Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 20 SB 573/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 4626/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. September 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) streitig.
Die 1950 geborene Klägerin ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaates der EWG. Sie stellte beim Versorgungsamt Stuttgart (VA) am 29.07.2003 einen Erstantrag auf Feststellung des Grads der Behinderung (GdB). Das VA holte den ärztlichen Befundschein des Orthopäden K. vom 25.08.2003 ein, der weitere ärztliche Berichte vorlegte. Nach versorgungsärztlicher (vä) Auswertung stellte das VA mit Bescheid vom 17.09.2003 bei der Klägerin wegen einer Gebrauchseinschränkung des rechten Armes (Teil-GdB 20) sowie einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und Bandscheibenschaden (Teil-GdB 10) den GdB mit 20 seit dem 29.07.2003 fest.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie einen GdB von 50 geltend machte. Dieser Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes Baden-Württemberg vom 30.01.2004 zurückgewiesen.
Hiergegen erhob die Klägerin am 02.02.2004 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG), mit der sie ihr Begehren weiterverfolgte. Sie führte zur Begründung aus, die erforderliche rechtliche Bewertung des GdB sei Sache des Gerichtes. Es bestünden Bedenken gegenüber den Anhaltspunkten. Eine rein rechnerische Ermittlung des GdB sei nicht zulässig. Die Versorgungsverwaltung genüge hinsichtlich der Begründungspflicht nicht dem gesetzlichen Auftrag der §§ 2, 69 SGB IX. Sie leide an einem Zustand nach Radiusfraktur rechts mit einer Osteosynthese, an einer beidseitigen Ellenbogengelenksarthrose, einer sog. Thorakolumbalskoliose, einer rezidivierenden Lumboischialgie links bei einem Bandscheibenvorfall L 5/S1 und Wurzelreizsyndrom links, einer Carbalarthrose im rechten Handgelenk sowie an Meniskusschäden links. Für diese Funktionseinschränkungen seien die Einzel-GdBs insbesondere hinsichtlich des Bereichs der Wirbelsäule nicht ausreichend. Nicht berücksichtigt seien außerdem erhebliche Funktionseinschränkungen im Bereich der Gliedmaßen.
Das SG holte auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG das orthopädische Gutachten des Prof. Dr. P., O.hospital S., vom 12.10.2004 ein. Dieser diagnostizierte in seinem Gutachten nach einer ambulanten, klinischen und radiologischen Untersuchung der Klägerin am 04.10.2004 einen Zustand nach Radiusfraktur mit verbliebener Schmerzsymptomatik, Bewegungseinschränkung und beginnender Handgelenksarthrose (Teil-GdB 30), einen Zustand nach Radiusköpfchenfraktur linker Ellenbogen mit dezenten Bewegungsschmerzen und Krepitation, einen Bandscheibenvorfall L4/5 links mit Ausstrahlung und rezidivierenden Lumboischialgien ins linke Bein (Teil-GdB 10) und eine beginnende Degeneration im linken Kniegelenk (Teil-GdB unter 10). Die Störung durch den Zustand nach Radiusfraktur sei als schwer zu bewerten, weniger aufgrund der Bewegungseinschränkung, jedoch aufgrund der ausgeprägten Schmerzsymptomatik und Zentrierung der Klägerin auf die dort vorhandenen Schmerzen und Einschränkungen. Ein Gesamt-GdB von 30 sei für die Gesamtheit der Beschwerden angemessen.
Der Beklagte unterbreitete der Klägerin, gestützt auf die vä Stellungnahme von Dr. W. vom 31.01.2005, ein Vergleichsangebot dahin, den GdB mit 30 (Gebrauchseinschränkung des rechten Armes, chronisches Schmerzsyndrom - Teil-GdB 30 -, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden - Teil-GdB 10 -) - seit dem 27.07.2003 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festzustellen, das die Klägerin zur Erledigung des Rechtstreites nicht annahm.
