gedrückt. Dagegen habe sich Herr G. gewehrt.

Mit Bescheid vom 11. Mai 2015 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Vorfalls als Arbeitsunfall ab. Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und schilderte noch einmal den streitigen Vorfall. Im Ergebnis sei der Unfall geschehen, weil er aus betrieblichem Anlass an Herrn G. habe vorbei gehen müssen und dies aufgrund der räumlichen Enge nicht ohne Berührung möglich gewesen sei. Da der Arbeitgeber den Vorfall nicht beobachtet habe und auch im Übrigen keine Zeugen vorhanden seien, könne seine Aussage nicht zugrunde gelegt werden.

Im Weiteren führte der Arbeitgeber aus, es habe mehrere Vorfälle in Bezug auf den Kläger nicht nur mit Herrn G. gegeben. Daher sei letztlich nach dem Vorfall vom 31. März 2015 die Entscheidung gefallen, das Arbeitsverhältnis trotz hoher fachlicher Kompetenz zu beenden.

Mit Bescheid vom 19. Januar 2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte aus, Versicherungsschutz bestehe nicht, wenn betriebsbezogene Gründe in den Hintergrund träten und die Ursache des Ereignisses in einem Streit oder einem Überfall begründet sei. Sofern der Streit in keinem sachlichen Zusammenhang mit der versicherten betrieblichen Tätigkeit stehe, sondern aufgrund betriebsfremder Ursachen (z.B. persönlicher Feindschaft) erfolge, bestehe kein Versicherungsschutz. Nach Ausschöpfen aller Erkenntnismöglichkeiten sei nicht klar nachweisbar, wie sich der Hergang im Einzelnen zugetragen habe. Eine auf die Belange des Betriebes gerichtete Handlungstendenz habe damit nicht im Vollbeweis festgestellt werden können. Dies gehe zu Lasten des Klägers.

Hiergegen hat der Kläger am 25. Januar 2016 Klage erhoben und seinen bisherigen Vortrag vertieft. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Anhörung des Klägers und Vernehmung seines Kollegen G. als Zeuge. Bezüglich des Beweisergebnisses wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 1. Dezember 2016 (Blatt 32 ff. der Gerichtsakte) verwiesen. Mit Urteil vom gleichen Tag hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom 31. März 2015 mit einer Hüftprellung, HWS-Distorsion, Schulterzerrung und LWS-Prellung ein Arbeitsunfall sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Verrichtung des Klägers unmittelbar vor der körperlichen Auseinandersetzung objektiv auf die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Pflichten gerichtet gewesen sei. Er sei auf dem Weg von einem Betriebsgebäude in das andere gewesen. Der Betriebsweg sei grundsätzlich in der gesetzlichen Unfallversicherung geschützt. Er sei nicht durch die körperliche Auseinandersetzung des Klägers mit dem Zeugen G. unterbrochen worden. Diese Auseinandersetzung habe ihren Ursprung nicht in privaten Differenzen, sondern betrieblichen Angelegenheiten gehabt. Dies ergebe sich aus der Aussage des Zeugen. Die Kammer sei auch nicht davon überzeugt, dass der Kläger den Zeugen G. angegriffen habe. Der Zeuge habe diesbezüglich erklärt, er habe von dem Kläger einen Stoß in den Rücken erhalten. Ob dies absichtlich oder im Vorbeigehen versehentlich passiert sei, könne der Zeuge nicht wissen. Da dem Kläger die Absicht zur körperlichen Auseinandersetzung mit dem Zeugen nicht nachzuweisen sei, verbleibe es bei der betrieblichen Ursache.

