L 4 P 1337/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 P 435/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1337/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 18. Februar 2004 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger ab 01. Oktober 2001 weiterhin Leistungen nach Pflegestufe III im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) zusteht.

Der am 1991 geborene Kläger ist über seinen Vater bei der AOK Baden-Württemberg familienversichert und bei der Beklagten familienpflegeversichert. Der Kläger wurde mit einem Hydrozephalus und einer Myelomeningocele geboren. Es besteht eine Lähmung der Beine und der Blasen- und Darmfunktion. Es wurden beim Kläger verschiedene Blasenoperationen durchgeführt, ebenfalls stationäre Behandlungen wegen Unterschenkelfrakturen. Von September 1997 bis September 2001 besuchte der Kläger die H.-K.-Schule (Tagesschule) in M. und seit 10. September 2001 besucht er die Staatliche Schule für Körperbehinderte mit Heim in E.-W., wo er von montags bis freitags internatsmäßig untergebracht ist. Ab 05. Dezember 1991 gewährte die frühere AOK Lörrach dem Kläger, der durch seine Eltern gepflegt wird, als Leistung wegen Schwerpflegebedürftigkeit (§§ 53 ff. des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs - SGB V a.F.) monatlich DM 400,00 (Bescheid vom 02. April 1992). Am 15. Dezember 1994 wurden für den Kläger bei der Beklagten Leistungen der Pflegeversicherung beantragt. Nach Erhebung eines Sozialmedizinischen Gutachtens der Dr. L. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) in L., dem die Internistin, Sozialmedizin Dr. Le., zugestimmt hatte, bewilligte die Beklagte dem Kläger ab 01. April 1995 mit Bescheid vom 07. März 1995 Pflegegeld nach Pflegestufe II in Höhe von monatlich DM 800,00. In dem genannten Gutachten war ausgeführt worden, beim Kläger bestehe im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen ein erheblich höherer Hilfebedarf. Dies betreffe vor allem den Bereich Mobilität, in geringerem Umfang den Bereich Körperpflege. Zu berücksichtigen sei auch der Zeitaufwand für notwendige Krankengymnastik. Am 20. April 1995 beantragte der Kläger Pflegegeld nach Pflegestufe III, was die Beklagte nach Erhebung einer Stellungnahme nach Aktenlage der Dr. Le. vom 26. Juni 1995, wonach die Voraussetzungen der Pflegestufe III nicht vorlägen, mit Bescheid vom 29. Juni 1995 ablehnte, jedoch weiterhin das Vorliegen der Pflegestufe II bestätigte. Dem widersprach der Kläger. Im Hinblick auf einen weiteren am 21. November 1995 gestellten Höherstufungsantrag erhob die Beklagte dann das von Dr. H. vom MDK in L. am 15. Dezember 1995 aufgrund einer am 13. Dezember 1995 in der häuslichen Umgebung des Klägers durchgeführten Untersuchung erstattete Gutachten; darin gelangte er zu dem Ergebnis, die Pflegestufe II liege weiterhin vor. Der fast fünfjährige Kläger benötige für die meisten Verrichtungen des täglichen Lebens in höherem Maße Hilfe als ein gleichaltriges gesundes Kind. Der tägliche zeitliche Mehraufwand liege im grundpflegerischen Bereich zwischen zwei und drei Stunden. Mit Bescheid vom 19. Dezember 1995 lehnte die Beklagte die Höherstufung in die Pflegestufe III ab. Dem widersprach der Kläger, der darauf hingewiesen hatte, dass er bis zum 31. März 1995 auch noch Leistungen vom Kreissozialamt L. (monatlich DM 598,00) erhalten habe, erneut. Mit Bescheid vom 02. Februar 1996 lehnte danach die Beklagte nochmals die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegestufe III ab. Das Kreissozialamt L. gewährte dem Kläger ab 01. April 1995 noch Besitzstandspflegegeld in Höhe von monatlich DM 198,00. Am 11. Juni 1997 beantragte der Kläger erneut die Höherstufung. Die Beklagte erhob das am 23. Juli 1997 nach einer Untersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung am 17. Juli 