S 2 SF 18/06 R

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 2 SF 18/06 R
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 SF 154/08 R
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Anwendung der ermäßigten Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG im sozialgerichtlichen Eilverfahren setzt voraus, dass dem Gerichtsverfahren eine qualifizierte anwaltliche Tätigkeit im Verwaltungsverfahren vorausgegangen und dieses bereits abgeschlossen ist.
Auf die Erinnerung wird die Kostenfestsetzung vom 8. Juni 2006 dahingehend abgeändert, dass die von der Staatskasse an den Erinnerungsführer zu gewährende Vergütung für das Verfahren S 4 R 243/05 ER auf insgesamt 765,60 EUR festgesetzt wird.

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss wird zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten um die Höhe der dem Erinnerungsführer aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung für das Ausgangsverfahren vor dem Sozialgericht Marburg unter dem Aktenzeichen S 4 R 243/05 ER. Im Streit steht noch die Höhe der Verfahrensgebühr. In dem genannten Ausgangsverfahren wurde die Antragstellerin von dem Erinnerungsführer anwaltlich vertreten. Mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 21. November 2005 (bei Gericht eingegangen am 29. November 2005) beantragte die damalige Antragstellerin zugleich die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Erinnerungsführers. Mit Beschluss des Gerichts vom 22. Dezember 2005 wurde dem Prozesskostenhilfeantrag vollumfänglich stattgegeben. In der Sache wurde mit den Beteiligten am 13. April 2006 ein Termin zur Erörterung des Sachverhalts durchgeführt. In dieser Sitzung einigten sich die damaligen Prozessbeteiligten über den Streitgegenstand und erklärten das Antragsverfahren übereinstimmend für erledigt. Mit Schriftsatz vom 13. April 2006 (bei Gericht eingegangen am 19. April 2006) beantragte der Erinnerungsführer Gebühren und Auslagen für das Ausgangsverfahren in Höhe von insgesamt 870,00 EUR festzusetzen. Im Einzelnen machte er folgende Positionen geltend:
• Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102 VV RVG = 250,00 EUR,
• Terminsgebühr gemäß Nr. 3106 VV RVG = 200,00 EUR,
• Einigungsgebühr gemäß Nr. 1005 VV RVG = 280,00 EUR,
• Post- und Telekommunikationsentgeltpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG = 20,00 EUR,
• 16 % Umsatzsteuer = 120,00 EUR,

Am 8. Juni 2006 nahm der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die Kostenfestsetzung für das Ausgangsverfahren vor. Dabei wich er von dem Kostenfestsetzungsantrag des Erinnerungsführers ab und setzte insgesamt einen Vergütungsanspruch in Höhe von 672,80 EUR fest. Dabei legte er folgende Gebührentatbestände zugrunde:
• Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3103 VV RVG = 170,00 EUR,
• Terminsgebühr gemäß Nr. 3106 VV RVG = 200,00 EUR,
• Einigungsgebühr gemäß Nr. 1006 VV RVG = 190,00 EUR,
• Post- und Telekommunikationsentgeltpauschale gemäß Nr. 7002 VV RVG = 20,00 EUR,
• 16 % Umsatzsteuer = 92,80 EUR,

Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2006 (bei Gericht eingegangen am 22. Juni 2006) legte der Erinnerungsführer "gegen die Kostenfestsetzung vom 8. Juni 2006 Rechtsmittel ein, soweit dort die Verfahrensgebühr nur auf 170,00 EUR festgesetzt wurde".

Der zuständige Urkundsbeamte der Geschäftsstelle hat der Erinnerung nicht abgeholfen. Das Gericht hat den Erinnerungsgegner unter Übersendung der Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens um Stellungnahme zu dieser Kostensache gebeten. Nach mehreren zwischenzeitlichen Sachstandsmitteilungen ist der Erinnerungsgegner mit Schriftsatz vom 23. Mai 2008 der Erinnerung entgegengetreten.

Der Erinnerungsführer beantragt sinngemäß,
die Kostenfestsetzung vom 8. Juni 2006 dahingehend abzuändern, dass die von der Staatskasse an den Erinnerungsführer zu gewährende Vergütung für das Verfahren S 4 R 243/05 ER auf insgesamt 765,60 EUR festgesetzt wird.

Der Erinnerungsgegner beantragt,
die Erinnerung zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes und insbesondere wegen des Vorbringens der Beteiligten zur Begründung ihrer Anträge wird auf die Gerichtsakte verwiesen. Darüber hinaus wird die beigezogene Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens vor dem Sozialgericht Marburg (Aktenzeichen: S 4 R 243/05 ER) in Bezug genommen. Beide Akten lagen der Entscheidungsfindung zugrunde.

II.