Mit Bescheid vom 19.07.2005 stellte das VA bei der Klägerin anstelle des Bescheides vom 17.09.2003 den GdB mit 30 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit jeweils seit 29.07.2003 fest. Insoweit erklärte die Klägerin den Rechtsstreit für erledigt, hielt darüber hinaus aber an ihrem Begehren, den GdB auf 50 festzustellen, fest.
Mit Gerichtsbescheid vom 19.09.2005 wies das SG die Klage ab. Die zulässige Klage sei unbegründet. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Funktionseinschränkungen erachte die Kammer einen Gesamt-GdB von 30 für angemessen. Dem entsprächen auch die nachvollziehbaren Ausführungen von Prof. Dr. P. in seinem Gutachten. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.
Gegen den am 05.10.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am Montag, den 07.11.2005 Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, einen Antrag auf Gleichstellung bei der Bundesagentur für Arbeit sei abgelehnt worden. Sie könne einen Behinderungsgrad von 30 deshalb nicht anerkennen, weil er sie nicht davor schütze, im Rahmen der arbeitsrechtlichen Vorschriften negativ behandelt zu werden. Der GdB von 30 sei unter Berücksichtigung der vorliegenden Krankheiten und Funktionseinschränkungen nicht angemessen, da er in der Berechnung von einer Grundwertung ausgehe, die sich ausschließlich auf eine Teilbeeinträchtigung im Gesundheitszustand beziehe, nicht aber die beiderseitige Abhängigkeit der einzelnen festzustellenden Funktionseinschränkungen berücksichtige, indem bei der Ermittlung der Gesamt-GdB zwar die Einzel-GdB Berücksichtigung fänden, aber nur dann, wenn sie einen Einzel-GdB von 10 überschritten. Diese Ermittlung des Gesamt-GdB sei unzutreffend. Ein Problem sei, dass sie trotz ihres Antrages gemäß § 109 SGG nur wenige Möglichkeiten habe, den Inhalt des Beweisbeschlusses des SG, das darin die üblichen Beweisfragen formuliert habe, zu beeinflussen. Nach der Art und Weise der gestellten Beweisfragen sei eine gewisse pauschale Beurteilung der jeweiligen Anfragen zu vermuten, ohne dass jeweils auf einzelne, individuelle Fragen zu ihrem Gesundheitszustand eingegangen werde. Derartige Fragen seien aber erforderlich, weil nur so eine objektive Stellungnahme eines Sachverständigen erwartet werden könne, der nur die Antworten geben könne, die als Fragen gestellt würden und der somit Fragen verstehen und auf sein Fachgebiet beziehen müsse. Nur die Prüfung der körperlichen und geistigen Funktionen durch Diagnosen, Funktionseinschränkungen und Gesundheitsstörungen sei Aufgabe des medizinischen Sachverständigen. Der GdB sei für jede einzelne Behinderung festzustellen, wobei die Begrenzung auf den GdB von 20 nur für den im Bescheid als Verfügungssatz festzustellenden Gesamt-GdB gelte, nicht aber bei der Feststellung der einzelnen Behinderungen. Zur Feststellung des Gesamt-GdB sei der Teil-GdB im Rahmen von Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen, dagegen nicht die Behinderungen in Funktionssystemen zusammenzufassen. Das Gutachten werde nach ihrer Auffassung der Bedeutsamkeit der einzelnen Gesundheitsstörungen besonders im Bereich der Wirbelsäule nicht gerecht, da ein ausgeprägter Bewegungsschmerz jeweils zu einer deutlichen Einschränkung führe. Es sei ebenfalls von einem GdB von 30 auszugehen. Die Störung im Bereich des linken Knies sei als Einzelbehinderung mindestens mit einem GdB von 10 zu bewerten. Nicht berücksichtigt sei eine "extreme Fokussierung" auf das verletzte rechte Handgelenk, was bedeute, dass auch zu beurteilen sei, ob sich mittlerweile eine somatoforme Schmerzstörung mit unter Umständen auch begleitendem depressivem Syndrom mit einem Einzel-GdB von mindestens 20 verselbständigt habe, was nicht