1997 erstattete Gutachten der Dr. Le., die zu dem Ergebnis gelangte, beim Kläger lägen die Voraussetzungen der Pflegestufe III keinesfalls vor; es sei von einem zusätzlichen Hilfebedarf von 188 Minuten pro Tag für den Bereich der Grundpflege auszugehen. Daraufhin wurde der Höherstufungsantrag mit Bescheid vom 29. Juli 1997 abgelehnt. Dem widersprach der Kläger. Dr. Le. bestätigte in ihrer Stellungnahme vom 18. Februar 1998, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe III nicht erfüllt seien. In einer Stellungnahme des Pflegerberaters der Beklagten H. vom 27. Februar 1998 wurde der zusätzliche Hilfebedarf beim Kläger im Bereich der Grundpflege mit 190 Minuten pro Tag angegeben; ferner wurde darauf hingewiesen, ab dem zwölften Lebensjahr, wenn ein Abzug unterbleibe, habe der Kläger beste Chancen, in die Pflegestufe III eingruppiert zu werden, da der Pflegeaufwand nicht geringer werde. Der Kläger machte demgegenüber geltend, wegen der notwendigen ständigen Beaufsichtigung bestehe bei ihm ein erhöhter Pflegeaufwand. Die angesetzten Zeiten für die Zubereitung der Nahrung seien zu gering. Der Kläger reichte auch eine ärztliche Bescheinigung des Kinderarztes Dr. S. sowie eine von seiner Mutter ausgefüllte Bestimmung des Hilfebedarfs vom 16. März 1998 ein. Danach bestätigten Dr. Li. vom MDK (Stellungnahme vom 31. März 1998) sowie der Pflegeberater H. (Stellungnahme vom 07. April 1998), dass die Voraussetzungen der Pflegestufe III nach wie vor nicht erfüllt seien. Der Widerspruch des Klägers war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20. April 1998).

Am 24. September 1998 beantragte der Kläger dann erneut die Höherstufung. Die Beklagte erhob das aufgrund einer Untersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung vom 05. November 1998 am 30. November 1998 erstattete Gutachten des Dr. Li. und der Pflegefachkraft Späth. Darin wurde beim Kläger gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Jungen im Bereich der Grundpflege ein täglicher Mehrhilfebedarf von ungefähr 187 Minuten festgestellt, sodass die Voraussetzungen der Pflegestufe III nach wie vor nicht erfüllt seien. Es wurde eine Wiederholungsuntersuchung in zwei Jahren empfohlen. Mit Bescheid vom 07. Dezember 1998 lehnte die Beklagte auch diesen Höherstufungsantrag ab. Dagegen legte der Kläger unter Einreichung einer Bestimmung des Hilfebedarfs vom 11. Januar 1999 Widerspruch ein. Er machte geltend, es bestehe ein erheblicher zusätzlicher Pflegeaufwand, der eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung erforderlich mache. Es liege auch ein nächtlicher Hilfeaufwand vor, beispielsweise beim Toilettengang/Blasenkatheter, beim Kleiderwechsel bei Einnässen und bei gelegentlicher Nahrungsgabe. Ein deutlich erhöhter Pflegeaufwand ergebe sich auch aufgrund des häufigen Durchfalls bzw. Erbrechens. Die Beklagte erhob eine Stellungnahme des Dr. Sc. vom MDK in Lörrach vom 02. März 1999 sowie eine weitere Stellungnahme des Pflegeberaters H. vom 15. März 1999, in denen bestätigt wurde, dass der zusätzliche Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege bei 190 Minuten pro Tag liege, weshalb die Voraussetzungen der Pflegestufe III nicht erfüllt seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 12. April 1999 wurde auch dieser Widerspruch zurückgewiesen. Im folgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Freiburg (S 5 P 1356/99), in dem der Kläger weiterhin die Gewährung von Pflegegeld nach Pflegestufe III begehrte und einen zusätzlichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von täglich 364 Minuten, vor allem im Hinblick auf den erheblichen Hilfebedarf bei der Körperpflege (Waschen/Blasenkatheter) geltend machte, wurden Klinikberichte der Universitäts-Klinik F. (07. August 1997 und 13. Januar 1998) sowie der Chirurgischen Klinik des Klinikums der Universität H. (29. September 1998) und der Orthopädischen Universitätsklinik H. (24. Juli 1998) vorgelegt sowie eine schriftliche Auskunft als sachverständiger Zeuge des Dr. S. vom 30. November 1999 eingeholt. Am 18. Juli 2000 schlossen die Beteiligten in jenem Verfahren den folgenden Vergleich:

1. Die Beklagte gewährt dem Kläger Leistungen nach Pflegestufe III ab dem 01. September 1999 und behält sich eine Nachuntersuchung in einem Jahr vor. 2. Der Kläger erklärt sich hiermit einverstanden und sein Klagebegehren damit für erledigt. 3. Die Beklagte erstattet die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Die Beklagte erhob dann das am 12. September 2001 von Dr. Sc. und der Pflegefachkraft B. nach einer Untersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung am 07. September 2001 erstattete Gutachten. Darin wurde im Bereich der Grundpflege ein täglicher Hilfebedarf von 163 Minuten (105 Minuten bei der Körperpflege, zehn Minuten bei der Ernährung und 48 Minuten bei der Mobilität) errechnet; nach Abzug des Hilfebedarfs bei einem gesunden gleichaltrigen Kind von ungefähr 35 Minuten bleibe ein Mehraufwand von etwa 128 Minuten pro Tag, sodass nur die Voraussetzungen der Pflegestufe II erfüllt seien. Die heutige Begutachtung habe aufgrund des "Gerichtsurteils" vor etwa zwei Jahren stattgefunden; nach wie vor habe auch jetzt wiederum nur ein zeitlicher Hilfebedarf im Zeitrahmen der Pflegestufe II festgestellt werden können. Dieser komme vor allem dadurch zustande, dass der Kläger im Bereich Ausscheiden einen vermehrten Hilfebedarf habe; unabhängig vom Katheterisieren liege eine Harninkontinenz vor, wodurch ein erhöhter Bedarf beim Windelwechseln bestehe; es kämen häufige Durchfälle hinzu, sodass auch dabei ein Mehraufwand bestehe. Der Kläger könne sich jedoch innerhalb der Wohnung alleine mit dem Rollstuhl sehr wendig fortbewegen und auch allein essen. Es seien weiterhin die Voraussetzungen für die Einstufung in die Pflegestufe II gegeben. Die Beklagte, die die Pflege des Klägers in der Körperbehindertenschule seit 10. September 2001 mit monatlich DM 500,00 (EUR 285,65) bezuschusste und im Übrigen anteiliges Pflegegeld auszahlte, teilte danach dem Kläger mit Bescheid vom 17. September 2001 mit, dass im Hinblick auf die Untersuchung am 07. September 2001 nur noch ein täglicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 128 Minuten bestehe, mithin lediglich im Umfang der Pflegestufe II. Ab 01. Oktober 2001 würden daher lediglich noch Leistungen nach Pflegestufe II gewährt. Dagegen legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem er geltend machte, der im Zeitpunkt des gerichtlichen Verfahrens vor dem SG vorliegende Gesundheitszustand habe sich nicht gebessert; der pflegerische Aufwand liege vielmehr noch über dem damaligen Aufwand, weshalb die Herabstufung nicht gerechtfertigt sei. Er leide unter jetzt noch vermehrtem Durchfall, weswegen Tag und Nacht zusätzlicher Pflegeaufwand bestehe. Die Beklagte erhob eine Stellungnahme des Pflegeberaters H. vom 23. November 2001, in der dieser ausführte, an keiner Stelle des Gutachtens sei eine Verbesserung des Gesundheitszustands des Klägers festzustellen; aufgrund der zunehmenden Reife des Klägers falle diesem jedoch die Tagesstrukturierung leichter im Hinblick auf die Koordinierung der Abläufe und den Umgang mit seinen Einschränkungen. Streng genommen wäre hier sogar nur noch die Pflegestufe I drin. Besonders aufgrund des ständigen Hilfebedarfs beim Ausscheiden und bei der Körperpflege nach Erbrechen könne gerade noch die Pflegestufe II bestätigt werden. Mit Schreiben vom 05. Dezember 2001 bestätigte die Beklagte gegenüber dem Kläger danach die Rückstufung. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des bei der Beklagten gebildeten Widerspruchsausschusses vom 14. Januar 2002).