Die Erinnerung gegen die Kostenfestsetzung vom 8. Juni 2006 ist zulässig. Sie ist nach § 56 Abs. 1 S. 1 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG) statthaft. Der Erinnerungsführer ist der Antragstellerin des Ausgangsverfahren durch Beschluss des Gerichts vom 22. Dezember 2005 beigeordnet worden und daher zur Erhebung des Rechtsbehelfs berechtigt. Er hat die Erinnerung in zulässiger Weise auf die Festsetzung der Verfahrensgebühr beschränkt (vgl. Hartmann, Kostengesetze, 36. Aufl. 2006, § 56 RVG, Rn. 7). Diese wirkt sich auch rechnerisch auf das Gesamtergebnis der festgesetzten Vergütung aus, so dass der Erinnerungsführer insoweit beschwert ist. Die Erinnerung ist auch begründet.

Die angegriffene Kostenfestsetzung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle ist abzuändern, da sie die Vergütung des Erinnerungsführers zu niedrig festsetzt. Dem Erinnerungsführer steht gegen die Staatskasse für seine Tätigkeit als beigeordneter Rechtsanwalt in dem Verfahren S 4 R 243/05 ER vor dem Sozialgericht Marburg ein Vergütungsanspruch in Höhe von insgesamt 765,60 EUR zu. Er hat in seinem Kostenfestsetzungsantrag vom 13. April 2006 die Verfahrensgebühr für das Ausgangsverfahren in rechtmäßiger und billiger Weise in Höhe von 250,00 EUR bestimmt.

Die Maßstäbe für Bestimmung der angemessenen Gebühr lassen sich der Regelung des § 14 RVG entnehmen. Bei der Bestimmung der konkreten Gebühr sind nach § 14 Abs. 1 S. 1 RVG alle Umstände des Einzelfalls, vor allem Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit und die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers zu berücksichtigen. Bei den hier einschlägigen Betragsrahmengebühren ist außerdem das Haftungsrisiko des Rechtsanwalts zu berücksichtigen (§ 14 Abs. 1 S. 3 RVG). Zu Recht halten beide Beteiligten unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe im vorliegenden Fall den Ansatz der Mittelgebühr für angemessen. Auch in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ist von diesem Ausgangswert nicht generell abzuweichen. Der vorliegende Fall bietet keine Anhaltspunkte, die es rechtfertigen würden nach oben oder nach unten von der Mittelgebühr abzuweichen.

Entscheidungserheblich ist damit nur, ob für die Verfahrensgebühr des Ausgangsverfahrens der Gebührenrahmen der Nr. 3102 VV RVG oder der der Nr. 3103 VV RVG anwendbar ist. Hintergrund des diesbezüglichen Streites der Beteiligten ist, dass der Erinnerungsführer ausweislich der von ihm vorgelegten Kopie seines Widerspruchsschreibens vom 1. November 2005 die Antragstellerin des Ausgangsverfahrens auch im Widerspruchsverfahren gegenüber der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens vertreten hat. Dieses behördliche Vorverfahren ist seinerzeit parallel zum gerichtlichen Eilverfahren geführt worden. Bei Abschluss des Ausgangsverfahrens am 13. April 2006 war ausweislich der Sitzungsniederschrift vom gleichen Tag über den Widerspruch vom 2. November 2005 noch nicht entschieden worden.

In dieser Situation hält der Erinnerungsführer zu Recht den Gebührenrahmen der Nr. 3102 VV RVG für anwendbar. Dieser reicht von einer Mindestgebühr von 40,00 EUR bis zu einer Höchstgebühr von 460,00 EUR, so dass der vom Erinnerungsführer in Ansatz gebrachte Betrag von 250,00 EUR der Mittelgebühr entspricht.

Eine Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3102 oder Nr. 3103 VV RVG entsteht nach der Vorbemerkung 3.1 zum entsprechenden Abschnitten des VV RVG in allen Verfahren, für die in den folgenden Abschnitten dieses Teils keine Gebühren bestimmt sind. Dies ist hier der Fall, da keine gesonderte Regelung der Gebühren im sozialgerichtlichen Eilverfahren existiert. In der Regel ist dann in allen Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen - wie hier - Betragsrahmengebühren nach § 3 RVG entstehen, der Gebührenrahmen der Nr. 3102 VV RVG einschlägig. Der niedrigere Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV RVG findet dagegen nur Anwendung, wenn eine Tätigkeit des Rechtsanwalts im Verwaltungsverfahren oder im weiteren, der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist.