geprüft worden sei. Auf diese Frage sei das Gutachten nicht eingegangen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. September 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 19. Juli 2005 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 27.07.2003 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat gemäß § 109 SGG das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. S., S., vom 04.12.2006 eingeholt. Dieser gelangte in seinem Gutachten zusammenfassend zu der Bewertung, bei der Klägerin bestünden eine leichte Zwangssymptomatik mit insgesamt geringer Beeinträchtigung bei einfacher, wenig reflexionsfähiger Strukturierung (Teil-GdB 10), Wirbelsäulenbeschwerden bei früherem Bandscheibenvorfall L4/5, derzeit ohne Wurzelreizsymptomatik und eine somatoforme Beschwerdeüberlagerung bei orthopädischen Beschwerden (Teil-GdB 20 bis 30). Der im orthopädischen Vorgutachten erfolgten Einschätzung des GdB von 30 könne aus nervenärztlicher Sicht auch dann gefolgt werden, wenn die somatoforme Beschwerdeanteile mit einbezogen würden. Bei Einbeziehung des Teil-GdB von 10 für die Zwangsstörung ergebe sich unter Berücksichtigung der früher bereits getroffenen Feststellungen eine Gesamt-GdB von 30. Ein GdB von 50 könne nicht ausreichend begründet werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsakten und ein Band Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, aber unbegründet. Der Gerichtsbescheid des SG vom 19.09.2005 ist nicht zu beanstanden.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der im Klageverfahren ergangene Bescheid des Beklagten vom 19.07.2005, der den Bescheid vom 19.09.2003 ersetzt hat. Der Senat hat deshalb den Berufungsantrag der Klägerin entsprechend gefasst.
Der Beklagte wird seit 01.01.2005 wirksam durch das Regierungspräsidium Stuttgart vertreten. Nach § 71 Abs. 5 SGG wird in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts das Land durch das Landesversorgungsamt oder durch die Stelle, der dessen Aufgaben übertragen worden sind, vertreten. In Baden Württemberg sind die Aufgaben des Landesversorgungsamts durch Art 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform der Verwaltungsstruktur, zur Justizreform und zur Erweiterung des kommunalen Handlungsspielraums (Verwaltungsstruktur-Reformgesetz - VRG- ) vom 01.07.2004 (GBl S. 469) mit Wirkung ab 01.01.2005 (Art 187 VRG) auf das Regierungspräsidium Stuttgart übergegangen.
Das SG hat in seinem angefochtenen Gerichtsbescheid die für die Entscheidung des Rechtsstreites maßgeblichen Rechtsgrundlagen und Grundsätze vollständig und zutreffend dargestellt. Hierauf nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug.
Der Senat ist mit dem SG auch der Überzeugung, dass die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen Funktionsbeeinträchtigungen bedingen, die mit einem Gesamt-GdB von 30 ausreichend berücksichtigt sind. Der Senat schließt sich nach eigener Überprüfung den hierzu vom SG im angefochtenen Gerichtsbescheid gemachten ausführlichen Entscheidungsgründen an, die er teilt und auf die er zur Vermeidung von Wiederholungen zur Begründung seiner eigenen Entscheidung ebenfalls voll umfänglich verweist (§ 153 Absatz 2 SGG).
Ergänzend und im Hinblick auf das Berufungsverfahren ist auszuführen:
Im Vordergrund steht bei der Klägerin eine Gebrauchseinschränkung des rechten Armes mit einem chronischen Schmerzsyndrom, das auch unter Berücksichtigung einer somatoformen Beschwerdeüberlagerung einen Teil-GdB von 30 begründet, wie der von der Klägerin gemäß § 109 SGG benannte Sachverständige Dr. S. in seinem Gutachten vom 04.12.2006 in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Prof. Dr. P. vom 12.10.2004 überzeugend ausgeführt hat.