Deswegen erhob der Kläger am 12. Februar 2002 Klage beim SG Freiburg. Er machte geltend, sein Gesundheitszustand und der Pflegeaufwand habe sich seit dem Sozialgerichtsverfahren im Jahre 1999 nicht gebessert, sondern durch weitere Komplikationen noch verschlechtert. Der Hilfebedarf beim Waschen und Baden liege bei täglich 195 Minuten. Er müsse täglich viermal ganz gewaschen werden mit einem Zeitaufwand von 30 Minuten; eine Teilwäsche erfolge dreimal täglich mit jeweils fünf Minuten. Zweimal täglich werde er gebadet mit einem Zeitaufwand von 60 Minuten. Dies ergebe 195 Minuten täglich für die Wäsche. Das tägliche Kämmen sei ferner mit drei Minuten zu veranschlagen. Aufgrund seines Geburtsleidens sei es erforderlich gewesen, ihn mehreren operativen Eingriffen am Rücken zu unterziehen. Operationsbedingt sei jetzt das Hautgewebe auf dem Rücken stark verfurcht. Er sei gezwungen, ein Korsett zu tragen. In diesen Hautfurchen sammelten sich erhebliche Schmutzmengen. Hinzu komme, dass er an chronischem Durchfall leide. Diese Beschwerden hätten sich gegenüber dem Vorprozess noch verschlechtert. Auch dadurch sei erforderlich, dass er von dem anhängenden Schmutz befreit werde, weshalb zweimaliges Baden derzeit notwendig sei. Ferner leide er unter regelmäßigem Erbrechen. Zudem müsse bei ihm sechsmal täglich ein Blasenkatheter angelegt werden. Je Katheterisierung entstehe ein Zeitaufwand von 20 Minuten, insgesamt also 120 Minuten pro Tag. Ferner müsse die Blase zweimal täglich mittels einer Injektion aus Salzlösung in den Katheter gereinigt werden. Diese Salzlösung werde dabei langsam in die Blase injiziert und danach langsam wieder herausgesogen. Dadurch entstehe pflegerischer Mehraufwand von mindestens jeweils zehn Minuten, also insgesamt 20 Minuten pro Tag. Diese Notwendigkeit bestehe seit seiner letzten Operation in der Universitätskinderklinik in F. am 10. Januar 2002. Zu den somit 338 Minuten pro Tag seien noch die Zeiten des Pflegegutachtens hinzuzurechnen, nämlich für das tägliche Wechseln der Windeln (46 Minuten), für das Richten der Bekleidung (zwölf Minuten) sowie für die mundgerechte Zubereitung und Nahrungsaufnahme (zehn Minuten). Auch komme der nach dem Pflegegutachten erforderliche Hilfebedarf im Bereich der Mobilität von 48 Minuten pro Tag hinzu. Ferner müsse berücksichtigt werden, dass er bei starkem Durchfall nachts wach liege und erst wieder getröstet werden müsse, sodass er dann wieder mühsam in den Schlaf finde. Die Bettwäsche müsse deswegen regelmäßig nachts ein- bis zweimal erneuert werden. Der erforderliche Zeitaufwand liege bei regelmäßig einer Stunde pro Nacht. Darüber hinaus bestehe bei ihm ein Dekubitus, welcher zusätzlich versorgt werden müsse, was zehn Minuten pro Tag ausmache. Einmal in der Woche müsse er Dr. S. aufsuchen, um die Urinkontrolle durchzuführen. Insoweit entstehe ein zusätzlicher Zeitaufwand von einer Stunde pro Woche. Im Hinblick auf die schwersten Behinderungen bei ihm könne auch nicht davon gesprochen werden, dass eine zunehmende Reife ihm die Tagesstrukturierung leichter mache. Tatsächlich sei in vielen Bereichen der Pflegeaufwand bei ihm, der an einen Rollstuhl gefesselt sei, noch erhöht, nachdem er zunehmend schwerer werde. Dies alles werde durch die vom SG eingeholte Auskunft des Dr. S. vom 05. Mai 2003 bestätigt. Der Kläger reichte auch Arztbriefe der Universitätskinderklinik F. vom 24. Januar 2003 sowie der Chirurgischen Universitätsklinik Freiburg vom 17. März 2003 ein. Die Beklagte trat der Klage unter Vorlage ihrer Verwaltungsakten entgegen. Ob sich der Gesundheitszustand des Klägers