Gegen die ihr am 1. März 2017 zugestellte Entscheidung hat die Beklagte noch im gleichen Monat Berufung eingelegt und darauf hingewiesen, dass kein sogenannter Betriebsbann bestehe. Insoweit sei zu beweisen, dass sich der Kläger aus betrieblichen Gründen auf dem Weg in eine andere Betriebshalle befunden habe. Insoweit bestehe auch die Möglichkeit, dass der Kläger einen bewussten Angriff auf seinen Kollegen geplant habe. Zudem sei weiterhin nicht bewiesen, wie es zu den unstreitig vorliegenden Handgreiflichkeiten gekommen sei. Es bestehe eine objektive Beweislosigkeit. Aus der Aussage des Zeugen, der Kläger habe seine betriebliche Tätigkeit immer wieder sabotiert oder schlecht gemacht, könne man schließen, dass eine persönliche Feindschaft zwischen den beiden vorgelegen habe. Die Angaben des Arbeitgebers stützten ihre Einschätzung.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Halle vom 1. März 2016 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt die erstinstanzliche Entscheidung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in einem Erörterungstermin am 7. März 2018 einverstanden erklärt. Dem Gericht haben bei der Entscheidung neben der Gerichtsakte die Verwaltungsakte der Beklagten vorgelegen. Auf diese wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Im Einverständnis der Beteiligten kann der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die nach § 151 SGG statthafte und gemäß § 143 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist unbegründet. Das Sozialgericht hat zu Recht der Klage stattgegeben. Denn der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Bei der vom Kläger am 31. März 2015 erlittenen Körperverletzung durch seinen damaligen Arbeitskollegen hat es sich um einen Arbeitsunfall gehandelt.

Versicherungsfälle sind nach § 7 Abs. 1 SGB VII Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Nach § 8 Abs. 1 S 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (Abs. 1 S. 2). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls einer versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung wesentlich ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) verursacht hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis wesentlich einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; vgl. BSG, Urteil vom 4.12.2014 - B 2 U 13/13 R, SozR 4-2700 § 2 Nr. 31; Urteil vom 18.11.2008 - B 2 U 27/07 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 30 Rn. 10 m.w.N.). Das Entstehen von länger andauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(-erst-) schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, ebenfalls Urteil vom 2.4.2009 - B 2 U 29/07 R, juris, jeweils Rn. 10, nach juris).

Der Senat ist überzeugt, dass sich der Kläger auf einem versicherten Betriebsweg befand, als er den Raum betrat, in dem sich sein Kollege G. aufhielt. Hinsichtlich des Beweismaßstabes gilt, dass die Merkmale "versicherte Tätigkeit" und "Verrichtung zur Zeit des Unfalls" im Wege des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, für das Gericht feststehen müssen. Maßgeblich ist die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten, ob also der Versicherte eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Tätigkeit ausüben wollte und diese Handlungstendenz durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird (vgl. BSG, Urteil vom 10.10.2006 - B 2 U 20/05 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 19 Rn. 14). Als objektive Umstände, die Rückschlüsse auf die Handlungstendenz zulassen, ist beim Zurücklegen von Wegen insbesondere von Bedeutung, ob und inwieweit Ausgangspunkt, Ziel, Streckenführung durch betriebliche Vorgaben geprägt werden (vgl. BSG, Urteil vom 9.11.2010 - B 2 U 14/10 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 39 Rn. 20; BSG, Urteil vom 18.6.2013 - B 2 U 7/12 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 48, Rn. 13).

Zwar ist es nicht mit absoluter Sicherheit auszuschließen, dass sich der Kläger gezielt auf den Weg gemacht hat, um seinen Kollegen G. anzugreifen. Dieser Weg wäre dann unversichert. Für eine solche Motivation gibt es jedoch keinen Hinweis. Es hatte an jenem Tag vorher keine Auseinandersetzung gegeben, wie auch Herr G. bestätigt hat. Es ist auch ansonsten kein Anlass für eine vom Kläger vorher geplante Auseinandersetzung erkennbar oder behauptet. Auch wenn es keinen "Betriebsbann" gibt, so werden Wege in einem Unternehmen gewöhnlich aus einer betriebsbezogenen Motivation zurückgelegt. Eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit ist nicht ersichtlich (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19.12.2000 - B 2 U 37/99 R, SozR 3-2200 § 548 Nr. 41). Spekulative Überlegungen helfen nicht weiter.