Sonstige Funktionsbeeinträchtigungen, die einen höheren Gesamt-GdB als 30 rechtfertigen, liegen bei der Klägerin nicht vor. Hiervon gehen Prof. Dr. P. und Dr. S. in ihren Gutachten übereinstimmend aus. Deren übereinstimmende Bewertung des Gesamt-GdB von 30 ist nach den von ihnen bei der Untersuchung der Klägerin festgestellten und in ihren Gutachten dargestellten Befunden überzeugend und plausibel und entspricht den AHP.
Der Senat folgt dem SG, dass aufgrund der von Prof. Dr. P. erhobenen Wirbelsäulenbefunde bei der Klägerin nur von geringen funktionellen Auswirkungen ausgegangen werden kann, die nach den AHP einen Teil-GdB von 10 rechtfertigen. Dies gilt auch hinsichtlich der Kniegelenke der Klägerin (insbesondere des linken), die nach den AHP allenfalls einen Teil-GdB von 10 rechtfertigen. Sonstige relevante Funktionseinschränkungen an den oberen und unteren Extremitäten liegen (mit Ausnahme der Gebrauchseinschränkung des rechten Armes) nach den von Prof. Dr. P. in seinem Gutachten dargestellten Untersuchungsbefunden bei der Klägerin nicht vor. Dem entspricht auch die Bewertung von Prof. Dr. P ...
Allerdings hat Dr. S. in seinem Gutachten auf nervenärztlichem Gebiet ausgeführt, bei der Klägerin liege zusätzlich eine leichte Zwangssymptomatik vor, die mit einem Teil-GdB berücksichtigt werden könne. Durch diese Zwangssymptomatik wird die Klägerin nach den von Dr. S. erhobenen Befunden jedoch in ihren individuellen oder sozialen Belangen nicht wesentlich berührt, weshalb es nicht gerechtfertigt ist, deswegen den Gesamt-GdB anzuheben. Dem entspricht die Bewertung von Dr. S., der wegen der Zwangsymptomatik den Teil-GdB auf 10 einschätzt.
Nach den vom SG zutreffend dargestellten Grundsätzen zur Bildung des Gesamt-GdB ist ein Teil-GdB von 10 grundsätzlich nicht geeignet ist, den Gesamt-GdB zu erhöhen. Die zur Bildung des Gesamt-GdB gemachten Ausführungen der Klägerin entsprechen nicht den AHP und der gefestigten Rechtsprechung auch des Senates und bieten keinen Anlass, von den AHP und der Rechtsprechung zur Bildung des Gesamt-GdB abzurücken, weshalb ihnen nicht gefolgt werden kann.
Das von der Klägerin eingewandte Problem, dass sie trotz ihres Antrages gemäß § 109 SGG nur wenige Möglichkeiten habe, den Inhalt des Beweisbeschlusses des SG zu beeinflussen, besteht nicht. Der Klägerin wäre unbenommen gewesen, die Ergänzung der Beweisfragen beim SG anzuregen, was ausweislich der Akte des SG nicht erfolgt ist.
Anlass zu weiteren Ermittlungen besteht nicht. Dass bei der Klägerin eine relevante Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes eingetreten ist, ist nicht ersichtlich. Eine solche Verschlimmerung hat die Klägerin im Übrigen auch nicht geltend gemacht.
Schließlich ist das Vorbringen der Klägerin, sie könne einen Behinderungsgrad von 30 deshalb nicht anerkennen, weil er sie nicht davor schütze, im Rahmen der arbeitsrechtlichen Vorschriften negativ behandelt zu werden, ungeeignet, ihrem Begehren zum Erfolg zu verhelfen. Maßgeblich für die Bewertung des GdB sind allein die aufgrund von Gesundheitsstörungen bestehenden dauerhaften Funktionseinschränkungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) streitig.