seit dem Jahre 2000 verändert habe, sei bei der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit unerheblich. Tatsache sei vielmehr, dass sich der erforderliche Hilfebedarf in der Grundpflege nach wie vor im Bereich der Pflegestufe II und keinesfalls der Pflegestufe III bewege. Im gerichtlichen Vergleich vom 18. Juli 2000 habe sie sich eine Nachuntersuchung in einem Jahr vorbehalten, insbesondere deswegen, weil sich der Pflegeaufwand beim Kläger aufgrund der Reife und der Entwicklung zunehmend verringern werde. Entscheidend sei, wie der derzeitige Pflegeaufwand zu berücksichtigen sei. Im Gutachten vom 12. September 2001 werde an keiner Stelle von einer Verbesserung des Gesundheitszustands berichtet. Vielmehr werde festgestellt, dass dem Kläger durch die zunehmende Reife die Tagesstrukturierung leichter falle. Dadurch ändere sich logischerweise auch die Koordinierung der Abläufe und der Umgang mit den Einschränkungen. Im Pflegegutachten vom 12. September 2001 sei die Körperpflege aufgrund der Hautverhältnisse und des häufigen Durchfalls ausführlich gewürdigt worden, ebenfalls sei auf die Katheterisierung eingegangen worden. Der vom Kläger jetzt ermittelte Zeitaufwand sei nicht in vollem Umfang pflegerelevant. Nach der vorgelegten Stellungnahme der Dr. Ha., Ärztliche Leiterin Team Pflege, des MDK, vom 02. Dezember 2002 liege der Hilfebedarf beim Kläger im Bereich der Grundpflege bei 180 Minuten. Die Pflegefachkraft (Kinderkrankenpfleger) Sp. vom MDK habe im vorgelegten Gutachten vom 15. September 2003, das aufgrund einer Untersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung am 05. September 2003 erstattet worden sei, einen täglichen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 194 Minuten ermittelt und habe in der weiter vorgelegten Stellungnahme vom 05. November 2003 einen Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von täglich 195 Minuten festgestellt. Das SG hörte die Mutter des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 24. September 2003 an, erhob eine schriftliche Auskunft als sachverständiger Zeuge des Dr. S. vom 05. Mai 2003 und eine weitere schriftliche Auskunft der Schule für Körperbehinderte in E.-W. (Direktor W.) vom 15. Oktober 2003. Mit Urteil vom 18. Februar 2004, das der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 15. März 2004 zugestellt wurde, änderte das SG den Bescheid der Beklagten vom 17. September 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Januar 2002 ab und verurteilte die Beklagte, dem Kläger auch ab 01. Oktober 2001 Leistungen nach Pflegestufe III zu gewähren. Es legte dar, dass offen bleiben könne, ob der gerichtliche Vergleich vom 18. Juli 2000, in welchem der Beklagten eine Nachuntersuchung des Klägers in einem Jahr vorbehalten gewesen sei, so zu verstehen sei, dass der Beklagten damit das Recht habe eingeräumt werden sollen, die zutreffende Pflegestufe des Klägers nach einem Jahr ohne Bindung an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) für eine Neubestimmung (Herabsetzung) festzusetzen. Denn beim Kläger liege auch ab 01. Oktober 2001 ein tatsächlicher Grundpflegebedarf von über 240 Minuten vor. Insoweit enthalte das Gutachten vom 07. September 2001 brauchbare Angaben zu den Grundpflegebedarfszeiten; es müsse jedoch in einigen zentralen Punkten korrigiert werden. Es ergebe sich insgesamt ein behinderungsbedingter Grundpflegebedarf von 244 Minuten pro Tag. Es unterliege auch keinem Zweifel, dass der Kläger ebenfalls nachts regelmäßig der Hilfe bei Grundverrichtungen bedürfe. Im Übrigen wird auf die Entscheidungsgründe Bezug genommen.