In dem Vorbeigehen des Klägers an seinem Kollegen G. liegt eine notwendige und unmittelbare Bedingung der tätlichen Auseinandersetzung und dem Unfall. Es kann nicht hinweg gedacht werden, ohne dass der Erfolg entfällt. Der Zeuge G. hat bestätigt, dass er vermutlich im Weg des Klägers gestanden habe. Dieser habe ihn in den Rücken gestoßen. Dies legt zumindest die Möglichkeit nahe, dass es sich hier nur um ein Versehen gehandelt hat, wie der Kläger dargelegt hat. Dies kann damit noch nicht als eine Unterbrechung des Betriebswegs angesehen werden. Die Beweislast trägt insoweit die Beklagte.

Wer in der nachfolgenden Auseinandersetzung dann der Angreifer war, ist nicht weiter aufzuklären. Auch insoweit kann keine Unterbrechung des versicherten Weges und der versicherten Tätigkeit festgestellt werden.

Nach der Rspr. des Bundessozialgerichts hängt der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung bei Verletzung eines Betriebsangehörigen während eines Streites an der Arbeitsstelle davon ab, ob ein innerer Zusammenhang zwischen dem Streit und der versicherten Tätigkeit besteht; dies ist dann der Fall, wenn betriebliche Angelegenheiten die eigentliche Ursache für den Streit und das Handeln des Schädigers gewesen sind (BSG, Urteil vom 30.7.1968 - 2 RU 91/67, SozR Nr. 11 zu § 548 RVO; BSG, Urteil vom 19.6.1975 - 8 RU 70/74, Rn. 15, juris). Dem schließt sich der Senat an.

Zwar hat der Arbeitgeber des Klägers am 31. März 2015 ausgeführt, die tätliche Auseinandersetzung hätte in keinem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden. Jedoch hat er diesen Streit nicht gesehen, so dass er sich hierbei nur auf Mitteilungen Dritter stützen kann. Diese Feststellung beinhaltet tatsächliche und rechtliche Wertungen, an die der Senat nicht gebunden ist. Der Zeuge G. hat ausgeführt, es habe schon früher Streit gegeben. Der Kläger habe ab und zu an den Maschinen und einem Notschalter Sperren angebracht. Bei den Maschinen hätten einmal Zettel geklebt, dass sie nicht verstellt werden sollten. Er habe diese aber benutzen müssen. Einmal, als er Schraubzwingen geölt habe, habe der Kläger ihm mitgeteilt, dass dies sinnlos sei und er solle lieber seine Fenster schleifen. Der Streit sei immer um den Arbeitsplatz gegangen. Dies zeigt - nicht nur in der Darstellung des Klägers - deutlich die Betriebsbezogenheit des Vorfalls. Ein Tatmotiv aus dem persönlichen Bereich von Täter oder Opfer ist nicht erkennbar (vgl. BSG, Urteil vom 19.12.2000 - B 2 U 37/99 R, BSGE 87, 224-228, SozR 3-2200 § 548 Nr. 41, Rn. 15; BSG, Urteil vom 30.6.1998 - B 2 U 27/97 R, Rn. 19, juris).

Damit ist die versicherte Tätigkeit auch "wesentlich" für die Verletzungen des Klägers. Es sind keine unversicherten Wirkursachen für das Unfallgeschehen festzustellen, die die versicherte Wirkursache (den versicherten Betriebsweg) verdrängen, so dass der Schaden "im Wesentlichen" rechtlich nicht mehr dem Schutzbereich des jeweiligen Versicherungstatbestandes unterfallen würde (dazu allgemein BSG, Urteil vom 18.6.2013 - B 2 U 10/12 R, SozR 4-2700 § 8 Nr. 47, juris, Rn. 18).

Die bei dem Unfall erlittenen Schäden gehen aus dem Durchgangsarztbericht vom Unfalltag schlüssig und überzeugend hervor und sind zwischen den Beteiligten auch nicht streitig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Kläger obsiegt hat.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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