Die 1950 geborene Klägerin ist im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis für Angehörige eines Mitgliedstaates der EWG. Sie stellte beim Versorgungsamt Stuttgart (VA) am 29.07.2003 einen Erstantrag auf Feststellung des Grads der Behinderung (GdB). Das VA holte den ärztlichen Befundschein des Orthopäden K. vom 25.08.2003 ein, der weitere ärztliche Berichte vorlegte. Nach versorgungsärztlicher (vä) Auswertung stellte das VA mit Bescheid vom 17.09.2003 bei der Klägerin wegen einer Gebrauchseinschränkung des rechten Armes (Teil-GdB 20) sowie einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und Bandscheibenschaden (Teil-GdB 10) den GdB mit 20 seit dem 29.07.2003 fest.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie einen GdB von 50 geltend machte. Dieser Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamtes Baden-Württemberg vom 30.01.2004 zurückgewiesen.
Hiergegen erhob die Klägerin am 02.02.2004 Klage beim Sozialgericht Stuttgart (SG), mit der sie ihr Begehren weiterverfolgte. Sie führte zur Begründung aus, die erforderliche rechtliche Bewertung des GdB sei Sache des Gerichtes. Es bestünden Bedenken gegenüber den Anhaltspunkten. Eine rein rechnerische Ermittlung des GdB sei nicht zulässig. Die Versorgungsverwaltung genüge hinsichtlich der Begründungspflicht nicht dem gesetzlichen Auftrag der §§ 2, 69 SGB IX. Sie leide an einem Zustand nach Radiusfraktur rechts mit einer Osteosynthese, an einer beidseitigen Ellenbogengelenksarthrose, einer sog. Thorakolumbalskoliose, einer rezidivierenden Lumboischialgie links bei einem Bandscheibenvorfall L 5/S1 und Wurzelreizsyndrom links, einer Carbalarthrose im rechten Handgelenk sowie an Meniskusschäden links. Für diese Funktionseinschränkungen seien die Einzel-GdBs insbesondere hinsichtlich des Bereichs der Wirbelsäule nicht ausreichend. Nicht berücksichtigt seien außerdem erhebliche Funktionseinschränkungen im Bereich der Gliedmaßen.
Das SG holte auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG das orthopädische Gutachten des Prof. Dr. P., O.hospital S., vom 12.10.2004 ein. Dieser diagnostizierte in seinem Gutachten nach einer ambulanten, klinischen und radiologischen Untersuchung der Klägerin am 04.10.2004 einen Zustand nach Radiusfraktur mit verbliebener Schmerzsymptomatik, Bewegungseinschränkung und beginnender Handgelenksarthrose (Teil-GdB 30), einen Zustand nach Radiusköpfchenfraktur linker Ellenbogen mit dezenten Bewegungsschmerzen und Krepitation, einen Bandscheibenvorfall L4/5 links mit Ausstrahlung und rezidivierenden Lumboischialgien ins linke Bein (Teil-GdB 10) und eine beginnende Degeneration im linken Kniegelenk (Teil-GdB unter 10). Die Störung durch den Zustand nach Radiusfraktur sei als schwer zu bewerten, weniger aufgrund der Bewegungseinschränkung, jedoch aufgrund der ausgeprägten Schmerzsymptomatik und Zentrierung der Klägerin auf die dort vorhandenen Schmerzen und Einschränkungen. Ein Gesamt-GdB von 30 sei für die Gesamtheit der Beschwerden angemessen.
Der Beklagte unterbreitete der Klägerin, gestützt auf die vä Stellungnahme von Dr. W. vom 31.01.2005, ein Vergleichsangebot dahin, den GdB mit 30 (Gebrauchseinschränkung des rechten Armes, chronisches Schmerzsyndrom - Teil-GdB 30 -, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden - Teil-GdB 10 -) - seit dem 27.07.2003 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit festzustellen, das die Klägerin zur Erledigung des Rechtstreites nicht annahm.
Mit Bescheid vom 19.07.2005 stellte das VA bei der Klägerin anstelle des Bescheides vom 17.09.2003 den GdB mit 30 sowie eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit jeweils seit 29.07.2003 fest. Insoweit erklärte die Klägerin den Rechtsstreit für erledigt, hielt darüber hinaus aber an ihrem Begehren, den GdB auf 50 festzustellen, fest.