Gegen das Urteil des SG hat die Beklagte am 02. April 2004 schriftlich Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Das SG komme in der Urteilsbegründung auf einen behinderungsbedingten Grundpflegebedarf von 244 Minuten pro Tag. Die vom SG berechneten täglichen grundpflegerischen Hilfeleistungen seien jedoch nicht korrekt berechnet. Der MDK habe gutachterlich den Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege ab Oktober 2001, als der Kläger zehndreiviertel Jahre alt gewesen sei, überprüft. Das SG beziehe sich hauptsächlich auf das MDK-Gutachten vom 07. September 2001. Es habe nach Zeitkorrekturen einen Gesamtgrundpflegebedarf von 252 Minuten pro Tag festgestellt. Als Abzug für ein gesundes gleichaltriges Kind werde maximal ein Zeitaufwand von zweimal vier Minuten pro Tag für das Aufstehen und Zubettgehen anerkannt. Nach der vorgelegten Stellungnahme des Kinderkrankenpflegers Späth vom 30. März 2004 ergebe sich unter Berücksichtigung des Gutachtens vom 07. September 2001 und des gerichtlich ermittelten Hilfebedarfs tatsächlich ein grundpflegerischer Gesamthilfebedarf von 202 Minuten pro Tag. Bei Abzug der Hilfeleistungen für ein altersentsprechendes Kind ergebe sich beim Kläger ab Oktober 2001 lediglich ein behinderungsbedingter Grundpflegebedarf von maximal 187 Minuten pro Tag. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger inzwischen mehr als zwölf Jahre alt sei, weshalb ein Zeitabzug für ein altersentsprechendes Kind ganz unterbleibe, ergebe sich nicht das Vorliegen der Pflegestufe III. Zwar habe sich beim Kläger seit Mai 2004 eine Veränderung in der Katheterisierungshäufigkeit ergeben und seit August 2004 habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Im Hinblick auf die durch sie durchgeführte Nachuntersuchung des Klägers in seiner häuslichen Umgebung am 22. September 2004 ergebe sich nach dem vorgelegten Gutachten des Kinderkrankenpflegers Späth vom 19. Oktober 2004 nun ein täglicher Hilfebedarf von 212 Minuten pro Tag. Sie sei auch berechtigt gewesen, die mit dem gerichtlichen Vergleich zuerkannte Pflegestufe III nach Durchführung der vorbehaltenen Nachuntersuchung zu reduzieren. Der gerichtliche Vergleich sei als öffentlich-rechtlicher Vertrag kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der nur nach § 48 SGB X zurückgenommen werden könnte. Bei Änderung der Verhältnisse gelte insoweit ausschließlich § 59 SGB X, der zwar auch auf eine wesentliche Änderung der Verhältnisse abstelle, aber auch das Gemeinwohl im Auge habe. Der Vorbehalt der Nachuntersuchung in einem Jahr entspreche dem überwiegenden öffentlichen Interesse an der Gleichbehandlung aller Pflegebedürftigen, die ja nur diejenigen Leistungen erhalten dürften, die ihrem persönlichen Bedarf entsprächen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 18. Februar 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend. Die Beklagte hätte hier den Nachweis einer wesentlichen Verminderung des Pflegebedarfs seit dem Vergleichsabschluss führen müssen, was ihr bislang nicht gelungen sei. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass sich bei ihm der Pflegeaufwand nochmals erhöht habe. Er müsse jetzt auch nachts katheterisiert werden. Insoweit sei eine weitere Erschwerung der Pflege bei ihm hinzugekommen. Dies gelte auch für die Behandlung seines Dekubitus. Der Kläger hat verschiedene Unterlagen vorgelegt (Bescheinigungen, Schreiben bzw. Atteste des Dr. S. vom 26.10., 19.11. und 21.11.2004 sowie vom 10. April 2005; Schreiben der Schule für Körperbehinderte Emmendingen-Wasser vom 11. November 2004).

Der Berichterstatter des Senats hat die Beteiligten mit Schreiben vom 14. April 2005 und 23. Februar 2007 auf die Möglichkeit einer Zurückweisung der Berufung durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hingewiesen. Dazu hat sich die Beklagte mit Schriftsatz vom 21. April 2005 geäußert.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Rechtszüge und der weiteren Akte des SG S 5 P 1356/99 Bezug genommen.