In Rechtsprechung und Schrifttum ist umstritten, ob die Anwendung der ermäßigten Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes überhaupt in Betracht kommt (siehe zum Meinungsstand einerseits etwa LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. Dezember 2007 - L 20 B 66/07 AY, LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 28. Februar 2007 - L 1 B 467/06 SK, NZS 2008, 55; SG Reutlingen, Beschluss vom 12. September 2007 - S 2 AS 3109/07; Bayerisches LSG, Beschluss vom 18. Januar 2007 - L 15 B 224/06 AS KO; SG Aurich, Beschluss vom 9. Mai 2006 - S 25 SF 20/05 AS; andererseits SG Duisburg, Beschluss vom 15. Mai 2007 - S 7 AS 249/06 ER; SG Frankfurt, Beschluss vom 31. Juli 2006 - S 20 SF 8/06 AY; SG Würzburg, Beschluss vom 12. Juni 2007 - S 16 AL 146/06 ER KO; SG Oldenburg, Beschluss vom 15. Dezember 2005 - S 10 SF 52/05). Dies wird teilweise mit dem Argument verneint, das behördliche Verwaltungsverfahren und der gerichtliche Eilantrag hätten einen unterschiedlichen Streitgegenstand. In dem Eilverfahren gehe es lediglich um die Regelung eines vorläufigen Zustands; dies setze jedoch die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrunds voraus, der wiederum im Verwaltungsverfahren keine Rolle spiele. Auf der anderen Seite wird die teilweise Deckung der Streitgegenstände für ausreichend gehalten, um die ermäßigte Verfahrensgebühr anwenden zu können. Ein zeitlicher Zusammenhang der anwaltlichen Tätigkeit vor Gericht und vor der Verwaltungsbehörde reiche insoweit aus. Vorkenntnisse und Vorarbeiten aus dem Widerspruchsverfahren reduzierten den Aufwand für das Gerichtsverfahren.

Das Sozialgericht Marburg vertritt zu dieser Streitfrage in ständiger Rechtsprechung eine vermittelnde Lösung (siehe zuletzt Beschluss vom 16. Juni 2008 - S 8 AS 17/07 ER). Danach kommt die Anwendung der ermäßigten Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG auf das sozialgerichtliche Eilverfahren zwar grundsätzlich in Betracht. Sie setzt jedoch voraus, dass dem Gerichtsverfahren bereits eine qualifizierte anwaltliche Tätigkeit im Verwaltungsverfahren vorausgegangen und dieses bereits abgeschlossen ist. Nur dann ist nämlich eine Tätigkeit (des Rechtsanwalts) im Verwaltungsverfahren oder im weiteren, der Nachprüfung des Verwaltungsaktes dienenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen (so auch SG Lüneburg, Beschluss vom 18. April 2007 - S 25 SF 34/06). Vor Erlass des Ausgangs- bzw. Widerspruchsbescheids ist der niedrigere Gebührenrahmen daher nicht anwendbar.

Eine solche Auslegung ist auch unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Vorschrift gerechtfertigt. Zwar können bei einem Tätigwerden des Rechtsanwalts im Ausgangs- oder Widerspruchsverfahren die Synergieeffekte, die Grund für die Schaffung des reduzierten Gebührenrahmens waren, auch schon zu einem früheren Zeitpunkt eintreten. Soweit man für die Anwendung der Gebühr aus Nr. 3103 VV RVG aber nicht ein bereits abgeschlossenes Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren verlangt, sondern es für ausreichend hält, dass ein solches Verfahren begonnen wurde (z.B. Einlegung eines unbegründeten Widerspruchs zur Fristwahrung), würden auch Konstellation, bei denen der Rechtsanwalt im Rahmen des Eilverfahrens überhaupt keinen Aufwand erspart hat, automatisch dem geringeren Gebührenrahmen unterfallen. Das Gericht hält es insofern für sachgerechter, mögliche Synergieeffekte, die für den Anwalt etwa im Rahmen eines parallel betriebenen Widerspruchs entstehen, bei der Bemessung der Gebühr innerhalb des Gebührenrahmens der Nr. 3102 VV RVG zu berücksichtigen (in diesem Sinne auch SG Lüneburg, a.a.O.).

An dem Erfordernis des abgeschlossenen Vorverfahrens fehlt es jedoch im vorliegenden Fall. Der Sachverhalt bietet – wie bereits oben dargelegt – auch keine Anhaltspunkte für eine konkrete Erleichterung der anwaltlichen Tätigkeit im gerichtlichen Eilverfahren aufgrund der Vorbefassung im Widerspruchsverfahren. Es bleibt folglich bei der vom Erinnerungsführer angesetzten Mittelgebühr in Höhe von 250,00 EUR.

In der Addition mit den weiteren vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle festgesetzten und hier nicht streitgegenständlichen Beträgen sowie der angepassten Mehrwertsteuer von 16% ergibt sich der festzusetzende Vergütungsanspruch in Höhe von insgesamt 765,60 EUR.

Das Verfahren über die Erinnerung ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 S. 2, 3 RVG).

Dieser Beschluss ist an sich unanfechtbar, da der Wert des Beschwerdegegenstands 200 Euro nicht übersteigt (§ 56 Abs. 2 S. 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 1 RVG). Die Kammer hat jedoch gemäß § 56 Abs. 2 S. 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 2 RVG wegen grundsätzlicher Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage die Beschwerde zugelassen. Das Hessische LSG hat die streitentscheidende Rechtsfrage – soweit ersichtlich – bislang nicht entschieden.
Rechtskraft
Aus
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