Mit Gerichtsbescheid vom 19.09.2005 wies das SG die Klage ab. Die zulässige Klage sei unbegründet. Unter Berücksichtigung der vorliegenden Funktionseinschränkungen erachte die Kammer einen Gesamt-GdB von 30 für angemessen. Dem entsprächen auch die nachvollziehbaren Ausführungen von Prof. Dr. P. in seinem Gutachten. Auf die Entscheidungsgründe wird verwiesen.
Gegen den am 05.10.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am Montag, den 07.11.2005 Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, einen Antrag auf Gleichstellung bei der Bundesagentur für Arbeit sei abgelehnt worden. Sie könne einen Behinderungsgrad von 30 deshalb nicht anerkennen, weil er sie nicht davor schütze, im Rahmen der arbeitsrechtlichen Vorschriften negativ behandelt zu werden. Der GdB von 30 sei unter Berücksichtigung der vorliegenden Krankheiten und Funktionseinschränkungen nicht angemessen, da er in der Berechnung von einer Grundwertung ausgehe, die sich ausschließlich auf eine Teilbeeinträchtigung im Gesundheitszustand beziehe, nicht aber die beiderseitige Abhängigkeit der einzelnen festzustellenden Funktionseinschränkungen berücksichtige, indem bei der Ermittlung der Gesamt-GdB zwar die Einzel-GdB Berücksichtigung fänden, aber nur dann, wenn sie einen Einzel-GdB von 10 überschritten. Diese Ermittlung des Gesamt-GdB sei unzutreffend. Ein Problem sei, dass sie trotz ihres Antrages gemäß § 109 SGG nur wenige Möglichkeiten habe, den Inhalt des Beweisbeschlusses des SG, das darin die üblichen Beweisfragen formuliert habe, zu beeinflussen. Nach der Art und Weise der gestellten Beweisfragen sei eine gewisse pauschale Beurteilung der jeweiligen Anfragen zu vermuten, ohne dass jeweils auf einzelne, individuelle Fragen zu ihrem Gesundheitszustand eingegangen werde. Derartige Fragen seien aber erforderlich, weil nur so eine objektive Stellungnahme eines Sachverständigen erwartet werden könne, der nur die Antworten geben könne, die als Fragen gestellt würden und der somit Fragen verstehen und auf sein Fachgebiet beziehen müsse. Nur die Prüfung der körperlichen und geistigen Funktionen durch Diagnosen, Funktionseinschränkungen und Gesundheitsstörungen sei Aufgabe des medizinischen Sachverständigen. Der GdB sei für jede einzelne Behinderung festzustellen, wobei die Begrenzung auf den GdB von 20 nur für den im Bescheid als Verfügungssatz festzustellenden Gesamt-GdB gelte, nicht aber bei der Feststellung der einzelnen Behinderungen. Zur Feststellung des Gesamt-GdB sei der Teil-GdB im Rahmen von Funktionsbeeinträchtigungen festzustellen, dagegen nicht die Behinderungen in Funktionssystemen zusammenzufassen. Das Gutachten werde nach ihrer Auffassung der Bedeutsamkeit der einzelnen Gesundheitsstörungen besonders im Bereich der Wirbelsäule nicht gerecht, da ein ausgeprägter Bewegungsschmerz jeweils zu einer deutlichen Einschränkung führe. Es sei ebenfalls von einem GdB von 30 auszugehen. Die Störung im Bereich des linken Knies sei als Einzelbehinderung mindestens mit einem GdB von 10 zu bewerten. Nicht berücksichtigt sei eine "extreme Fokussierung" auf das verletzte rechte Handgelenk, was bedeute, dass auch zu beurteilen sei, ob sich mittlerweile eine somatoforme Schmerzstörung mit unter Umständen auch begleitendem depressivem Syndrom mit einem Einzel-GdB von mindestens 20 verselbständigt habe, was nicht geprüft worden sei. Auf diese Frage sei das Gutachten nicht eingegangen.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. September 2005 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 19. Juli 2005 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 seit dem 27.07.2003 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.