II.

Die gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung, über die der Senat im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss nach § 153 Abs. 4 SGG entschieden hat, ist statthaft und zulässig, jedoch nicht begründet. Denn dem Kläger stehen ab 01. Oktober 2001 weiterhin Leistungen nach Pflegestufe III zu, weshalb die Beklagte nicht berechtigt war, dem Kläger die aufgrund des öffentlich-rechtlichen Vertrags (Vergleichsvertrag) vom 18. Juli 2000 vereinbarten Leistungen einseitig durch die streitbefangenen Bescheide zu entziehen. Dies hat das SG zu Recht entschieden.

Der am 18. Juli 2000 vereinbarte gerichtliche Vergleich stellte auch einen öffentlich-rechtlichen Vergleichsvertrag nach § 54 SGB X dar, der hier an die Stelle eines Bewilligungsbescheids der Beklagten getreten ist (vgl. § 53 Abs. 1 Satz 2 SGB X). An dessen Wirksamkeit, indem eine bei verständiger Würdigung des Sachverhalts im Klageverfahren bestehende Ungewissheit über die Pflegestufe durch gegenseitiges Nachgeben beseitigt wurde, bestehen keine Zweifel. Eine Nichtigkeit des Vergleichsvertrags nach § 58 SGB X liegt nicht vor; sie ist von der Beklagten auch nicht geltend gemacht worden. Im Übrigen stehen die Vorschriften des SGB XI der einvernehmlichen Handlungsform des Vergleichsvertrags im Bereich der Leistungsgewährung nicht entgegen.

Die Beklagte war nicht berechtigt, sich einseitig von dem Vertrag für die Zukunft loszusagen. Auch für einen Vergleichsvertrag gilt nämlich, dass die Bindung daran nur unter den Voraussetzungen des § 59 SGB X beseitigt werden kann. Nach § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X gilt: Haben die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, sich seit Abschluss des Vertrags so wesentlich geändert, dass einer Vertragspartei das Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht zuzumuten ist, so kann diese Vertragspartei eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse verlangen oder, sofern eine Anpassung nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, den Vertrag kündigen. Insoweit tritt der Anspruch auf Anpassung des Vertrags an die Stelle einer sonst möglichen Änderung eines Leistungsbescheids nach § 48 SGB X. Allerdings sind an die "Wesentlichkeit" der Änderung im Sinne des § 59 Abs. 1 Satz 1 SGB X wegen der stärkeren Beachtung einer vertraglichen Vereinbarung höhere Anforderungen zu stellen an die wesentliche Änderung im Sinne des § 48 SGB X. Es muss also eine - auch hier von demjenigen, der Rechte daraus herleitet, zu beweisende - grundlegende Änderung der maßgebenden Verhältnisse, die nach dem Abschluss des Vergleichsvertrags eingetreten ist, vorliegen. Diese grundlegende Änderung muss insoweit zu dem Zeitpunkt vorliegen, zu dem sich eine Vertragspartei von einem Vertrag lossagen will. Auf nach diesem Zeitpunkt eintretende grundlegende Änderungen kommt es nicht an. Von dem Nachweis einer solchen grundlegenden Änderung war die Beklagte hier nicht deswegen befreit, weil sie sich in dem Vergleichsvertrag vorbehalten hatte, eine Nachuntersuchung innerhalb eines Jahres durchzuführen. Dieser Vorbehalt rechtfertigt es nicht, dass sich die Beklagte ohne Beachtung des § 59 SGB X für die Zukunft von dem Vergleichsvertrag hätte lossagen können, auch nicht, wenn die Beklagte mit dem Vorbehalt eine solche Vorstellung verbunden hätte.