Auf Antrag der Klägerin hat der Senat gemäß § 109 SGG das neurologisch-psychiatrische Gutachten des Dr. S., S., vom 04.12.2006 eingeholt. Dieser gelangte in seinem Gutachten zusammenfassend zu der Bewertung, bei der Klägerin bestünden eine leichte Zwangssymptomatik mit insgesamt geringer Beeinträchtigung bei einfacher, wenig reflexionsfähiger Strukturierung (Teil-GdB 10), Wirbelsäulenbeschwerden bei früherem Bandscheibenvorfall L4/5, derzeit ohne Wurzelreizsymptomatik und eine somatoforme Beschwerdeüberlagerung bei orthopädischen Beschwerden (Teil-GdB 20 bis 30). Der im orthopädischen Vorgutachten erfolgten Einschätzung des GdB von 30 könne aus nervenärztlicher Sicht auch dann gefolgt werden, wenn die somatoforme Beschwerdeanteile mit einbezogen würden. Bei Einbeziehung des Teil-GdB von 10 für die Zwangsstörung ergebe sich unter Berücksichtigung der früher bereits getroffenen Feststellungen eine Gesamt-GdB von 30. Ein GdB von 50 könne nicht ausreichend begründet werden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Wegen Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsakten und ein Band Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß den §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig, aber unbegründet. Der Gerichtsbescheid des SG vom 19.09.2005 ist nicht zu beanstanden.
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der im Klageverfahren ergangene Bescheid des Beklagten vom 19.07.2005, der den Bescheid vom 19.09.2003 ersetzt hat. Der Senat hat deshalb den Berufungsantrag der Klägerin entsprechend gefasst.
Der Beklagte wird seit 01.01.2005 wirksam durch das Regierungspräsidium Stuttgart vertreten. Nach § 71 Abs. 5 SGG wird in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts das Land durch das Landesversorgungsamt oder durch die Stelle, der dessen Aufgaben übertragen worden sind, vertreten. In Baden Württemberg sind die Aufgaben des Landesversorgungsamts durch Art 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Reform der Verwaltungsstruktur, zur Justizreform und zur Erweiterung des kommunalen Handlungsspielraums (Verwaltungsstruktur-Reformgesetz - VRG- ) vom 01.07.2004 (GBl S. 469) mit Wirkung ab 01.01.2005 (Art 187 VRG) auf das Regierungspräsidium Stuttgart übergegangen.
Das SG hat in seinem angefochtenen Gerichtsbescheid die für die Entscheidung des Rechtsstreites maßgeblichen Rechtsgrundlagen und Grundsätze vollständig und zutreffend dargestellt. Hierauf nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug.
Der Senat ist mit dem SG auch der Überzeugung, dass die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen Funktionsbeeinträchtigungen bedingen, die mit einem Gesamt-GdB von 30 ausreichend berücksichtigt sind. Der Senat schließt sich nach eigener Überprüfung den hierzu vom SG im angefochtenen Gerichtsbescheid gemachten ausführlichen Entscheidungsgründen an, die er teilt und auf die er zur Vermeidung von Wiederholungen zur Begründung seiner eigenen Entscheidung ebenfalls voll umfänglich verweist (§ 153 Absatz 2 SGG).
Ergänzend und im Hinblick auf das Berufungsverfahren ist auszuführen:
Im Vordergrund steht bei der Klägerin eine Gebrauchseinschränkung des rechten Armes mit einem chronischen Schmerzsyndrom, das auch unter Berücksichtigung einer somatoformen Beschwerdeüberlagerung einen Teil-GdB von 30 begründet, wie der von der Klägerin gemäß § 109 SGG benannte Sachverständige Dr. S. in seinem Gutachten vom 04.12.2006 in Übereinstimmung mit dem Gutachten von Prof. Dr. P. vom 12.10.2004 überzeugend ausgeführt hat.
Sonstige Funktionsbeeinträchtigungen, die einen höheren Gesamt-GdB als 30 rechtfertigen, liegen bei der Klägerin nicht vor. Hiervon gehen Prof. Dr. P. und Dr. S. in ihren Gutachten übereinstimmend aus. Deren übereinstimmende Bewertung des Gesamt-GdB von 30 ist nach den von ihnen bei der Untersuchung der Klägerin festgestellten und in ihren Gutachten dargestellten Befunden überzeugend und plausibel und entspricht den AHP.
Der Senat folgt dem SG, dass aufgrund der von Prof. Dr. P. erhobenen Wirbelsäulenbefunde bei der Klägerin nur von geringen funktionellen Auswirkungen ausgegangen werden kann, die nach den AHP einen Teil-GdB von 10 rechtfertigen. Dies gilt auch hinsichtlich der Kniegelenke der Klägerin (insbesondere des linken), die nach den AHP allenfalls einen Teil-GdB von 10 rechtfertigen. Sonstige relevante Funktionseinschränkungen an den oberen und unteren Extremitäten liegen (mit Ausnahme der Gebrauchseinschränkung des rechten Armes) nach den von Prof. Dr. P. in seinem Gutachten dargestellten Untersuchungsbefunden bei der Klägerin nicht vor. Dem entspricht auch die Bewertung von Prof. Dr. P ...
Allerdings hat Dr. S. in seinem Gutachten auf nervenärztlichem Gebiet ausgeführt, bei der Klägerin liege zusätzlich eine leichte Zwangssymptomatik vor, die mit einem Teil-GdB berücksichtigt werden könne. Durch diese Zwangssymptomatik wird die Klägerin nach den von Dr. S. erhobenen Befunden jedoch in ihren individuellen oder sozialen Belangen nicht wesentlich berührt, weshalb es nicht gerechtfertigt ist, deswegen den Gesamt-GdB anzuheben. Dem entspricht die Bewertung von Dr. S., der wegen der Zwangsymptomatik den Teil-GdB auf 10 einschätzt.
Nach den vom SG zutreffend dargestellten Grundsätzen zur Bildung des Gesamt-GdB ist ein Teil-GdB von 10 grundsätzlich nicht geeignet ist, den Gesamt-GdB zu erhöhen. Die zur Bildung des Gesamt-GdB gemachten Ausführungen der Klägerin entsprechen nicht den AHP und der gefestigten Rechtsprechung auch des Senates und bieten keinen Anlass, von den AHP und der Rechtsprechung zur Bildung des Gesamt-GdB abzurücken, weshalb ihnen nicht gefolgt werden kann.
Das von der Klägerin eingewandte Problem, dass sie trotz ihres Antrages gemäß § 109 SGG nur wenige Möglichkeiten habe, den Inhalt des Beweisbeschlusses des SG zu beeinflussen, besteht nicht. Der Klägerin wäre unbenommen gewesen, die Ergänzung der Beweisfragen beim SG anzuregen, was ausweislich der Akte des SG nicht erfolgt ist.
Anlass zu weiteren Ermittlungen besteht nicht. Dass bei der Klägerin eine relevante Verschlimmerung ihres Gesundheitszustandes eingetreten ist, ist nicht ersichtlich. Eine solche Verschlimmerung hat die Klägerin im Übrigen auch nicht geltend gemacht.
Schließlich ist das Vorbringen der Klägerin, sie könne einen Behinderungsgrad von 30 deshalb nicht anerkennen, weil er sie nicht davor schütze, im Rahmen der arbeitsrechtlichen Vorschriften negativ behandelt zu werden, ungeeignet, ihrem Begehren zum Erfolg zu verhelfen. Maßgeblich für die Bewertung des GdB sind allein die aufgrund von Gesundheitsstörungen bestehenden dauerhaften Funktionseinschränkungen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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