Hier vermag der Senat nicht festzustellen, dass beim Kläger ab 01. Oktober 2001 eine nach dem 18. Juli 2000 eingetretene wesentliche Verminderung des Hilfebedarfs gegeben ist. Einen solchen Nachweis hat die Beklagte nicht geführt. Eine derartige Verminderung des Hilfebedarfs lässt sich nicht daraus herleiten, dass der Kläger seit 10. September 2001 internatsmäßig die Schule für Körperbehinderte in Emmendingen-Wasser besucht. Eine solche grundlegende Verminderung des Hilfebedarfs ist in dem von der Beklagten erhobenen Nachprüfungsgutachten des Dr. Sc. vom 12. September 2001 nicht beschrieben, denn darin ist ersichtlich lediglich eine originäre Beurteilung des Hilfebedarfs ohne Rücksicht auf den Vergleichsvertrag vorgenommen worden. Sofern das Gutachten vom 12. September 2001 nicht ausschließen würde, dass am 18. Juli 2000 tatsächlich die Voraussetzungen der Pflegestufe III nicht vorgelegen hätten, ergibt sich aus § 59 SGB X keine Rechtfertigung dafür, nun das Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe III zum Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses nachträglich in Frage und zur Prüfung zu stellen. Insoweit kann die Grundlage für den Vergleichsvertrag und damit sein Inhalt, dass die Voraussetzungen der Pflegestufe III, wie vom Kläger vorgetragen, unter dem Eindruck des damaligen Sachvortrags nach dem gerichtlichen Vergleichsvorschlag vorgelegen haben, nicht nachträglich in Zweifel gezogen werden.

Der Senat vermag auch nicht nachzuvollziehen und festzustellen, dass sich eine grundlegende Verminderung des Hilfebedarfs im Bereich der Grundpflege beim Kläger aus einer nach dem 18. Juli 2000 bis Oktober 2001 eingetretenen zunehmenden Reife des Klägers ergeben soll, sodass dem Kläger insoweit die Tagesstrukturierung, die Koordinierung der Abläufe und der Umgang mit seinen Einschränkungen leichter falle, wie von der Pflegefachkraft H. in seiner Stellungnahme vom 23. November 2001 angenommen worden ist. Insoweit ist eine Verminderung des Hilfebedarfs nicht konkret belegt. Es ist vor allem auch zu berücksichtigen, dass umgekehrt sich bei gleichbleibendem Hilfebedarf mit zunehmendem Alter des Klägers der einstufungsrelevante Hilfebedarf vermehrt, worauf die Pflegefachkraft H. bereits in ihrer Stellungnahme vom 27. Februar 1998 hingewiesen hatte. Auch stellt der Senat in Rechnung, dass - wie auch im Gutachten vom 30. November 1998 - im Gutachten vom 12. September 2001, auf das sich die Beklagte beruft, beim Katheterisieren nur der Zeitaufwand für die Vor- und Nachbereitung berücksichtigt wurde, nicht dagegen die Zeit für die Durchführung selbst, obwohl, wie das Bundessozialgericht (BSG) entschieden hat (vgl. zuletzt Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 42/04 R), dann die Harnableitung mittels Einmalkathetern Teil der Grundpflegeverrichtung "Blasenentleerung" ist und bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit eines unter einer Blasenlähmung leidenden Versicherten zu berücksichtigen ist. Darauf, wie sich der Hilfebedarf nach dem 01. Oktober 2001, auf den die Beklagte eine Verminderung des Hilfebedarfs bezogen hat, kommt es nicht an, unabhängig davon, dass die Beklagte zuletzt eine Vermehrung des Hilfebedarfs nach dem 01. Oktober 2001 bejaht hat.

Die Beklagte kann sich auch nicht nach § 59 Abs. 1 Satz 2 SGB X einseitig auf den Wegfall der vertraglichen Leistungszusage berufen. Danach kann die Behörde den Vergleichsvertrag auch kündigen, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen. Selbst wenn davon ausgegangen würde, dass im Vergleich vom 18. Juli 2000 zu Unrecht vom Vorliegen der Pflegestufe III ausgegangen worden wäre, würde es dieser Umstand allein nicht rechtfertigen, dass sich die Beklagte einseitig von der vertraglichen Bindung lossagen konnte. Dass dem Kläger am 18. Juli 2000 Leistungen nach Pflegestufe III nicht zugestanden haben könnten, stellt keine schweren Nachteile für das Gemeinwohl bzw. die Versichertengemeinschaft dar, die es hier ab 01. Oktober 2001 zu beseitigen gilt.

Danach war die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Gründe für eine Revisionszulassung liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved